Deregulierung
I. Wirtschaftlich
Abschnitt drucken1. Deregulierung und Marktöffnung
1.1 Meilensteine zum Abbau gesetzlicher Marktzutrittsschranken
Die D. von Netzsektoren, wie z. B. Telekommunikation und Internet, Eisenbahn, Energie, Luftfahrt, Post etc. hat in den vergangenen Jahrzehnten weltweit eine herausragende wirtschaftspolitische Bedeutung erlangt. Auch in Deutschland hat sich das Wettbewerbsziel in verschiedenen Gesetzgebungsverfahren niedergeschlagen, so etwa im AEG vom 27.12.1993, im TKG vom 25.7.1996, im PostG vom 22.12.1997 sowie im Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24.4.1998. Auch der Linienbusfernverkehr ist mit der Novelle des PBefG seit dem 1.1.2013 für den Wettbewerb geöffnet. Seitdem die sechste Novelle des GWB am 1.1.1999 in Kraft getreten ist, stellen Netzsektoren auch keine wettbewerblichen Ausnahmebereiche mehr dar, sondern unterliegen dem allgemeinen Wettbewerbsrecht. Die Marktöffnung der Netzsektoren in Deutschland ist eng mit der Liberalisierung der europäischen Verkehrs- und Versorgungsmärkte verknüpft. Umfassender Marktzutritt im europäischen Luftverkehr wurde im Rahmen des dritten Maßnahmenpakets zur Liberalisierung des innergemeinschaftlichen Luftverkehrs vom 24.8.1992 eingeführt. Die Marktöffnung der europäischen Telekommunikations- und Energiemärkte erfolgte zum 1.1.1998. Die Märkte für Briefdienste sind seit dem 1.1.2013 in allen europäischen Ländern umfassend geöffnet.
1.2 Das ordnungspolitische Primat der offenen Märkte
In einer Marktwirtschaft gilt der ungehinderte Marktzugang als unabdingbar. Gesetzliche Marktzutrittsschranken führen zu gravierenden volkswirtschaftlichen Nachteilen, weil sie wettbewerbsfeindlich sind. Nach Abbau sämtlicher gesetzlicher Marktzutrittsschranken sind nicht nur vielfältige Formen des aktiven Wettbewerbs, sondern auch der potenzielle Wettbewerb von Bedeutung. Auf wettbewerblichen Märkten erfolgt die Abwägung zwischen dem Ausschöpfen von Größenvorteilen und dem Angebot von unterschiedlichen Produktqualitäten spontan. Auch hat der Wettbewerb eine bedeutende Rolle als Entdeckungsverfahren bei der Suche nach innovativen Produkten und Produktionsverfahren.
Charakteristisch für Wettbewerb in Netzen ist, dass sowohl Größenvorteile in der Produktion, als auch Unternehmensstrategien wie Produktdifferenzierung, Preisdifferenzierung, Aufbau von Goodwill und die Suche nach neuen Produkten und innovativen Produktionsprozessen von großer Bedeutung sind.
1.3 Allgemeine Wettbewerbspolitik auf deregulierten Märkten
Auf deregulierten Märkten (Markt) gewinnt wettbewerbsstrategisches Verhalten (z. B. Fusionen, Allianzen, Preisdifferenzierungen etc.) an Relevanz. Dies ist eine natürliche Konsequenz aus den durch D. geschaffenen Freiheitsgraden und Ausdruck neu entstandener Wettbewerbspotentiale. Folglich schafft erst die Überführung gesetzlicher Monopole in wettbewerblich organisierte Märkte die Notwendigkeit, den Einsatz wettbewerbspolitischer Maßnahmen etwa zur Abwehr wettbewerbsbeschränkender Kollusionen zwischen Konkurrenten oder wettbewerbsschädigenden Ausschlusses von Konkurrenten zu erwägen. Wie auf allen Märkten obliegt es den Wettbewerbsbehörden, im Rahmen der Missbrauchsaufsicht des allgemeinen Wettbewerbsrechts tatsächliche Wettbewerbsverzerrungen und damit einhergehende Marktmacht aufzudecken. Sie haben dabei die Aufgabe, zwischen dem volkswirtschaftlichen Schaden eines unangemessenen Eingriffs und einem ungerechtfertigten unterlassenen Eingreifen sorgfältig abzuwägen.
2. Verbleibender Regulierungsbedarf
2.1 Netzspezifische Marktmacht
Um die Potenziale des Wettbewerbs in Netzsektoren nach einer umfassenden Marktöffnung möglichst umfassend auszuschöpfen, stellt sich zunächst die Frage, ob über das allgemeine Wettbewerbsrecht hinausgehende sektorspezifische Marktmachtregulierungen erforderlich sind. Aus wettbewerbsökonomischer Perspektive gilt die Notwendigkeit einer minimalen Regulierungsbasis. Ausschließlich in denjenigen Netzbereichen, in denen weder aktiver noch potenzieller Wettbewerb möglich ist, sind Regulierungseingriffe zur Disziplinierung netzspezifischer Marktmacht gerechtfertigt.
Netzspezifische Marktmacht ist nur in monopolistischen Bottleneck-Bereichen zu erwarten. Es handelt sich um diejenigen Netzbereiche, die gleichzeitig durch das Vorliegen eines natürlichen Monopols (Marktformen) mit lediglich einem aktiven Anbieter und durch irreversible Kosten gekennzeichnet sind. Da irreversible Kosten bei einem Marktaustritt zwangsläufig verloren sind, hat der etablierte Anbieter geringere entscheidungsrelevante Kosten als die potenziellen Marktneulinge. Das am Markt etablierte Unternehmen hat die irreversiblen Kosten bereits getätigt und kann folglich glaubwürdig damit drohen, diese unwiederbringlichen Kosten bei der Preisbildung zu vernachlässigen. Hieraus ergibt sich ein Spielraum für strategisches Verhalten, so dass ineffiziente Produktion oder Monopolgewinne nicht mehr zwangsläufig den Marktzutritt von Konkurrenten zur Folge haben. Monopolistische Bottleneck-Bereiche treten typischerweise bei erdgebundenen Netzen und Netzteilen auf, wie z. B. bei Wegeinfrastrukturen (Schienenwegen, Bahnhöfen, Flughäfen etc.), aber auch bei Ortsnetzen von Gas, Wasser und Abwasser.
Aus wettbewerbsökonomischer Perspektive sollte regelmäßig überprüft werden, ob aufgrund des technologischen Fortschritts sowie durch Nachfrageveränderungen und den sich daraus ergebenden Wettbewerbspotenzialen der Regulierungsbedarf entfällt. Illustrative Fallbeispiele liefert der Telekommunikationssektor, in dem sich inzwischen nicht nur die Fernnetze wettbewerblich entwickelt haben sondern auch im Bereich der lokalen Netze zunehmend Netzkonkurrenz zu beobachten ist.
2.2 Disaggregierte Marktmachtregulierung
Um umfassenden Wettbewerb auf den Märkten für Netzdienstleistungen zu ermöglichen, ist der diskriminierungsfreie Zugang zu den monopolistischen Bottleneck-Bereichen erforderlich. Die Netzzugangsbedingungen müssen folglich für sämtliche Marktteilnehmer symmetrisch sein. So erfordert bspw. der Wettbewerb auf den europäischen Luftverkehrsmärkten den diskriminierungsfreien Zugang zu den Flughafenslots für sämtliche Anbieter des Flugverkehrs. Gleichermaßen ist der diskriminierungsfreie Zugang zu Schienennetzen eine Voraussetzung für funktionsfähigen Wettbewerb im Eisenbahnverkehr. Verbleibende Marktmachtprobleme gilt es durch geeignete Anreizregulierung zu lösen, insb. mittels Price-Cap-Regulierung der monopolistischen Bottleneck-Bereiche sowie getrennte Rechnungslegung zu den wettbewerblichen Bereichen. Die Regulierungsbehörde legt hier lediglich ein maximal zulässiges Preisniveau für die regulierten Produkte des Anbieters einer monopolistischen Bottleneck-Einrichtung fest. Die Preisstruktur darf frei gewählt werden, solange das zulässige Preisniveau nicht überschritten wird. Das maximal erlaubte Preisniveau wird an die Inflationsrate (Inflation) und an Schätzungen über mögliche Produktivitätssteigerungen in der regulierten Branche gekoppelt. Vor Beginn einer neuen Regulierungsperiode werden alle Parameter festgelegt. Während der Laufzeit einer Regulierungsperiode nimmt die Regulierungsinstanz keinen Einfluss mehr auf das zulässige Preisniveau. Die Suche nach einer effizienten Preisstruktur bleibt Unternehmensaufgabe.
3. Deregulierung und Universaldienstziele
Im Rahmen der D.s-Reformen hat das politische Ziel der Aufrechterhaltung von defizitären Universaldiensten – insb. in den Sektoren Post, Telekommunikation, Energie und Wasser – einen großen Stellenwert eingenommen. Es geht dabei um die flächendeckende Bereitstellung von Netzdienstleistungen zu politisch festgelegten Einheitspreisen. Die Aufrechterhaltung von Universaldienstzielen diente lange Zeit als Argument gegen eine umfassende Marktöffnung und für die Beibehaltung bestimmter gesetzlich geschützter Monopolnischen. Die Finanzierung von defizitären Universaldienstleistungen mittels interner Subventionierung aus den Gewinnen profitabler Leistungen sollte nicht durch selektiven Marktzutritt (sogenanntes „Rosinenpicken“) gefährdet werden. Der europäische Postsektor ist ein bes. treffendes Beispiel dafür, dass das Universaldienstziel den Prozess der D. entscheidend verzögerte.
Auch nach einer umfassenden Marktöffnung von Netzen werden Universaldienstziele verfolgt. Die Bereitstellung defizitärer Universaldienstleistungen ist auch nach einer umfassenden Marktöffnung realisierbar. Die interne Subventionierung ist hierbei notwendigerweise durch eine symmetrische Finanzierungslösung zu ersetzen, die den Wettbewerb nicht nur im Bereich der profitablen Teilmärkte, sondern auch im Bereich defizitärer Universaldienstleistungen ermöglicht. Eine marktkonforme institutionelle Lösung besteht bspw. in einer expliziten externen Subvention, die aus einem Universaldienstfonds finanziert wird. Dabei wird ein Wettbewerbsprozess um die geringste Subvention in Gang gesetzt, an dem sich sowohl die eingesessenen Netzbetreiber als auch Marktneulinge beteiligen dürfen. Der jeweils kostengünstigste Bieter erhält den Zuschlag. Ist die Subvention hoch genug um die entscheidungsrelevanten Kosten zu decken, werden die defizitären regionalen Leistungen freiwillig entweder durch traditionelle Anbieter oder durch neue Unternehmen erbracht. Das Konzept des Universaldienstfonds sieht die Erhebung einer Universaldienststeuer auf den profitablen Netzbereichen vor, die von jedem Anbieter erbracht werden muss. Art und Umfang der Universaldienstziele unterliegen einem fortwährenden Wandel. So schafft bspw. der Trend in Richtung Digitalisierung der Gesellschaft zunehmend Alternativen zur Briefpost und wirft Fragen nach der zukünftigen Ausgestaltung von Universaldienstleistungen im Postbereich auf.
Literatur
G. Knieps: Network Economics. Principles – Strategies – Competition Policy, 2015 • Monopolkommission: Post 2015. Postwendende Reform – Jetzt!, 2015 • G. Knieps: The Three Criteria Test, the Essential Facilities Doctrine and the Theory of Monopolistic Bottlenecks, in: Intereconomics 46/1 (2011), 17–21 • G. Knieps: Wettbewerb im Spannungsfeld zwischen Größenvorteilen, Vielfalt und Innovation, in: H.-J. Blanke/A. Scherzberg/G. Wegner (Hg.): Dimensionen des Wettbewerbs – Europäische Integration zwischen Eigendynamik und politischer Gestaltung, 2010, 267–278 • G. Knieps/P. Zenhäusern: Phasing out sector-specific regulation in European telecommunications, in: JCLE 6/4 (2010), 995–1006 • G. Knieps/P. Zenhäusern/C. Jaag: Wettbewerb und Universaldienst in europäischen Postmärkten, in: G. Knieps/H.-J. Weiß (Hg.): Fallstudien zur Netzökonomie, 2009, 87–109 • G. Knieps: Wettbewerbsökonomie – Regulierungstheorie, Industrieökonomie, Wettbewerbspolitik, 32008 • W. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 61990 • F. A. von Hayek: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: E. Schneider (Hg.): Kieler Vorträge, NF 56, 1968, 3–20.
Empfohlene Zitierweise
G. Knieps: Deregulierung, I. Wirtschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Deregulierung (abgerufen: 23.11.2024)
II. Rechtlich
Abschnitt drucken1. Begriff
Die Frage nach der D. ist so alt wie das Gesetzesrecht selbst. Bereits in der römischen Antike wurde beklagt, dass zu viele und zu schlechte Gesetze erlassen werden, Regelungen sich daher in Teilen behindern, kaum verständlich sind und nicht befolgt werden können; die Regelungsfülle beeinträchtige die Freiheit und schade dem Recht. Alexis de Tocqueville formulierte später leidenschaftlich und zugespitzt: Der Staat, der ein „Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln“ spannt, zwingt zwar „selten zum Handeln,“ steht aber „ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet“ und lähmt so die freiheitliche Kraft der Menschen (de Tocqueville 1985: 344).
Die D., das Außerkraftsetzen oder die vereinfachende, auch entdifferenzierende Reduktion bestehender Regelungen, soll einer solchen oft als „Normenflut“ bezeichneten Überregulierung entgegenwirken. In einem spezielleren Verständnis werden Regelungen als D. begriffen, die einen Bereich teilweise oder vollständig dem Wettbewerb zwischen Unternehmen öffnen, der diesem zuvor verschlossen war. Den hier behandelten allgemeinen Gedanken der D. hat insb. Montesquieu in seiner Gesetzgebungslehre „Vom Geist der Gesetze“ betont. „Überflüssige Gesetze schwächen notwendige Gesetze.“ Politische Freiheit ist nur unter einer maßvollen Gesetzgebung möglich. „Der Geist des Gesetzgebers muß der Geist der Mäßigung sein“ (C. de Montesquieu 2003: 29. Buch 16. und 1. Kapitel).
2. Überregulierung und Deregulierung
2.1 Überregulierung
Die Kritik am Gesetzesrecht und einer „Gesetzesinflation“ ist gängig. Doch scheinen sich die Einwände gegenwärtig zuzuspitzen, wenn ein historischer Höchststand der „Normenflut“ ausgemacht wird. Der Bund hat – um grobe Orientierungen zu geben – in den Jahren 1998 bis 2004 rund zwei Gesetze (Gesetz) und Verordnungen (Rechtsverordnung) pro Tag, die EU in diesen sechs Jahren täglich mehr als acht Verordnungen erlassen (BT-Drs. 15/5434, 15). Zwar fallen hierunter auch kleinere Rechtsänderungen und Detailregelungen, gleichwohl scheinen diese Zahlen den ernüchternden Befund zu belegen, dass es Bürgern und „Angehörigen der Rechtsberufe praktisch unmöglich [ist], ein genaueres Verständnis oder auch nur einen allgemeinen Überblick über alle Rechtsvorschriften zu erlangen, die sie betreffen“ (Mandelkern u. a. 2002: 52). Die Gesetzgeber erlassen – so eine bewusste Zuspitzung – „nicht nur viel zu viele, sondern auch viel zu schlechte, ja, viel zu viele schlechte Gesetze“ (Maihofer 1980: 4).
Die zahlreichen Regelungen sollen sich in einer Zeit moderner Rechtsquellenvielfalt zu einer Rechtsordnung verbinden, wenn zum nationalen Bundes- und Landesrecht internationales Recht, regionales Völkerrecht (EMRK) und das supranationale Recht der EU (Europarecht) tritt. Die hieraus folgenden Koordinationsaufträge sind anspruchsvoll und werden gegenwärtig nicht hinreichend erfüllt. Umfang, Dichte und Überfeinerung des Rechts scheinen einen Höhepunkt erreicht zu haben. Überflüssige Regelungen werden nicht außer Kraft, unausgereifte Gesetze zu oft in Kraft gesetzt. Das Gesetzesrecht wird rasch korrigiert, ist unstetig. Die Regelungen treffen nicht selten Bereiche, die zuvor der Gesellschaft und damit anderen normativen Ordnungen vorbehalten waren (Verrechtlichung). Die Gesetze bilden kaum eine dauerhafte Ordnung, achten nicht hinreichend auf das übrige Gesetzesrecht. Zwar wurden und werden auch abgestimmte Regelungen, Gesetzgebungswerke und Kodifikationen in Kraft gesetzt. Zu oft beschließen die Gesetzgeber aber kaum begreifbare, kaum systembildende oder systemergänzende Regelungen, die selbst Experten nicht oder nur schwer verstehen. Es stellt sich die Frage, ob durch weniger Gesetze mehr Recht geschaffen werden kann.
2.2 Ursachen und Folgen
Die Sorge um die Quantität und Qualität der Gesetze geht oft mit der Feststellung einher, dass der moderne Gesetzgeber keine andere Wahl hätte, als eine Fülle von Gesetzen und Spezialregelungen zu beschließen. Detailregelungen werden insb. von der EU nicht selten in der Hoffnung erlassen, durch die speziellen Vorgaben einen einheitlichen Vollzug in ihren unterschiedlichen Mitgliedstaaten zu bewirken. In der Tat ist die gleichheitsgerechte Anwendung des Gesetzesrechts eine zentrale Aufgabe der Union. Nationale Gesetzgeber erlassen in dem Ansinnen Spezialgesetze, die anderen Gewalten präzise zu leiten. Gesetze werden häufig von Spezialisten entworfen und im Gesetzgebungsverfahren von speziellen Diskursen begleitet, sodass detailliertes Fachrecht, aber keine fachübergreifenden Kodifikationen entstehen. Das Verfassungsrecht scheint diese Entwicklung zu verstärken, wenn der Gesetzesvorbehalt, nach dem Eingriffe in Grundrechte auf einem Gesetz beruhen müssen, als Vorgabe gedeutet wird, nicht grundlegende Normen (Norm), sondern Spezialermächtigungen zu erlassen. In Reaktion auf den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt und die steigende Ausdifferenzierung der Gesellschaft müssen – so ein gängiger Befund – die Gesetze ohnehin komplizierter werden. Insb. Regelungen der Wirtschaftsintervention, die Regelungsaufträge des sog.n Regulierungsrechts, des Sozial-, Technik- und Steuerrechts seien durch allgemeine Kategorien, durch systematisch aufeinander bezogene Ordnungsleistungen nicht mehr zu erfüllen. Friedrich Kübler stellte bereits vor rund 50 Jahren in diesem Sinne fest, dass der „Wandel vom autoritären Kodifikationsstaat zu einem auf demokratische Offenheit angelegten System“ und die „demokratisch verfaßte Industriegesellschaft“ die Epoche der großen Gesetzbücher beendet“ und zu einer „Normalität“ des „fragmentarischen und periodischen Charakters des Gesetzes“ geführt hat (Kübler 1969: 649 ff.).
Demgegenüber wird die Zukunft der D. und der Kodifikationsidee betont. Wer versuche, durch Gesetze punktgenau zu steuern, eine fein abgestimmte Individualgerechtigkeit zu erzeugen, verfange sich im Gestrüpp der Individualisierung, vernachlässige zahlreiche parallele Fälle oder verlange letztlich viele Detailregelungen, die tiefer in die „Normenflut“ führen. Die Orientierungskraft der Gesetze wird geschwächt, letztlich eine Entrechtlichung bewirkt. Die ausufernde Spezialgesetzgebung und die Rechtsquellenvielfalt hatten zur Folge, dass höchste Gerichte, europäische Organe und Nationalstaaten Rechtsbrüche begingen. Die Hoffnung des Gesetzgebers, durch Spezialvorgaben den gleichmäßigen Vollzug zu garantieren und die anderen Gewalten zu binden, ist trügerisch, weil Detailregelungen im Verweis auf die Besonderheiten des zu lösenden Falles leicht zu umgehen sind. Der Gesetzgeber entmachtet sich vielmehr selbst, wenn er unverständliche, wenn er keine grundsätzlichen Regelungen erlässt, welche die anderen Gewalten binden und leiten und die Normadressaten erreichen, wenn seine Gesetze aufgrund ihrer Struktur und der komplizierten Rechtsordnung ihre Wirkung nicht entfalten. Wenn der Bundesgesetzgeber das GG nicht in allgemeinen Vorgaben konkretisiert, das BVerfG dann ohne einfachgesetzliche Orientierung zur verfassungskonkretisierenden Regelbildung veranlasst und dieses seine tragenden Gründe in Leitsätzen verkündet, verkleinern die verfassungsrechtlichen Antworten des Gerichts den Raum parlamentarischer Gestaltung. Spezialgesetze geben Verwaltung und Fachgerichten genaue Anweisungen, verengen damit auch deren Entscheidungsraum, verweigern aber die auslegungsleitende Regel. Gesetzliche Detailregelungen können – dies ist die Paradoxie – alle drei Gewalten entmachten. Das Gesetz im Sinne der „Gewaltenlehre“ meint daher zu Recht „nur die generelle Norm“ (Kelsen 1925: 232). Das allgemeine Gesetz stärkt die Wirksamkeit der Gesetze und damit die parlamentarische Demokratie (Parlament). Die Gesetzgeber überfordern den Gesetzesadressaten und letztlich sich selbst, wenn sie die Gesetzesbeschlüsse kaum aus eigener Anschauung verantworten können. Der elementare Gedanke des demokratischen Rechtsstaats, befolgbares Recht zu erlassen, das der Gesetzgeber selbst verantwortet, wird vernachlässigt.
„Natürlich ist“ – in den Worten Hasso Hofmanns – „in einer differenzierten Gesellschaft bloßes Situationsrecht gar nicht denkbar, sondern ein hohes Maß an Ordnung, Planung, Übersichtlichkeit und Erwartungssicherheit vermöge genereller Regelungen durch abstrakte Programmierung der Staatstätigkeit nötig. Nur von solchen Normen her kann das ganze System als ein Rechtserzeugungszusammenhang verstanden werden“ (Hofmann 1987: 43 f.). Auch dem möglichen Einwand, die notwendige Kompromisssuche im Gesetzgebungsprozess stehe dem allgemeinen Gesetz im Weg, widerspricht H. Hofmann deutlich. Das Parlament ist „der Ort der großen, der allgemeinen Kompromisse.“ Gerade in „diesem politischen Zusammenhang“ entfaltet „das Allgemeinheitspostulat“ seinen „guten Sinn“ (Hofmann 1987: 43 f.). Das Parlament ist der Spezialist für das Allgemeine. Es kann den ungeheuren Regelungsbedarf ohnehin nur durch den Erlass allgemeiner Gesetze bewältigen. Vor einem Einzelfallgesetz ist Gleichheit nicht möglich (Kant 1992: A 238 ff.). Nur das allgemeine Gesetz ist die „geschworene Feindin der Willkür (Jhering 1954: 2. Teil 2. Abteilung, 471) und aus sich heraus Garant der Gerechtigkeit.
2.3 Die Frage nach dem Maß der Regulierung
D. und Überregulierung verbinden sich in der Frage nach einem sachgerechten Regulierungsmaß. Dieses Maß unterscheidet sich je nach Regelungsbereich, wenn etwa das Straßenverkehrsrecht und das Strafrecht strukturell anders zu gestalten sind als die technischen Vorgaben für den sicheren Betrieb eines Kraftwerkes. Die sachgerechte Regelungsdichte kann aber auch für diese Bereiche nicht abstrakt ermittelt werden, sondern ist vom Gesetzgeber und dem gewählten Regelungskonzept abhängig. Ohnehin wäre es naiv und brächte eine Gefahr für die Freiheit, Spezialisierungen aus dem Recht verbannen zu wollen. Die funktionenteilende Gesellschaft ermöglicht Freiheit und erwartet insofern auch spezielle Rechtsregime. Diese Regelungsaufträge und die moderne Rechtsquellenvielfalt erschweren die D. Die bestehende Gesetzesinflation ist aber keine unvermeidbare, schicksalhafte Begleiterscheinung des Sozialstaats im Zeitalter der Industriegesellschaft und zwischenstaatlichen Kooperation.
3. Deregulierung in Zeiten moderner Rechtsquellenvielfalt
Gegenwärtig setzt die öffentliche Hand insb. auf institutionelle Instrumente der D., wenn Stellen der Gesetzesprüfung, der Normenkontrolle, der Gesetzesfolgenabschätzung oder Entbürokratisierung geschaffen werden. Ohne den Willen des Gesetzgebers zur D. werden diese Institutionen aber nicht erfolgreich sein. Die D., die Koordination des Rechts, der Zusammenhalt, das System und die Verständlichkeit des Rechts sind Auftrag des Gesetzes und damit des Gesetzgebers. „Es ist ein alter Wunsch, der wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird: daß man doch einmal statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze ihre Prinzipien aufsuchen möge; denn darin kann alleine das Geheimnis bestehen, die Gesetzgebung, wie man sagt, zu simplifizieren“ (Kant 1974: B 358). Die D. fragt so nach dem rechtswissenschaftlichen Element der Gesetzgebung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in einer atemberaubenden friedens- und freiheitssichernden Weitsicht die UNO, die EMRK und die europäische Integration (Europäischer Integrationsprozess) hervorgebracht. Staaten (Staat), die eben noch gegeneinander Krieg führten, schlossen sich zusammen, um Frieden zu sichern, Menschenrechte durchzusetzen und Wohlstand zu mehren. Elementare Anliegen des Rechts werden seitdem durch zwischenstaatliche Kooperationen mit überstaatlichen Instrumenten verfolgt. Das Recht fließt in der Einsicht, dass zahlreiche Probleme nur in einer Kooperation der Staaten gelöst werden können, aus unterschiedlichen nationalen und übernationalen Quellen. Diese Entwicklung ist einzigartig und war insb. für Deutschland ein Glücksfall. Doch ist die Rechtsquellenvielfalt eine zentrale Ursache für die Überregulierung und Unverständlichkeit des Rechts. Die großen Kodifikationen des StGB und des BGB haben die Rechtsquellenvielfalt in Deutschland im 19. Jh. in weiten Teilen überwunden, indem regionale Rechtsquellen zugunsten der Gesetzbücher zugeschüttet wurden. Doch können und sollen die Rechtsquellen gegenwärtig nicht reduziert werden. Dies ginge nur zum Preis der historischen Errungenschaft der supranationalen und internationalen Kooperation. Der Kodifikationsgedanke ist daher weiterzuentwickeln, um die rechtsstaatliche Demokratie auf nationaler und übernationaler Ebene zu kräftigen und das Ziel der D. zu erreichen. Die höhere Ebene würde im Zweifel auf Regelungen verzichten (Subsidiarität) und so weit wie möglich keine speziellen Vorgaben setzen, vielmehr rechtliche Grundstrukturen schaffen, die die Staaten befolgen und in eigenen parlamentarischen Entscheidungen ausfüllen könnten. Die Rechtsetzung hat in der heutigen modernen Rechtsquellenvielfalt stets das Zusammenwirken von nationaler und überstaatlicher Ebene bewusst zu halten. Der Blick des Juristen muss gerade in Erfüllung seiner Königsaufgabe – der gelungenen Gesetzgebung, der Kodifikation und damit der D. – zwischen Norm und Wirklichkeit und dabei jeweils zwischen staatlicher und überstaatlicher Ebene hin und her wandern.
Literatur
G. Kirchhof: Gesetz, in: Leitgedanken des Rechts, Bd. 1, 2013, § 32 • G. Kirchhof: Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009 • C. de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, 2003 • D. Mandelkern u. a.: Der Mandelkern-Bericht – auf dem Weg zu besseren Gesetzen, in: BMI (Hg.): Moderner Staat – Moderne Verwaltung, 2002 • G. Radbruch: Rechtsphilosophie, 1999 • I. Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1992 • H. Hofmann: Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck (Hg.): Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987 • C. Starck: Vorwort, in: ders. (Hg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987 • J. Isensee: Mehr Recht durch weniger Gesetze?, in: ZRP 18/5 (1985), 139 • K. Schmidt: Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1985 • A. de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, 1985 • W. Maihofer: Gesetzgebungswissenschaft, in: G. Winkler/B. Schilcher (Hg.): Gesetzgebung, 1980 • I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1974 • F. Kübler: Kodifikation und Demokratie, JZ 24 1969, 645 • H. Kelsen: Allgemeine Staatslehre, 1966 • H. L. A. Hart: The Concept of Law, 1961 • R. v. Jhering: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 81954 • F. C. v. Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 31840.
Empfohlene Zitierweise
G. Kirchhof: Deregulierung, II. Rechtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Deregulierung (abgerufen: 23.11.2024)