Freiheitliche demokratische Grundordnung
1. Verfassungspolitischer Kontext
Auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee in Auseinandersetzung mit dem verhängnisvollen Wertrelativismus der WRV als feststehende Wendung entstanden, ist fdGO die Kurzbezeichnung der Leitideen unseres Verfassungsdenkens und der Ordnungsprinzipien unserer Verfassungswirklichkeit. Sie konkretisiert die „Würde des Menschen“ in der Polarität von auf Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat) beruhender Freiheit und einer durch Pluralismus gesicherten Demokratie. Außerdem ist fdGO sowohl ein verfassungstypologischer Begriff als auch eine Sammelformel für jene Kriterien, denen Deutschlands „verfassungsmäßige Ordnung“ zu entsprechen hat. In beiderlei Funktion erfasst er, welchen Staatstyp unsere „wehrhafte Demokratie“ verteidigen will.
Im GG findet sich der Begriff fdGO mehrfach dort, wo es um die Sicherung dieses Staatstyps geht. Brief-, Post- und Telekommunikationsgeheimnis sowie die Freizügigkeit dürfen zum Schutz der fdGO beschränkt werden; Grundrechte kann verwirken, wer sie gegen die fdGO gebraucht; Parteien können vom BVerfG verboten werden, wenn sie darauf ausgehen, die fdGO zu beeinträchtigen; und zum Schutz der fdGO bestehen bes. Befugnisse der Bundesregierung bei der polizeilichen Zusammenarbeit mit den Bundesländern sowie zur Bekämpfung organisierter, militärisch bewaffneter Aufständischer durch die Bundeswehr.
Die Notwendigkeit, den bis dahin nicht genau geklärten Begriff der fdGO zu präzisieren, ergab sich, als das BVerfG 1952 über eine mögliche Verfassungswidrigkeit der SRP entscheiden musste. Später übernahmen Bundestag und Landesparlamente die damals formulierten Kriterien als Legaldefinition der fdGO.
2. Normativer Gehalt
Damals führte das Gericht aus (BVerfGE 2,1, Rdnr. 37 f.): „Die besondere Bedeutung der Parteien im demokratischen Staat rechtfertigt ihre Ausschaltung aus dem politischen Leben nicht schon dann, wenn sie einzelne Vorschriften, ja selbst ganze Institutionen der Verfassung mit legalen Mitteln bekämpfen, sondern erst dann, wenn sie oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates erschüttern wollen. Diese Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung der ‚verfassungsmäßigen Ordnung‘ als fundamental ansieht. Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt. Die Vorstellung […], es könne verschiedene freiheitliche demokratische Grundordnungen geben, ist falsch. Sie beruht auf einer Verwechslung des Begriffs der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit den Formen, in denen sie im demokratischen Staat Gestalt annehmen kann. So lässt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, v. a. vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“.
Diesem Teil des SRP-Urteils lassen sich fünf wesentliche Merkmale der fdGO entnehmen.
Erstens ist sie auf die Sicherung jener Menschenwürde angelegt, die teils in den grundgesetzlich ausformulierten Menschenrechten, teils durch die Institutionalisierung von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie konkretisiert wird.
Zweitens umreißt die fdGO einen Staatstyp, der nicht orts- oder zeitgebunden ist, allerdings je bes. institutionelle Formen annehmen kann.
Dieser wird – drittens – zunächst einmal von dem her bestimmt, was gerade nicht existieren soll: ein „totaler Staat“, der Gewalt- und Willkürherrschaft praktizieren kann.
Viertens wird ein Minimum von acht Regeln bzw. Institutionalisierungen für diesen Staatstyp aufgelistet, das sich um zwei Pole lagert: Der erste ist die materielle Rechtsstaatlichkeit, konkretisiert durch die Achtung der Menschenrechte, die (mehrdimensionale) Gewaltenteilung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Unabhängigkeit der Gerichte. Der zweite Pol ist die pluralistische Demokratie, konkretisiert durch das – „Volkssouveränität“ genannte – Demokratieprinzip, das Mehrparteienprinzip samt Chancengleichheit der Parteien, das Recht auf Bildung und Ausübung von Opposition sowie die Verantwortlichkeit der Regierung.
Fünftens wird klargestellt, dass alle diese Prinzipien politische Vielfalt nicht ersticken, sondern im Gegenteil ihren Entfaltungsraum sichern sollen. Nicht einmal der – natürlich mit legalen Mitteln zu führende – Kampf gegen „einzelne Vorschriften, ja selbst ganze Institutionen der Verfassung“ ist nämlich verfassungswidrig, sondern erst die sich konkretisierende Absicht auf eine Beeinträchtigung oder Beseitigung dieser freiheitlichen Ordnung bzw. die Gefährdung jenes Staates, der sie sichert. In einem solchen Ernstfall gilt sogar gemäß Art. 20, 4 GG: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“.
3. Politische Rolle
In der fdGO verwirklicht sich der dem politischen Streit entzogene Minimalkonsens des deutschen Staatsvolks. Er befreit vom „Demokratieparadox“: Um der Demokratie willen muss keineswegs eine Mehrheitsentscheidung akzeptiert werden, welche die Demokratie beseitigen würde. Dergestalt sind Theorie und Praxis der fdGO der Kern bundesdeutschen Verfassungsschutzes und politisch-kultureller Eckstein wehrhafter Demokratie. Beides konkretisiert sich im Begriff des Extremismus. Unter diesen fällt alles Denken und Handeln, das auf die Beseitigung der fdGO hinarbeitet. Um der Menschenwürde willen ist Extremismus deshalb zu bekämpfen, und zwar sogar über das Verbot politischer Organisationen und die Verwirkung von Grundrechten hinaus. Wer hingegen bloß einzelne Vorschriften oder Institutionen eines die fdGO verwirklichenden Staates verändern will, ist lediglich ein Andersdenkender und allenfalls ein Radikaler. Beide sind um der Freiheit und Demokratie willen zu ertragen.
Wie schwer diese Unterscheidung fallen kann, zeigt die Diskussion um die fdGO. Solange – nach dem KPD-Verbotsurteil von 1956 – sich die politische Linke als das hauptsächlich von den Ausgrenzungsmöglichkeiten betroffene Lager sah, gab es dort die Meinung, es handele sich bei der fdGO um eine „verfassungsrechtliche Begriffsperversion, die … den Keim für den verfassungspolitischen Bürgerkrieg liefert“ (Kessler 1978: 224). Inzwischen zögert die Linke selten, unliebsame politische Positionen nicht nur als radikal, sondern auch als extremistisch zu bezeichnen, gibt sich aber selten Mühe, sie konkret an den Kriterien der fdGO zu messen. Auf diese Weise wird die fdGO dann sehr wohl zum pluralismuseinschränkenden Kampfinstrument.
Ein solches darf sie aber nicht sein, wie das BVerfG die Grundgedanken des SRP-Urteils aufgreifend im Urteil zum Verbot der KPD erneut ausführte (BVerfGE 5, 85, Rdnr. 250 f.): Eine Partei – und erst recht eine politische Position – ist „nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie diese obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt, sie ablehnt, ihnen andere entgegensetzt. Es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen; sie muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen. Das bedeutet, daß der freiheitlich-demokratische Staat gegen Parteien mit einer ihm feindlichen Zielrichtung nicht von sich aus vorgeht; er verhält sich vielmehr defensiv, er wehrt lediglich Angriffe auf seine Grundordnung ab. Schon diese gesetzliche Konstruktion des Tatbestandes schließt einen Missbrauch der Bestimmung im Dienste eifernder Verfolgung unbequemer Oppositionsparteien aus“.
Literatur
S. Schulz: Die freiheitliche demokratische Grundordnung: strafrechtliche Anwendbarkeit statt demokratischer Minimalkonsens, in: KJ 48/3 (2015), 288–303 • G. Lautner: Die freiheitliche demokratische Grundordnung, 21982 • C. Gusy: Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des BVerfGs, in: AöR 105/2 (1980), 279–310 • U. Kessler: Freiheitliche Demokratische Grundordnung, in: K. Sontheimer/H. H. Röhring (Hg.): Hdb. des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 21978, 219–227 • E. Denninger (Hg.): Freiheitliche demokratische Grundordnung. Materialien zum Staatsverständnis und zur Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik, 2 Bde., 1977.
Empfohlene Zitierweise
W. Patzelt: Freiheitliche demokratische Grundordnung, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Freiheitliche_demokratische_Grundordnung (abgerufen: 25.11.2024)