Eugenik
E. ist die Lehre von „guten Genen“ der Erbhygiene oder Erbgesundheit. Ihre Strategien sind
a) negativ-präventiv (Fortpflanzungsverbote) oder
b) positiv-gestaltend (die Förderung von Genkombinationen mit erwünschten Merkmalen).
Vor dem Hintergrund von Charles Darwins Evolutionstheorie (Evolution) und Gregor Mendels Theorie der Vererbung von Merkmalen, die beide davon ausgehen, dass sich biologische Arten verändern, war und ist die E. von Anfang an eng mit weltanschaulichem Streit verbunden. Im Kampf um kulturelle und gesellschaftliche Anerkennung ist sie im 19. und 20. Jh. häufig entweder als Heilslehre propagiert und als Ideologie bekämpft worden.
1. Der weitere weltanschauliche Hintergrund: Sozial-Darwinismus und Galtons Intelligenzforschung
Der Begriff der E. geht zurück auf Francis Galton: „Eugenics is the science which deals with all influences that improve and develop the inborn qualities of a race“ (Galton 1904: 82). Züchtungsforschung, Familiengeschichten und eine statistische Betrachtung von Vererbung führten F. Galton zu eher vorsichtigen Aussagen über die Verbesserung von Vitalwerten, Gesundheit und Intelligenz. E. baut auf dem Sozialdarwinismus auf. Herbert Spencer begründet letzteren als Lehre von der Konkurrenz um Ressourcen, die Höherentwicklung garantieren soll. Angeleitet von Thomas Malthus’ Bevölkerungsgesetz (Malthusianismus), demzufolge Zivilisationsentwicklung unausweichlich mit einer Knappheit an Nahrung einhergeht, und C. Darwins Konzeption der Selektion, die sich in dem Bild von der Natur als Züchterin zusammenfassen lässt, macht H. Spencer aus der Selektion eine quasimoralische Instanz, indem er Evolution als eine Art Zuchtmeisterin des menschlichen Charakters und Sozialverhaltens versteht. Der moderne Sozialstaat führe zur Degeneration der Gattung. Daher müsse sich der Mensch als Individuum in seinen Glücksvorstellungen dem Gattungswohl unterwerfen.
2. Rassentheorie, Rassenhygiene, die Idee des Germanentums, völkische Ideologien und das NS-Euthanasie-Programm
Die Begründer der deutschen E. waren Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmayer. Bei A. Ploetz verbindet sich die Gesundheit der Rasse mit sozialdarwinistischem Gedankengut (Sozialdarwinismus): „Rassenhygiene“ zielt darauf ab, die schwachen Nachkommen „auszujäten“ (Ploetz 1895: 143), ebenso aber auch auf Maßnahmen im Sinne der positiven E. Letztere hatten keinen Erfolg, auch nicht in den NS-Bemühungen (Nationalsozialismus) um den „Lebensborn“ als Züchtungsanstalt. Für W. Schallmayer führt die Kultur zur Einschränkung der natürlichen Auslese. Die Medizin schützt Geisteskranke und moderne Kriege sind kein Mittel der Selektion. Gerade die unteren Bevölkerungsschichten pflanzen sich überproportional fort. Ludwig Woltmann hält Inzucht und Hochzucht für Mittel gegen die Degeneration der Bevölkerung und bewertet diese als medizinische Eingriffe. Die germanische Rasse sei durch Mischung bes. gefährdet. Für L. Woltmann gibt es keine angeborenen Menschenrechte, er betont die kulturellen Wertunterschiede. Die Verknüpfung von Sozialdarwinismus und Rassentheorien beginnt mit Arthur Gobineau und seinem Werk „Ursprünge einer weltanschaulichen Rassentheorie“ (1935). Er propagiert die Wertschätzung der Germanen und formuliert den Begriff des Ariers. A. Ploetz versteht „Rassenhygiene“ als „wissenschaftliche“ Weltanschauung (Vogt 1997: 260–306). Die Gründe für die Durchführung des NS-Euthanasieprogramms (Euthanasie) waren eher (kriegs-)ökonomischer als rassenhygienischer Art. Das vorgeschlagene Instrumentarium variierte von Autor zu Autor, es umfasste u. a. erbbiologische Eheberatung, Ehegesundheitszeugnisse, Reproduktionsverzicht, Heiratsverbot, freiwillige oder zwangsweise Sterilisation. Positive E. umfasste gezielte Förderung der Fortpflanzung der als hochwertig Geltenden über ein Spektrum von Maßnahmen wie Steuererleichterungen, Belohnungen bis hin zur zugelassenen Polygynie und zu abenteuerlichen Utopien von Zuchtanstalten. Die Blutgruppenforschung sollte der Königsweg der erbbiologischen Rassenanthropologie sein, er erwies sich jedoch als falsch.
3. Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik, Posthumanismus und Gentherapie als liberale Eugenik heute?
Die Pränataldiagnostik (PND) und Präimplantationsdiagnostik (PID) beinhalten selektive Verfahren, die dem klassischen Schema der E. ähneln, auch wenn sie sich nicht gegen Eltern mit möglicherweise „defekten“ Erbanlagen richtet, sondern gegen bestimmte Formen ihres Nachwuchses. Die PID wird von Eltern durchgeführt, um ein gesundes Kind zu bekommen, nicht um eugenisch zu selektieren. Sie wäre gegen behinderte Kinder gerichtet, wenn die PID für alle verpflichtend wäre. Dann könnte man von einer E. im klassischen Sinne sprechen. Eine allgemeine genetische Verbesserung zur Vermeidung von Krankheiten erscheint nicht generell als unerlaubt. E. wäre dann als eine ethisch unzulässige Instrumentalisierung des Kindes zu werten, wenn Eltern das Kind ausschließlich als technisches Produkt betrachten und seine Perfektion Voraussetzung dafür wäre, dass es geliebt wird. Gentechnisch neu designte Menschen (Humangenetik), die die Grenzen unserer Art sprengen, dürften nicht leicht zu erzeugen sein. Die interessantesten Merkmale für eine solche Transformation werden oft polygen vererbt. Bei Krankheitsvermeidung würde es sich um positive, liberale E. handeln.
Enhancement, die technische Verbesserung normaler Eigenschaften des gesunden Menschen wie insb. Intelligenz (durch Neurochips oder mithilfe von Gentherapie), führt gelegentlich zu Visionen eines Transhumanismus oder von Cyborgs (Mischwesen aus Organismus und Maschine). Vermischt mit Vorstellungen von künstlicher Intelligenz erhält hier altes eugenisches Gedankengut eine neue Fassade. Die molekularbiologische Forschung der letzten 25 Jahre hat aber sehr deutlich gemacht, dass genetischer Determinismus wie Rassentheorien beim Menschen Ideologien (Ideologie) ohne naturwissenschaftliche Basis sind. Epigenetik, also die Erforschung der komplexen Vorgänge bei der Aktivierung genetischer Information, hat Vorstellungen von Vererbung von Merkmalen entscheidend verändert und die Hoffnungen auf Möglichkeiten einer positiven E. stark erschüttert. Zudem können Tötungsmaßnahmen im Sinne der negativen E. aus sittlichen Gründen nicht akzeptiert werden und sind im vorgeburtlichen Bereich zumindest problematisch.
Literatur
B. Irrgang: Posthumanes Menschsein, 2005 • B. Irrgang, Humangenetik auf dem Weg in eine neue Eugenik von unten?, 2002 • J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur; 2001 • M. Vogt: Sozialdarwinismus, 1997 • P. Weingart, J. Groll, K. Bayertz (Hg.): Rasse, Blut und Gene, 21996 • L. Woltmann: Politische Anthropologie, 1936 • A. Gobineau: Die Ungleichheit der Menschenrassen, 1935 • W. Schallmayer: Vererbung und Auslese, 1918 • F. Galton: Art. Eugenics: Its Definition, Scope and Aimes; in: Nature 70/1804 (1904, 82) • A. Ploetz: Grundlinie einer Rassenhygiene. 1. Teil: Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen, 1895 • H. Spencer: A Theory of Population deduced from the General Law of Animal Fertility, in: Westminster Review 57 (1852), 468–501.
Empfohlene Zitierweise
B. Irrgang: Eugenik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Eugenik (abgerufen: 03.12.2024)