Emigration, politische
P. E. tritt dann auf, wenn staatliche oder halbstaatliche Akteure die Handlungsmacht und damit die Freiheit und Freizügigkeit von Einzelnen oder Kollektiven tiefgreifend beschränken. P. E. ist durch eine Nötigung zur Abwanderung aus politischen Gründen verursacht, die keine realistische Handlungsalternative zulässt. Sie ist Flucht vor Gewalt, die Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Rechte direkt oder erwartbar bedroht.
Die Geschichte der E. aus politischen Gründen ist lang. Eine neue Etappe begann mit der Etablierung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jh. Einige Zehntausend Menschen, die bewusst den Kampf gegen das herrschende politische System ihres Herkunftsstaates aufgenommen hatten, ergriffen meist vor der Verfolgung nationaler, demokratischer, liberaler und sozialistischer Bewegungen die Flucht. Frühsozialistische Handwerker fanden sich unter den politischen Emigranten ebenso wie nationalliberale politische Intellektuelle oder Mitglieder bewaffneter nationaler Befreiungsbewegungen.
Mehrere Hochphasen der p.n E. lassen sich im 19. Jh. ausmachen: Eine erste gab es in der Phase der verschärften Restauration im Jahrfünft nach dem Wiener Kongress. Eine zweite folgte nach den Unruhen, die in weiten Teilen Europas im Kontext der Pariser Julirevolution von 1830 standen. Dazu zählte auch die „Große E.“, die mehrere Zehntausend Polen nach Westeuropa führte. Die europäische Revolution von 1848 hinterließ ebenfalls wesentliche Spuren im p.n E.s-Geschehen. Seit den 1870er Jahren ging es vornehmlich um politisch erzwungene Wanderungen im Gefolge des Kampfes mittel- und osteuropäischer Staaten gegen sozialistische und anarchistische Bewegungen. Dabei blieben die Staaten Mittel- und Osteuropas Hauptausgangsräume politischer Fluchtbewegungen (Flucht und Vertreibung).
P.E. ist selten ein linearer Prozess, vielmehr bewegen sich politische Emigranten meist in Etappen: Häufig lässt sich zunächst ein überstürztes Ausweichen über die Grenze in der Erwartung einer baldige Rückkehr beobachten. Oft aber müssen sie sich auf Dauer oder auf längere Sicht auf eine Existenz als politische Emigranten einrichten. Nicht selten erfolgen Weiterwanderungen. Muster von (mehrfacher) Rückkehr und erneuter E. finden sich ebenfalls häufig. Hintergrund ist dabei nicht nur die Dynamik der sich stets verschiebenden politischen Konstellation im Herkunftsstaat, sondern auch die Unmöglichkeit, an einem Fluchtort Sicherheit oder Erwerbs- bzw. Versorgungsmöglichkeiten zu finden.
Über die Aufnahme von politischen Emigranten entscheiden Staaten (Staat) mit weiten Ermessensspielräumen. Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, bildet immer ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse des Aushandelns durch Individuen, Kollektive und (staatliche) Institutionen, deren Beziehungen, Interessen, Kategorisierungen und Praktiken sich stets wandeln. Permanent verschiebt sich, wer unter welchen Umständen als politischer Emigrant wahrgenommen und in welchem Ausmaß und mit welcher Dauer Schutz zugebilligt wird. Zwei unterschiedliche rechtliche Wege der Aufnahme politischer Emigranten gab es im 19. Jh.: Zum einen konnten sie als Einwanderer aufgenommen werden. Ihr rechtlicher Status unterschied sich dann nicht von jenen, deren Zuwanderung nicht primär politischen Motiven unterlag. Vor allem Großbritannien und die USA wurden auf diese Weise wichtige Aufnahmeländer politischer Emigranten aus Europa. Zum andern war die Gewährung eines spezifischen Rechtsstatus für politische Emigranten möglich. Das geschah ausschließlich als eine Ausnahme innerhalb der Regelungen zur Abschiebung ausländischer Staatsangehöriger und bot damit Schutz vor Auslieferung im Sinne eines politisch motivierten Aktes der Duldung.
Mit dem Ersten Weltkrieg und den politischen und territorialen Wandlungen in seinem Gefolge gewannen politisch bedingte räumliche Bewegungen an Gewicht. P. E.en begleiteten vor allem den russischen Bürgerkrieg und die Staatenbildungen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Sie zielten in erster Linie auf West- und Mitteleuropa. Rund 10 Mio. Menschen sollen aufgrund der Veränderungen der territorialen und politischen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg in Europa bis Mitte der 1920er Jahre Grenzen überschritten haben. Die umfangreichste einzelne Gruppe bildeten die wahrscheinlich ein bis zwei Mio. politischen Emigranten aus dem Russland der Revolution und des Bürgerkriegs.
Während die relativ wenigen Menschen, die im 19. Jh. in europäischen Staaten als politische Emigranten Aufnahme fanden, v. a. als sicherheitspolitisches, gelegentlich auch als außenpolitisches Problem gesehen wurden, erschienen die wesentlich umfangreicheren Bewegungen des 20. Jh. zunehmend als Herausforderung für den intervenierenden Sozialstaat. Ängste vor einer Zunahme der Erwerbslosigkeit, einer Überforderung des sozialen Sicherungssystems sowie einer kulturellen Vielfalt beherrschten die Debatte. Das galt auch für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Dennoch schuf die Weimarer Republik rechtliche Kategorien für die Aufnahme von politischen Emigranten. Im Deutschen Auslieferungsgesetz von 1929 wurde ihr Schutz erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt durch das Festschreiben eines Verbots der Auslieferung bei politischen Straftaten. Und die preußische Ausländer-Polizeiverordnung vom April 1932 legte Preußen die Verpflichtung auf, politischen Emigranten Schutz zu gewähren.
Die nationalsozialistische Machtübernahme wenige Monate später trieb erneut Menschen ins Exil (Nationalsozialismus): Die weitaus größte Gruppe stellten Juden, von denen etwa 280 000 bis 330 000 das Reich verließen. Weltweit nahmen mehr als 80 Staaten Menschen aus Deutschland auf. Ziele waren zunächst meist die europäischen Nachbarstaaten in der Hoffnung auf den baldigen Zusammenbruch des NS-Regimes und die Chance zur Rückkehr. Die Hälfte aller jüdischen Flüchtlinge aber wanderte weiter. Die Zahl der politischen Emigranten, die vor dem Nationalsozialismus in die USA auswichen, wurde 1941 auf insgesamt 100 000 geschätzt. Argentinien folgte mit 55 000 Flüchtlingen vor Großbritannien mit 40 000. Während des Zweiten Weltkrieges verschob sich das Gewicht noch weiter zugunsten der Vereinigten Staaten, die letztlich etwa die Hälfte aller Emigranten aufnahmen.
Das 1948/49 entwickelte Asylgrundrecht (Asyl) der Bundesrepublik Deutschland bildete eine Reaktion auf die p. E. aus dem Dritten Reich und markierte eine symbolische Distanzierung von der nationalsozialistischen Vergangenheit. Darüber hinaus sollte es die Anerkennung der Werte des Westens demonstrieren. Für die Globalgeschichte der p.n E. der zweiten Hälfte des 20. Jh. hatte der Kalte Krieg zentrale Bedeutung. Beobachten lassen sich die Flucht bzw. Ausweisung von Dissidenten aus dem Osten in den Westen oder verstärkte p. E.en im Kontext der Destabilisierung eines politischen Systems im Osten, das den kurzzeitigen Zusammenbruch der restriktiven Grenzregime zur Folge hatte (v. a.: Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Auflösung des Ostblocks in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren). Verwoben mit der Konfrontation des Ost-West-Konflikts brachte auch der Prozess der Dekolonisation seit dem Zweiten Weltkrieg umfangreiche p. E.en mit sich. Zahllose Kriege, Bürgerkriege und Maßnahmen autoritärer Systeme weltweit führten auch nach dem Ende des Kalten Krieges zu p.n E.en in großem Umfang.
Literatur
J. Oltmer: Migration vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, 2016 • P. Gatrell: The Making of the Modern Refugee, 2013 • K. J. Bade: Europa in Bewegung. Migration vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 22003 • H. Reiter: Politisches Asyl im 19. Jahrhundert. Die deutschen politischen Flüchtlinge des Vormärz und der Revolution von 1848/49 in Europa und den USA, 1992.
Empfohlene Zitierweise
J. Oltmer: Emigration, politische, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Emigration,_politische (abgerufen: 25.11.2024)