Westen
Das Wort W. (von lateinisch occidens) meint zunächst eine Himmelsrichtung. Im griechisch-römischen Sprachbereich wurde der W. dichterisch nach dem Gott des Abendsterns Hesperos auch als hesperidisch tituliert, im Deutschen kam seit dem 16. Jh. die Bezeichnung Abendland auf. Über die rein geographische Verwendung hinaus war der Begriff allerdings schon seit frühester Zeit weltanschaulich aufgeladen. Im pharaonischen Ägypten etwa bezeichnete der W. sowohl den Sitz der Chaosmächte (Wüste, Tod) wie den Ort der Wiedergeburt z. B. der Sonne. In der griechischen Mythologie entstand die Vorstellung vom Wohnort der verstorbenen Seligen im fernen W. (Eleusinische Gefilde). Daneben trat seit dem frühen 5. Jh. v. Chr. zunehmend eine politische Idee vom W., die sich in den Perserkriegen ausbildete und seitdem kontinuierlich politische Narrative strukturiert. Demnach stand der W. für Freiheit i. S. politischer Selbstbestimmung der griechischen Poleis gegen die vorgebliche Tyrannei des persischen Ostens, der mithin zum gegentypischen Ort der Unfreiheit mutierte. In Rom wurde der hellenistische Osten dann als übergelegene, aber dekadente Zivilisation, der W. hingegen im Kontext kraftvoller Herrschaft wahrgenommen. Die Teilung des Römischen Reiches 396 n. Chr. war nur bedingt mit diesen politischen Konnotationen verknüpft. Immerhin galt die ostkirchliche Orthodoxie als einem caesaropapistischen Modell verhaftet und damit als weniger „frei“ denn der westliche Katholizismus mit seiner zwischen Kooperation und Konflikt changierenden Haltung zum Staat-Kirche-Verhältnis (Kirche und Staat). Auch der Begriff „byzantinisch“ war schon im Mittelalter mit der Vorstellung östlich-unfreien Hochmuts und zivilisatorischer Dekadenz verbunden. Daher finden sich seit den 1980er Jahren zunehmend Stimmen, welche die früheste Konstruktion des „liberalen W.s“ auf die gregorianische Reform (Papal Revolution, Harold J. Berman, Philippe Nemo) des 11. Jh. zurückführen.
Aber erst im 19. Jh. gewann die Idee des W.s konkret wieder an politischer Bedeutung. Anfangs war sie das Resultat einer Konstellation, in der sich die „liberalen“ Westmächte Großbritannien und Frankreich und die konservativen Ostmächte Russland, Preußen und Österreich hinsichtlich ihrer Ordnungsvorstellungen gegenüberstanden. In diesem Zusammenhang wurde das zaristische Russland in eine östliche Macht umgedeutet, um auf diese Weise in die stereotype Imagination von orientalischer Tyrannei (inkl. China, Persien, Indien und Osmanischem Reich) eingepasst zu werden. Dabei konnten die Feindbilder des liberalen W.s mit Phasen der (exotischen) Faszination abwechseln. Insgesamt aber kam es zu einer markanten Abwertung chinesischer, indischer wie islamischer Traditionen. In der Philosophie wurde Georg Wilhelm Friedrich Hegels Konstrukt von der Westwanderung des Weltgeistes bedeutsam, das im Laufe des 19. Jh. auch auf die kontinentale Westexpansion der USA angewandt wurde (George Bancroft). Spätestens mit dem Krimkrieg (1853–56) hatte sich diese Idee des W.s als politisch handlungsleitend verfestigt. Sie legitimierte auch den Hochimperialismus, der so als Zivilisierungsmission gegenüber dem barbarischen Orient gedeutet werden konnte.
Eine bes. Rolle in diesem weltanschaulichen West-Ost-Konflikt kam Deutschland zu, das keiner Seite eindeutig zugeordnet und dem bis weit ins 20. Jh. eine Art Brückenfunktion zugeschrieben wurde. Im Ersten Weltkrieg erfolgte dann auf westalliierter Seite die Neukonnotation Deutschlands als konservativer Ostmacht, die sich gegen den von den liberalen Westmächten ausgehenden Fortschritt stemmte, obwohl diese mit dem autokratischen Russland verbündet waren. In Deutschland übernahmen die Verfechter der antiliberalen „Ideen von 1914“ dieses Narrativ ebenso wie die antiwestlichen Diskurse um Reich und Abendland, die nicht zuletzt im antiliberalen Katholizismus bis weit in die 1950er Jahre eine Anhängerschaft fanden und in Spanien und Portugal bis in die 1970er Jahre in der Vorstellung vom katholisch-iberischen Sonderweg greifbar sind. Mit dem Ende der „östlichen“ Vielvölkermonarchien 1918, v. a. aber mit dem Sieg der bolschewistischen Revolution in Russland verlagerte sich die Feindimagination des W.s vom Konservatismus zum Totalitarismus, wobei das NS-Deutschland (Nationalsozialismus) zwar nicht zum Osten, aber doch auch keinesfalls zum W. gezählt wurde. Hier war seit den 1910er Jahren von einem „deutschen Sonderweg“ die Rede, mit dem W. als Maßstab für Moderne und Fortschritt. Nach dem Kriegsausgang 1945 gelang in je unterschiedlichen Varianten die Integration Westdeutschlands, Italiens und Japans in den W. unter antitotalitär-antikommunistischen Auspizien (Westernisierung).
In der Hochphase des Ost-West-Konflikts, dem Kalten Krieg 1947–91, wuchs auch das Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Interpretation des „freien W.s“. Insb. in den USA wurde dies durch das Fach Western Civilisation geleistet, das die gemeinsamen Wertegrundlagen des W.s herausarbeiten sollte. Auf soziologischer Ebene diente dem die Modernisierungstheorie (Modernisierung). In ideengeschichtlichen und empirischen Studien wurde eine lineare Fortschrittsgeschichte (Whig Interpretation of History) vom Freiheitskampf der hellenischen Poleis über die Relevanz des römischen Rechts sowie Renaissance, Reformation und Aufklärung bis in die Gegenwart des Liberalismus konstruiert, die von individualistischem Freiheitsstreben (Freiheit), einem Höchstmaß an Rationalität und Legalität, technologischer Innovation, dem Wechselspiel von souveräner Nationalstaatlichkeit und internationaler Kooperation und dem unbedingten Recht auf Eigentum in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem gekennzeichnet war. Dagegen standen die Despotie des Totalitarismus, Kollektivismus, das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat) und Privateigentum. Aber auch der Katholizismus, die Traditionen der Scholastik oder des päpstlichen Universalismus wurden aus dieser Fortschrittsgeschichte herausgeschrieben und erst nach dem Ende des Kalten Kriegs revisionistisch integriert (Papal Revolution). Im Kern aber blieb der „freie W.“ liberal, protestantisch und angelsächsisch.
Neben der ideellen Exklusion der katholischen Tradition bestand das Hauptproblem dieser Erzählung vom W. in der mangelnden Selbstkritik. Im Grunde wurde die Idee des W.s der Praxis des jeweiligen Gegners gegenübergestellt, wodurch die strukturelle Inhumanität der eigenen Praxis (Imperialismus, Kolonialismus, latenter Rassismus, Kooperation mit autoritären Regimen etc.) zur beklagenswerten Ausnahmeerscheinung relativiert werden konnte. Das führte auch intern zu Kritik, so etwa im Studentenprotest der 1960er Jahre (Studentenbewegungen). Auf intellektueller Ebene korrespondierte damit das Aufkommen neomarxistischer, aber auch postkolonialer (Edward William Said; Postkolonialismus), antirassistischer und postmoderner (Postmoderne) Ansätze, die immer wieder mit einer Kritik am Konzept des W.s, bes. aber des westlichen liberalen Kapitalismus gekoppelt waren. In dieser Kritik, die ihrerseits reformerische Potenziale des W.s systematisch ausblendete, spiegelten diese Ansätze freilich mitunter nur die Einseitigkeiten westlicher Selbstdarstellung mit umgekehrten moralischen Implikationen wider. Die Kritik am W. als liberal-universalistischem Projekt intensivierte sich einerseits mit der Dekolonisierung und dem wachsenden Selbstbewusstsein von Intellektuellen aus der „Dritten Welt“, andererseits mit dem Nachlassen des Außendrucks nach dem Kollaps des sowjetischen Hegemonialsystems.
Nach einer Phase anfänglicher liberaler Euphorie („Ende der Geschichte“ [Fukuyama 1992]) kam es zu deutlichen Zerfallserscheinungen im westlichen Lager, aber auch zu neuen Formen antiuniversalistischen Denkens im W. selbst (z. B. postkoloniale und postmoderne Identitätspolitik auf Basis von race, class und gender). Der liberale W. schien ab 1990 mehr und mehr zu einem „konservativen“ Projekt zu werden. Außerhalb des W.s behielten dessen Ideen jedoch ihren als fortschrittlich empfundenen Wert und somit eine gewisse Attraktivität (islamische Welt, China). Inwieweit sich der W. als politisch relevante Idee und übergreifendes Integrations- und Identitätsmoment wird behaupten können, ist angesichts der gegenwärtigen Fragmentierung des W.s unklar. Gegenüber diesen Fragen nach intellektuellen Zuordnungen und (De-)Konstruktionen spielte die Frage, welche Länder nun konkret zum W. zählten, nie eine bes. bedeutende Rolle. Der W. wurde primär als ideell-kulturell-politisches Phänomen und im Gegensatz zum ebenfalls konstruierten Osten verstanden, da war es nie erheblich, ob ein „westliches“ Land tatsächlich im geographischen W. lag oder, wie Japan, Australien, Neuseeland, im Osten.
Literatur
M. Kimmage: The Abandonment of the West. The History of an Idea in American Foreign Policy, 2020 • H. A. Winkler: Geschichte des Westens, 4 Bde., 2009–15 • P. Nemo: Was ist der Westen?, 2005 • A. Bonnett: The Idea of the West, 2004 • I. Buruma/A. Margalit: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, 2004 • M. Hochgeschwender: Was ist der Westen? Zur Ideengeschichte eines politischen Konstrukts, in: HPM 11/1 (2004), 1–35 • E. Said: Orientalism, 2003 • A. Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, 1999 • H. J. Berman: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, 1995 • F. Fukuyama: Das Ende der Geschichte, 1992.
Empfohlene Zitierweise
M. Hochgeschwender: Westen, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Westen (abgerufen: 23.11.2024)