Ius divinum

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1. Begriff

I. d. („göttliches Recht“) bezeichnet im katholischen Kirchenrecht dessen tragende Schicht an Werten, Gütern und Prinzipien, die für die geltende Rechtsordnung legitimierend, inhaltlich richtungweisend und begrenzend wirkt. Da dieser Grundbestand auf Gott als Urheber zurückgeführt wird, gelten Normen mit göttlich-rechtlichem Inhalt als inderogabel und indispensabel. Den Gegenbegriff bildet das prinzipiell abänderbare ius humanum (ius mere ecclesiasticum). Die analoge Redeweise von Gott als „Gesetzgeber“ dieser Grundverfügungen, der sein „Gesetz“ kundmachen muss, damit es erkannt und befolgt werden kann, bezieht sich auf Gott als den Schöpfer und als den Erlöser (in Jesus Christus). Dementsprechend wird das i. d. zweigeteilt in das dem Menschen ins Herz geschriebene (Röm 2,15) natürliche Sittengesetz (i. d. naturale) und das aus der Schriftoffenbarung, bes. des NT, abgeleitete positiv-göttliche Recht (i. d. positivum). Die Entscheidung darüber, ob ein Inhalt göttlichen Rechts ist, fällt nach katholischem Verständnis in die Kompetenz des obersten kirchlichen Lehramtes. Der CIC/1983 wie auch der CCEO (1990) bedienen sich nicht nur dieser Ausdrücke, sondern stellen mit unterschiedlichsten Wendungen den Bezug einer Regelung zur göttlichen Grundlage her, z. B. ex divina institutione (can. 129 § 1 CIC, can. 323 § 2 CCEO und öfter), oder wenn der Kirche ein ius proprium oder nativum zugesprochen wird (z. B. can. 1311 CIC, can. 328 CCEO und öfter). Dabei sind beachtliche Unterschiede zwischen den beiden genannten Gesetzbüchern wie auch zwischen diesen und dem älteren Kirchenrecht festzustellen.

2. Geschichte

Von Anfang an wusste sich die Kirche an göttliche Grundverfügungen gebunden. Der Ausdruck i. d. jedoch entstammt dem römischen Recht, wo er den auf kultischer Tradition beruhenden, das Verhältnis des Menschen zur Gottheit regelnden Rechtsbestand bezeichnete (in etwa gleichbedeutend mit fas). In den christlichen Sprachgebrauch übernommen wurde er bes. durch Tertullian, Cyprian und Laktanz, um damit das Doppelgebot der Liebe auszudrücken. Gratian, der als „Vater der Kirchenrechtswissenschaft“ gilt, greift u. a. auf die Naturrechtslehre (Naturrecht) des Isidor von Sevilla zurück, die ihrerseits ihr Vorbild in der römischen Stoa hatte, und stellt die lex divina vel naturalis (AT und NT) als fas dem ius als menschlichem Recht gegenüber. Ius naturale ist für ihn das, quod in Lege et Evangelio continetur; dabei verweist er auf die Goldene Regel als Inbegriff von Gesetz und Propheten. Thomas von Aquin unterscheidet die lex aeterna (den göttlichen Lenkungsplan der Welt) von der lex naturalis und lex divina (beide sind eine Teilhabe der ratio des Menschen an der lex aeterna; die letztere gilt als höhere, aus der Schriftoffenbarung hervorgehende Teilhabeform). Die beiden letzteren sind verbindliche Grundlage für die lex humana, welche ihre Legitimität daraus bezieht, dass sie sich als Ableitung (derivatio) aus der lex naturalis ausweisen lässt, welche als dem Menschen ins Herz gegeben mit der natürlichen Vernunft erkennbar ist. Francisco Suárez prägt die begriffliche Dreiteilung in i. d. naturale, i. d. positivum und ius humanum bzw. ius mere ecclesiasticum, die zum Gemeingut der Kanonistik bis auf den heutigen Tag wurde.

3. Problematik

Das i. d. verkörpert dasjenige, was im Recht (der Kirche) unverrückbar gelten soll. Da aber der Wille Gottes, dessen Autorität als Gewähr für die Unverbrüchlichkeit in Anspruch genommen wird, dem Menschen nicht direkt zugänglich ist, wir daher kein ius mere divinum zur Hand haben, und sich die Vorstellung von einem a-historischen, unveränderlich vorformulierten Normenkomplex, der nur entdeckt zu werden bräuchte, verbietet, tritt die komplexe, oft kontrovers diskutierte Problematik des Begriffes offen zu Tage.

Die Antwort auf die Frage nach dem Rechtscharakter des i. d. hängt offenkundig vom zugrunde gelegten Rechtsbegriff ab. Ein positivistisch verengtes Rechtsverständnis, welches „Recht“ mit den positivierten Normen identifiziert (Rechtspositivismus), vermag dem i. d. keine rechtliche Normativität zuzusprechen. Ein umfassenderes Verständnis von „Recht“ hingegen, das auch dessen Grundlagen (Prinzipien wie die allg.en Rechtsprinzipien, die Goldene Regel, die obersten Grundsätze des traditionellen Naturrechts; Güter, z. B. die Schutzbereiche der Grundrechte; und Werte) mit einbezieht, kann die Normativität des i. d. anerkennen, dessen Inhalte auf eine göttliche Grundlage zurückgeführt werden: auf das durch die Vernunft (Vernunft – Verstand) erschließbare sittlich-rechtliche Grundbewusstsein im Fall des i. d. naturale, und auf die sich aus dem Offenbarungsgeschehen ergebenden Konsequenzen im Fall des i. d. positivum. Als die Rechtsordnung der Kirche legitimierende, sie inhaltlich durchdringende und zugl. begrenzende Rechtsschicht bildet das i. d. keine zweite, parallele Rechtsordnung, mit der die menschliche in Einklang gebracht werden müsste. Vielmehr kann so das „Recht“ als eines und einheitliches gesehen werden, so wie es auch nur eine Gerechtigkeit gibt, nicht etwa eine göttliche und eine menschliche.

Die Frage nach der Konkretisierung und Positivierung des i. d. (damit es anwendbares Recht werde) beantwortet sich wie folgt: Sobald in der Kirche ein bestimmter rechtlich relevanter Inhalt als unverfügbar in einer göttlichen Grundlage verankert erkannt wurde, stellt er für das Recht der Kirche eine verbindliche Vorgabe dar, bereits vor seiner Fassung in einer Gesetzesnorm. Die Positivierung ist daher nicht konstitutiv für seine Verbindlichkeit in der kirchlichen Rechtsordnung, sondern nur hinsichtlich der formalen Geltung, z. B. als kirchliches „Gesetz“, aber auch hinsichtlich der tatbestandlichen Fassung, die stets eine Grenzziehung beinhaltet. Stellt sich diese später als ungeeignet, weil die göttlich-rechtliche Grundlage nicht genau genug treffend, heraus, so kann und muss sie geändert werden. Hieran zeigt sich: In solchen Fällen erfolgt keine Änderung des i. d. an sich, sondern nur seiner menschlichen Einfassung. Dementsprechend kann auch eine Dispens von Vorschriften des i. d. nicht generell ausgeschlossen werden. Sie kommt insoweit in Betracht, als für eine bestimmte Fallkonstellation erkannt wird, dass diese nicht unter den Anwendungsbereich des göttlich-rechtlichen Grundgedankens der Norm fällt. Prinzipiell menschlichen Rechts sind an jeder Norm: die sprachliche Fassung, eine evtl.e Sanktion, Verfahrensregeln und konkrete Formvorschriften sowie die Erzwingbarkeit.

4. Ius divinum und Ökumene

Die Vorstellung von einem i. d. ist auch außerhalb der katholischen Kirche anzutreffen, wenn auch mit oft gravierenden Unterschieden bzgl. der Terminologie, der näheren Bedeutung und des Inhalts. Insofern das i. d. das rechtliche Selbstverständnis einer Kirche verkörpert, besitzt es eine zentrale Bedeutung im ökumenischen Dialog. Insoweit es nicht als abgeschlossener Block unveränderlich vorgegebener Normen verstanden wird, sondern als der nach vorne offene, den jeweiligen Herausforderungen entspr. neu zu formulierende Grundbestand an unverfügbaren Prinzipien, Werten und Gütern, erzwingt es keine Uniformität der Verwirklichungsformen von Glaube und Kirche, sondern ermöglicht gerade einen legitimen innerkirchlichen Pluralismus. Das prinzipiell nicht abschließbare hermeneutische Bemühen um das unverfügbare Substrat des (Kirchen-)Rechts ist gemeinsame Aufgabe der Kirchen aus Verantwortung um die Ökumene.