Evangelisierung

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Der theologische Begriff „E.“ bezeichnet die bleibende missionarische Aufgabe der Kirche (Katholische Kirche), die christliche Botschaft zu verbreiten. Er ergänzt den operativen Terminus der Mission, der universalen Sendung, mit dem unverwechselbaren Inhalt der E., dem Evangelium von Jesus Christus (Mk 1,1).

Biblischen Ursprungs, leitet sich das Wort von dem griechischen Verb εὐαγγελίζεσθαι (euangelízesthai) ab und bedeutet, das Evangelium, die Frohe Botschaft zu verkünden. Darauf nimmt das NT vielfach Bezug und spricht vom Evangelisieren (Röm 1,15), zumeist mit inhaltlicher Spezifizierung, etwa das Evangelium vom Reich Gottes verkünden (Lk 16,16), den Glauben und die Liebe (1 Thess 3,6) oder das Wort des Herrn (Apg 8,4). Auch die „Antrittspredigt“ Jesu nennt als Sendung des Gesalbten, „die Armen zu evangelisieren“ (Lk 4,18), was sie zu befreien, zu heilen und in Freiheit zu setzen einschließt. Das Verb ist schwer zu übersetzen und wird daher meist, manchmal bis zur Unkenntlichkeit, paraphrasiert.

In der Geschichte der Ausbreitung des Christentums blieb die lateinische Übersetzung „evangelizare“ (Vulgata) zwar erhalten, doch man nutzte andere Begriffe für den Missionsauftrag Jesu, mit dem alle vier Evangelien enden und zugleich einen neuen Anfang setzen (etwa Mt 28,18–20). Die große Variationsbreite, in der das Mittelalter von praedicatio, propagatio, promulgatio, conversio u. a. sprach, wurde in der Frühen Neuzeit vom Neologismus „Mission“ abgelöst, der dem jesuitischen Milieu entstammte und von der römischen Kongregation De propaganda fide übernommen wurde. Der führende Missionstheoretiker des 16. Jh. in Peru, José de Acosta, entfaltete in seinem Handbuch De procuranda Indorum salute (1588) parallel zum Missionsbegriff eine „neue Methode der Evangelisierung“, die auf dem guten Beispiel und der Integrität des Lebens beruht sowie die Kenntnis der jeweiligen Sprachen und Kulturen fordert. Doch erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde E. als Leitwort wiederentdeckt und offiziell dem Missionsbegriff an die Seite gestellt, der durch die Dekolonisation in der Mitte des 20. Jh. kontrovers debattiert wurde. Die protestantische Sprachtradition kennt analoge Begriffe wie „Evangelisation“ oder „evangelism“. Im Prozess der E. sollen die Kirche und die Gläubigen sich durch den gesandten Logos und den Hl. Geist selbst evangelisieren (lassen), um aus dieser Dynamik durch Zeugnis und Wort ad extra zu evangelisieren. Ein entscheidendes Moment in der longue durée und der andauernden Ausbreitung des Christentums besteht in dieser Dialektik der Selbst(-E.) und der E. „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,6).

Das Konzil greift v. a. im Dekret über die Missionstätigkeit das Leitwort der E. auf und betont, dass die ganze Kirche missionarisch und das „Werk der Evangelisierung“ eine grundlegende Pflicht des Volkes Gottes sei (AG 35). Ziel der missionarischen Tätigkeit ist „die Evangelisierung und die Einpflanzung der Kirche in den Völkern bzw. Gruppen, in denen sie noch nicht verwurzelt ist“ (AG 6). Die dogmatische Konstitution über die Kirche bestimmt die E. als „die sowohl durch das Zeugnis des Lebens als auch durch das Wort vorgebrachte Botschaft Christi“ in den gewöhnlichen Verhältnissen der Welt (LG 35). Auch die Laien üben aufgrund der Teilnahme am dreifachen Amt Christi ein Apostolat aus, das auf personaler und struktureller Ebene zum Ausdruck kommt, nämlich durch „die Evangelisierung und Heiligung der Menschen“ und für „die Erfüllung und Vervollkommnung der Ordnung der zeitlichen Dinge mit evangelischem Geist“ (Apostolicam actuositatem 2).

Das „Gesetz jeder Evangelisierung“, das die Pastoralkonstitution betont, besteht darin, dass die Verkündigung des geoffenbarten Wortes „angepasst“ sein müsse, damit jedes Volk auf seine Weise die Botschaft Christi aussagen könne und der Austausch zwischen Kirche und Kulturen der Völker gefördert werde (GS 44). Das Konzil führt mithin ein kontextuelles E.s-Verständnis ein, das später als Inkulturation oder Interkulturalität nachhaltige Wirkung entfaltet hat. Nachkonziliar änderte die Propaganda fide, das für die Mission zuständige römische Dikasterium, seinen Namen in Kongregation für die E. der Völker (pro gentium evangelizatione, seit 1967). Normativ ging dieses Verständnis auch in den CIC/1983 ein (can. 781–792).

In der Linie des Konzils implementierte Paul VI. mit dem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi (1975) das E.s-Paradigma und brachte es auf die Formel der „ecclesia semper evangelizanda“ (EN 15). Der Akzent liegt auf einem fünfstufigen Prozess vom nonverbalen Zeugnis des gelebten Glaubens und der ausdrücklichen Verkündigung zur Zustimmung des Herzens und zum Eintritt in die kirchliche Gemeinschaft bis zum Echtheitstest der letzten Stufe, der Weitergabe des Glaubens (EN 21–24) an potentiell alle Menschen. Dabei wird E. eng verbunden mit menschlicher Entfaltung im Sinn von Entwicklung und Befreiung (EN 30 f.).

An der neuen Leitkategorie E. orientierten sich in der Folgezeit zahlreiche Ortskirchen. So thematisierte der lateinamerikanische Episkopat in Puebla (1979) die Fragen der E. auf dem Subkontinent und sprach von einer „befreienden Evangelisierung“ (Puebla 487). Hier wie in Santo Domingo (1992) und Aparecida (2007) gewinnt die Förderung des Menschen (promoción humana) an Bedeutung für eine integrale E.; damit rücken zugleich Themen wie Menschenrechte, Verarmung, Arbeit, Ökologie, Mobilität, Demokratie, Wirtschaftsordnung, Familie und Lebensschutz in den Blick.

Die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hatten ebenfalls Anteil an der Entwicklung des Schlüsselbegriffs der E., insb. der „Neu-Evangelisierung“ So hob die Missionsenzyklika Redemptoris missio (1990) eine dreigliedrige Typologie der Adressaten hervor, welche die Mission ad gentes, die Seelsorgetätigkeit der Kirche und die „neue Evangelisierung“ in Ländern mit alter christlicher, aber verlorener Tradition unterschied („Redemptoris missio“ 33). Im Anschluss daran maß Papst Benedikt XVI. dem Thema der Neu-E. eine solche Bedeutung bei, dass er einen neuen Päpstlichen Rat zur Förderung der Neu-E. einrichtete, in dem die säkularisierten Gegenden Europa, beide Amerikas und Australien, nicht aber die Kontinente Afrika und Asien vertreten sind. Papst Franziskus verknüpft im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) E. mit missionarischer Umgestaltung und Kirchenreform. Wie seine Vorgänger unterscheidet er drei konzentrisch geordnete Dimensionen: 1) die gewöhnliche Seelsorge unter Gläubigen; 2) die Sorge für Getaufte, doch Abständige; 3) die Zuwendung zu allen, die Christus nicht kennen oder ablehnen. Dabei betont er „die soziale Dimension der E.“, bis hin zur Eingliederung der Armen (EG 176.186). Damit hat die Weltkirche durch die Leitkategorie der E. ein neues Profil ihres Missionsverständnisses gewonnen.