Postkolonialismus

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Die Bezeichnung P. umfasst eine Reihe von historischen und gesellschaftspolitischen Prozessen, sowie die Auseinandersetzung mit ihnen, die in Folge der Abschaffung der Kolonialreiche bzw. der (Selbst-)Befreiung von Kolonien in Bewegung kamen. P. ist insofern nur vollständig zu verstehen, wenn er mit dem Kolonialismus als Expansionsform und der Dekolonisierung als Summe der Prozesse, um koloniale Herrschaft rückgängig zu machen, zusammen betrachtet wird. Jedoch ist die Wortzusammensetzung aus „Post-“ und „Kolonialismus“ nicht i. S. einer linearen Epochenabfolge zu verstehen: P. sollte nicht bloß als eine Epoche in der Weltgeschichte gelten, die nach der formellen Abschaffung von kolonialen Territorien eintritt und mit der Entstehung von politisch unabhängigen Nationalstaaten in diesen Territorien zusammenfällt. Jenseits dieser zwar zutreffenden, aber enggefassten Kerndimension umfassen Kolonialismus und P. Herrschaftsformen und Emanzipationsprozesse (Emanzipation), die auch gegenwärtig auftreten und häufig in Verbindung mit dem Phänomen des Neokolonialismus betrachtet werden. Diese hängen nicht mehr mit der faktischen Okkupation von Territorien zusammen, sondern bestehen in politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Beziehungen sowie in Kultur- und Wissensstrukturen fort, die konkrete Formen der Domination aufrechterhalten.

Die Herrschafts- und Emanzipationsformen, die den P. kennzeichnen, werden im Wissensfeld der postkolonialen Theorien und Studien behandelt. Diese umfassen die akademische Auseinandersetzung mit den Prozessen der Kolonisierung und Dekolonisierung, ihren wichtigsten Strukturen und Mechanismen sowie den zentralen Dimensionen, die das Phänomen verständlich machen. Dabei spielen nicht nur wissenschaftliche, sondern auch literarische und künstlerische Auseinandersetzungen mit kolonialen Erfahrungen und Emanzipationsprozessen eine zentrale Rolle. Die wichtigsten Vorläufer der postkolonialen Studien kommen v. a. aus dem englisch- und französischsprachigen Raum. Eine sehr wichtige Gruppe stellen ebenfalls die portugiesisch- und spanischsprachigen Beiträge dar. Eine deutschsprachige postkoloniale Theorie hat sich im Vergleich erst relativ spät entwickelt, umfasst jedoch inzwischen ebenfalls wichtige Arbeiten. Diese unterschiedliche Gewichtung ist insofern nicht verwunderlich, da die größten Kolonien in Indien, Afrika und Amerika überwiegend – wenn auch nicht ausschließlich – in die zuvor genannten Sprach- und Kulturgruppen eingegliedert wurden und ein zentraler Beitrag zum postkolonialen Denken aus Emanzipationserfahrungen der ehemaligen Kolonien kommt. Hingegen musste in Deutschland erst einmal die eigene Vergangenheit als Kolonialmacht aufgearbeitet werden, damit sich eine postkoloniale Reflexion hierzulande entwickeln konnte und als akademisches Feld anerkannt wurde.

Eine der Kernaussagen der postkolonialen Theorien und Studien ist es, dass koloniale Herrschaft durch bestimmte Rechtfertigungspraktiken aufrechterhalten wurde. Dazu zählen insb. die Repräsentationen von „übergeordneten“ Kulturen (die Kolonialmächte) sowie „barbarischen“ Völkergruppen (die Kolonien), welche Kolonisierung als Zivilisierungsmission begründet haben. Postkoloniale Theorien und Studien identifizieren und analysieren diese Repräsentationen der Anderen, denen entweder eine eigene Kultur abgesprochen wurde (wie im Fall von bestimmten Gruppen in Afrika und Amerika) oder deren Kultur im Vergleich zu den europäischen Kulturgruppen abgewertet wurde wie im Fall des „Orients“, der anhand weiblicher Eigenschaften abgebildet wurde). Solche Repräsentationen des Fremden (als wild, unmenschlich, unterentwickelt) und die einhergehende Konstruktion der eigenen Identität (als zivilisiert, modern, fortschrittlich) sind im 20. und 21. Jh. nicht verschwunden und bestehen in Symbolen und Praktiken des Rassismus und Neokolonialismus fort. Sie sind darüber hinaus mit anderen Repräsentationen verschränkt, die auf Geschlechter- und Klassenkategorien beruhen und somit über die kulturelle Dimension hinausgehen. In dieser Hinsicht leisten die postkolonialen Theorien und Studien, indem sie diese Repräsentationen dekonstruieren, einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Kulturkritik, sondern auch zur Gesellschafts- und politischen Theorie, insb. zu den Debatten über Multikulturalismus und Identitätspolitik. Die Konstruktion der Repräsentationen des Anderen und des Eigenen vollzieht sich nicht – so auch eine zentrale These der postkolonialen Theorien und Studien – als eine klare Abgrenzung zweier unterschiedlicher Identitäten. Hingegen können die Identitäten und Repräsentationen in dem Sinne ambivalent und „hybrid“ sein, dass sie Eigenschaften der beiden sich begegnenden Gruppen enthalten. Im Prozess der kulturellen Begegnung sowohl im kolonialen als auch im postkolonialen Rahmen ist somit von einer gegenseitigen Beeinflussung auszugehen, die der Idee von starren kulturellen Differenzen und kulturellen Hierarchien entgegensteht.