Interventionsverbot
Das I. ist ein Begriff und Institut des Völkerrechts. Als völkergewohnheitsrechtliche Norm verbietet oder beschränkt es die Einflussnahme eines Staates in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Der Bereich dieser Angelegenheiten wird auch als domaine réservé bezeichnet. Grundlage des I.s ist die staatliche Souveränität, die nach außen hin einen Staat frei sein lässt von jeder rechtlichen Unterordnung unter einen fremden Staat. Im 20. Jh. ist als weitere Grundlage des I.s das Selbstbestimmungsrecht der Völker hinzugetreten, das jedem Volk die freie Entscheidung über seinen politischen Status und die freie Gestaltung seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung garantiert (vgl. Art. 1 Abs. 1 IPbpR sowie des IPwskR von 1966).
Die UN-Charta von 1945 führt das I. in ihrem Art. 2 Ziff. 7 als einen der „Grundsätze“ der UN auf, und zwar im Zusammenhang mit dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Ziff. 1) und dem allg.en zwischenstaatlichen Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4). Allerdings schützt das I. der Charta seinem Wortlaut nach die „Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“ (Art. 2 Ziff. 7), nicht vor einem Eingriff eines anderen Staates, sondern nur eines Organs der UNO, wobei die Verhängung von Zwangsmaßnahmen durch den UN-Sicherheitsrat vorbehalten bleibt. In der sog.en Friendly Relations Declaration von 1970, einer einvernehmlich angenommenen Definition der Prinzipien der UN-Charta, hat die UN-Generalversammlung aber die zwischenstaatliche Geltung des I.s bekräftigt: „Kein Staat und keine Staatengruppe hat das Recht, unmittelbar oder mittelbar, gleichviel aus welchem Grund, in die inneren oder äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen“ (A/Res/2625 [XXV]). Das I. verpflichtet nur die Staaten und die Organe internationaler Organisationen. „Privates“ Handeln (einzelner Bürger, Vereinigungen oder Wirtschaftsunternehmen) wird daher vom I. grundsätzlich nicht erfasst (ausnahmsweise nur dann, wenn es einem Staat völkerrechtlich zugerechnet werden kann).
Die vom I. geschützten inneren Angelegenheiten (anders als der Ausdruck nahelegt, gehört zu ihnen auch die Gestaltung der Außenpolitik eines Staates) werden weder in der UN-Charta noch in einem anderen völkerrechtlichen Vertrag abschließend definiert. Ihr Kreis ist daher veränderlich (und hat sich seit 1945 kontinuierlich verkleinert). Unbestritten ist, dass eine Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt gegen einen anderen Staat das I. verletzt. Insofern stellt jede Verletzung des Gewaltverbots (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) zugl. eine Verletzung des I.s dar. Die Friendly Relations Declaration erklärt als vom I. erfasst außerdem „alle anderen Formen der Einmischung oder Drohversuche gegen die Persönlichkeit eines Staates oder gegen seine politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bestandteile“ (A/Res/2625 [XXV]). Kein Staat dürfe gegen einen anderen Staat wirtschaftliche, politische oder andere Zwangsmaßnahmen ergreifen oder befürworten, um von diesem eine Unterordnung in der Ausübung seiner souveränen Rechte zu erlangen oder von ihm Vorteile irgendwelcher Art zu erwirken. Auch dürfe ein Staat in keiner Weise subversive, terroristische oder bewaffnete Aktivitäten unterstützen, mit denen ein gewaltsamer Sturz der Regierung eines anderen Staates angestrebt wird. Ferner dürfe ein Staat nicht in einen Bürgerkrieg auf dem Gebiet eines anderen Staates eingreifen. Seitdem sich fast alle Staaten auf universeller und regionaler Ebene an Verträge zum Schutz der Menschenrechte gebunden haben sowie zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte auch völkergewohnheitsrechtlich verpflichtet sind, zählt die Achtung der Menschenrechte nicht mehr zu den vom I. geschützten inneren Angelegenheiten eines Staates. Überhaupt hört eine Frage im Verhältnis zu einem anderen Staat auf, eine innere Angelegenheit zu sein, wenn sie zum Gegenstand eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem anderen Staat gemacht worden ist. Auch die Durchsetzung eigener Rechte eines Staates aus Vertrag oder Gewohnheitsrecht ist keine unzulässige Intervention. Angesichts der heutigen Regelungsbreite der EU-Verträge ist daher im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten zueinander kaum mehr Raum für eine Anwendung des I.s.
Der IGH hat in seinem Nicaragua-Urteil von 1986 ausgeführt, das Wesen oder der Kerngehalt einer verbotenen Intervention sei das Element des Zwanges (coercion), d. h. eine Anwendung von Methoden des Zwangs, um ein bestimmtes Verhalten eines anderen Staates zu bewirken. Nach diesem – auch in der völkerrechtlichen Lehre herrschenden, allerdings nicht unbestrittenen – Verständnis können bloße Erklärungen oder Stellungnahmen, die keine Androhung oder Ankündigung von Zwang gegen einen anderen Staat enthalten, das I. nicht verletzen. Fraglich ist, ob das Element des Zwanges auch der Androhung eines Verhaltens eigen ist, zu dem ein Staat völkerrechtlich berechtigt ist, wie z. B. eines Abbruchs der diplomatischen Beziehungen oder einer Beschränkung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen oder der Entwicklungshilfe.
In der Praxis haben sich in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg Staaten vornehmlich auf das I. berufen, um sich der ideologischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht des Westens entgegenzustellen. Im Ost-West-Konflikt warfen die sozialistischen Staaten unter Führung der UdSSR den westlichen Staaten routinemäßig eine unzulässige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten durch Propagierung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat) – im westlichen Sinne – vor. Lateinamerikanische Staaten benutzten das I. als Argument gegen die zahlreichen politischen und militärischen Interventionen der USA in Zentral- und Südamerika. Die unabhängig gewordenen Länder der „Dritten Welt“ suchten mit der Berufung auf das I. ihre Souveränität gegen den noch starken Einfluss der früheren Kolonialmächte (Kolonialismus), aber auch gegen ihre Einbeziehung in den Ost-West-Konflikt zu verteidigen und nutzten hierfür ihre neu gewonnene Mehrheit in der UN-Generalversammlung (vgl. insb. die Res/2131 [XX] und Res/36/103, die den Begriff der Intervention weit verstanden). Die politische und rechtliche Wirkung all dieser Bemühungen war sehr begrenzt. In der Gegenwart vertritt, unterstützt von anderen asiatischen Staaten, bes. die VR China ein striktes, souveränitätsbetontes Verständnis des I.s.
Literatur
P. Kunig: Intervention, Prohibition of, in: MPEPIL, Bd. 6, 2012, 289–299 • G. Nolte: Article 2 (7) of the UN Charter, in: B. Simma u. a. (Hg.): The Charter of the United Nations. A Commentary, Bd. 1, 32012, 280–311 • M. Vec: Intervention/Nichtintervention. Verrechtlichung der Politik und Politisierung des Völkerrechts im 19. Jahrhundert, in: U. Lappenküper/R. Marcowitz (Hg.): Macht und Recht, 2010, 135–160 • M. Jamnejad/M. Wood: The Principle of Non-intervention, in: Leiden Journal of International Law 22/2 (2009), 345–381 • B. Fassbender: Die Souveränität des Staates als Autonomie im Rahmen der völkerrechtlichen Verfassung, in: H.-P. Mansel u. a. (Hg.): FS für Erik Jayme, Bd. 2, 2004, 1089–1101 • A. Verdross/B. Simma: Universelles Völkerrecht, 31984, 300–309 • O. Kimminich: Intervention, in: Görres-Gesellschaft (Hg.): Staatslexikon, Bd. 10, 61970, 440–445 • H. Haedrich: Intervention, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, 1961, 144–147.
Empfohlene Zitierweise
B. Fassbender: Interventionsverbot, Version 11.11.2020, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Interventionsverbot (abgerufen: 23.11.2024)