Kirche und Welt

Version vom 16. Dezember 2022, 06:09 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Kirche und Welt)
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Dass das Begriffspaar „Kirche (K.) und Welt (W.)“ für die theologische Selbstverständigung der katholischen Kirche wichtig ist, zeigt sich bereits daran, dass das wirkmächtigste Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, „Gaudium et spes“ (GS), beide Begriffe im Titel führt: „Über die Kirche in der Welt von heute“. Allerdings sind beide Wortbestandteile von „K. und W.“ uneindeutig, deswegen ist aber auch die theologische Bedeutung des Begriffspaars unsicher.

1. Die Welten der Kirche

In dem Topos „K. und W.“ wird „W.“ als eine Ganzheit angesprochen und in eine dualistische Konzeption eingeordnet. Theologisch sinnvoll ist dies in Bezug auf die Transzendenz des im Christentum bekannten Gottes. Gott steht in einem Gegenüber zu der von ihm gewollten W. („Schöpfung“); die W. besteht als Gesamtheit aller Sachverhalte und Ereignisse, die dem einen und einzigen Gott gegenüberstehen. Zugleich wird dieses Gegenüber aufgebrochen, indem Gottes Nähe zu den Menschen erhofft und auf seine Anwesenheit in ihrer W. gesetzt wird. Mit seinem Heil „ist“ Gott inmitten der W. der Menschen – so sehr, dass er als das Heil geglaubt wird, das in der W. anbricht und sich als „Ende dieser W.“ vollenden wird.

Die an diesen Gott glaubenden Menschen gehören zur W. als Gesamtheit der Sachverhalte und Ereignisse, die Gott gegenüberstehen. Zugl. „wissen“ sie mit der ihrem Glauben eigenen Gewissheit, dass Gott diese W. so sehr will, dass das von ihm kommende Heil bereits angebrochen ist und immer wieder anbricht. Als Glaubende bestimmen sie sich als diejenigen, die in dieser von Gott mit seinem Heil adressierten W. auf dieses Heil hin leben. Für Glaubende kann „W.“ daher eine zweifache Bedeutung haben: Erstens als Gesamtheit dessen, was sie in ihrer Bezugnahme auf Gott als dessen Gegenüber integrieren können, und zweitens als das Gesamt der Orte und Zeiten von Gottes Immanenz bzw. seines anbrechenden Heils. In diesen beiden Bedeutungen ist die W. ihnen, wenngleich immer nur in Ausschnitten, Umwelt – und damit auch die Umwelt für ihre Bezugnahme auf Gott; und sie ist ihnen die Lebenswelt ihres Glaubens, insofern sie nicht anders als in der Gott gegenüber stehenden W. glauben können.

Ihren Glauben finden Christen in den christlichen Traditionen vor, die ihnen zumeist über die Gemeinschaft der Glaubenden und deren Institutionen, die diese Traditionen über die Zeiten hinweg tragen, zugänglich werden. Zudem (er)leben sie ihren Glauben maßgeblich in dieser Gemeinschaft. In diesem Sinn bilden ihre Glaubensgemeinschaft und deren Institutionen, also K., eine bes. „soziale W.“, nämlich die aus ihren sozialen Beziehungen und Praxisformen bestehende W. ihres gemeinsamen Glaubens.

Die Vorstellung von K. als der „sozialen W.“ christlichen Glaubens und als Teil der Gott gegenüberstehenden W. ist eine neuzeitliche Vorstellung. Sie setzt die Säkularisierung dieser W. und deren Ausdifferenzierung voraus: Die vormals „eine“ W. differenzierte sich aus und besteht nunmehr als Gesamtheit von Teilen. Ein Großteil dessen, was vormals als W. angesprochen wurde, wurde zur Gesellschaft, die selbst wiederum eine Gesamtheit verschiedener Bereiche umfasst. Die „soziale W.“ der Glaubenden wurde zu einem Teil der Gesellschaft – und dabei in einem in der Geschichte des Christentums bis dahin unbekannten Maß zu (allerdings konfessionell getrennten) K.n („Verkirchlichung des Christentums“ [Kaufmann 1979: 100]). Viele Sachverhalte, die mit dem Topos „K. und W“ angesprochen werden, können daher theologisch präziser unter dem Stichwort „Kirche und Gesellschaft“ bzw. „Christentum und Gesellschaft“ besprochen werden.

Allerdings geht das mit „W.“ gemeinte nicht vollständig im Begriff „Gesellschaft“ auf; deshalb hat der Begriff „W.“ in der christlichen Theologie Bestand. Als Reflex auf die angesprochene Differenzierung sollte jedoch die einheitliche Vorstellung von W. aufgebrochen werden: Was von Gott her als Gesamtheit gedacht werden kann, ist aus der Perspektive aller, die selbst in diesem Gegenüber stehen, damit auch für die Glaubenden und für ihre K., keine solche Ganzheit. Für sie ist die Gott gegenüberstehende W. eine Vielfalt ausdifferenzierter W.en, die niemand als Ganzheit erfährt und die auch theologisch allenfalls auf dem Wege schlechter Abstraktion als Ganzheit gedacht werden kann.

2. Die Kirche inmitten ihrer Welten

Wird K. als „soziale W.“ der Glaubenden ausgewiesen, ist deren institutionelles Gefüge, inklusive Ämter und Ordnungen, mitgemeint. Sie ist Teil der Gott gegenüberstehenden W. – und somit K. „in der W.“ . Diese Bestimmung wird im kirchlichen und theologischen Sprechen häufig dadurch relativiert, dass sie zwar „in der W.“, nicht aber „von dieser W.“ sei; zumindest für den ausgewiesenen K.n-Begriff kann dieser Gegensatz nicht plausibilisiert werden. Der Bezugstext für entsprechende Aussagen, Joh 17,11.14, lässt sich jeweils für das entfaltete Verständnis von W. nicht auslegen – und daher auch nicht sinnvoll auf die K. beziehen. Theologisch ist wohl zu sagen: Alles Heil, das in der W. „passiert“, und damit auch das in der K. erfahrbare Heil, kommt von Gott – und es „passiert“ in der W., wenn es denn für die Menschen tatsächlich „passiert“.

Als „soziale W.“ der Glaubenden ist die K. Sakrament von Gottes Heil in dieser W. (LG 1). In dem Maße wie Glaubende in ihrer K. ihren gemeinsamen Glauben an Gott und sein anbrechendes Heil vollziehen und darin zur Gemeinschaft werden, ist sie Zeichen dieses Heils. Sie ist es so sehr, dass sie nicht nur für die Glaubenden, die ihr angehören, sondern auch in den sie umgebenden W.en, in denen sie Resonanz finden kann, etwas von dem Heil „ist“, auf das sie hinweist („Sakrament“). Zugleich nimmt die K. Bezug auf das auch außerhalb ihrer selbst anbrechende Heil – im Modus der praktischen Antizipation: Sie nimmt Anteil daran, dass Gottes Heil in die W. „kommt“, und wirkt dazu heilsam in den für sie jeweils erreichbaren W.en.

Mit dem Topos „K. und W.“ wird eine Grenze zwischen K. und W. gesetzt, wobei die Konjunktion „und“ diese sogleich durchbricht. Damit spiegelt der Topos die Ausdifferenzierung der die K. umgebenden W.en und die Integration der K. in die sich ausdifferenzierende W. Im Zuge dieses Ausdifferenzierungsprozesses bildeten sich bes. symbolische Praxisformen christlich-kollektiver Religiosität aus und mit ihr auch die K. als der Bereich „in der W.“, in dem diese besonderen Praxisformen sinnvoll sind. In ihn hat sich die religiöse Sprache und haben sich die für diese Sprache typischen Überzeugungen und Einstellungen zurückgezogen, vor deren Hintergrund Glaubende untereinander kommunizieren und gemeinsame Praxisformen vollziehen können. So fremd die in der K. beheimaten Praxisformen in allen anderen W.en sind, so fremd sind wiederum manche dort beheimatete Praxisformen in der K. So setzen unterschiedliche Praxisformen untereinander Grenzen und schaffen unterschiedliche W.en; und die Akteure, die diese Praxisformen vollziehen, vollziehen zugleich die damit vorgesehenen Grenzen und wissen zumeist, in welcher ihrer „sozialen W.en“ sie gerade handeln.

Nicht nur in konservativen Theologien wird die durch soziale Praxis hergestellte Differenz der K. zu den sie umgebenden W.en evaluativ begriffen. Etwa mit der von Papst Benedikt XVI. der deutschen K. empfohlenen „Entweltlichung“ (Papst Benedikt 2011: 148) wird dann K. und W. gegensätzlich bewertet und werden positive Sachverhalte, z. B. Gottes Heil oder „Wahrheit“, für die K. monopolisiert. Wer jedoch mit Gottes Anwesenheit in der ihm gegenüberstehenden W. rechnet, wird die diese W. ausmachenden Sachverhalte und Gegenstände, all die verschiedenen W.en, nicht apriorisch als heillos oder weniger heilsam als die K. verdächtigen. Auf der Folie der christlichen Heilshoffnung wird man nach Orten und Zeiten Ausschau halten, in und zu denen Gottes Heil verweigert oder missachtet wird und deshalb für die jeweils betroffenen Menschen keine erfahrbare Wirklichkeit werden kann. Diese Orte und Zeiten wird man in allen W.en finden – und auch in der K. Als Sakrament von Gottes Heil ist der K. kein anderes Heil eigen als jenes, das in den sie umgebenden W.en von Gott her anzubrechen sucht. Bei all den Besonderheiten der sie ausmachenden symbolischen Praxisformen „hat“ die K. kein besonderes Heil, das nicht gleichermaßen allen Menschen und – mehr noch – allen Geschöpfen in den von ihr erreichbaren W.en gilt.

Deshalb hat das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution GS ein dialogisches Modell für die Beziehung der K. zu ihren W.en vorgesehen: Im „gegenseitigen Dialog“ (GS 40) hat nicht nur die K. den von ihr erreichbaren W.en etwas zu sagen, sondern auch diese W.en der K. (GS 3; 44). Theologisch begründet wird diese dialogische Beziehung der K. zur W. damit, dass sich Gott nicht nur mit den Glaubenden, sondern „[…] in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“ (GS 22) hat und folglich die Gnade Gottes in den Herzen aller „Menschen guten Willens […] unsichtbar wirkt“ (GS 22). Vermutlich ist aber auch dieses Bild vom „gegenseitigen Dialog“ nicht sonderlich belastbar, um die Beziehung der K. zu den sie umgebenden W.en zu begreifen. „Dialog“ unterstellt zwei miteinander in Kommunikation stehende Akteure. Diesen Status „hat“ aber weder die K. als „soziale W.“ der Glaubenden, noch „haben“ ihn die die K. umgebenden W.en.

3. „Weltauftrag“ der Glaubenden – und die ihrer Kirche

Subjekte des Glaubens sind primär die Glaubenden selbst. So fällt der dem Glauben innewohnende „W.-Auftrag“ zunächst einmal ihnen zu – und nur davon abgeleitet auch ihrer K. Glauben findet nicht nur in Praxisformen kirchlicher Religiosität statt, weswegen die K. für Glaubende nicht der ausschließliche Ort ihres Glaubens ist. In allen W.en, in denen sie sich aufhalten, können sie in ihrem Glauben an Gott und sein anbrechendes Heil herausgefordert werden und dieser Herausforderung zu entsprechen suchen, indem sie dafür Sorge tragen, dass sich die jeweilige Situation in Richtung auf das von Gott her kommende Heil verändert. Der sich in solcher Glaubenspraxis ausdrückende „W.-Auftrag“ ist immer konkret und situativ; er betrifft niemals die W. als das – theologisch gedachte – Gott gegenüberstehende Ganze.

Aus ihren unterschiedlichen W.en bringen Glaubende ihre Glaubenspraxis in ihre K. und tragen sie in die dort möglichen Praxisformen und Interaktionen ein. So werden die der K. äußerlichen W.en innerhalb der K. durch die Glaubenden repräsentiert und kommen dort vor; „innen“ wird verarbeitet, wie Glaubende die situativen Herausforderungen ihres Glaubens bewältigen und so ihrem W.-Auftrag „außerhalb“ entsprechen. Als Inhalte der die K. ausmachenden symbolischen Praxis werden der K. die ihr äußerlichen W.en zu inneren Gegenständen. Dadurch werden ihre Grenzen zu diesen W.en durchlässig. Dies gilt allerdings nur in dem Maße, in dem sinnvolle Interaktionen über Sachverhalte und Tatbestände außerhalb der K. innerhalb der K. möglich und resonanzfähig sind – und sich die K. nicht in einer Weise „entweltlicht“ hat, sodass äußerliche Sachverhalte und Ereignisse nicht mehr zu Inhalten sinnvoller Interaktionen innerhalb der K. werden können.

V. a. über die Brisanz der jeweiligen Herausforderungen, möglicherweise auch durch Anfragen und Erwartungen von außen, wird sich der dem Glauben eigene „W.-Auftrag“ derart kollektivieren, dass er von der K. und d. h. durch kirchliche Akteure, Organisationen und Institutionen, mitunter auch durch kirchliche Amtsträger wahrgenommen wird. Auf unterschiedliche Weise, etwa in kirchlicher Sozialarbeit oder in öffentlichen Stellungnahmen, wird dann „die K.“ gegenüber den für sie umgebenden W.en, z. B. in der Zivilgesellschaft, aktiv. In diesem Engagement sollen die kirchlichen Akteure sowohl die innere Pluralität der K. als auch das vorgängige Engagement der Glaubenden widerspiegeln. So sollen auch die von kirchlichen Akteuren eingenommenen Positionen „im Namen der K.“ immer auch einen Widerhall davon geben, dass sie innerhalb der K. nicht unbestritten und daher nicht die einhellige Position der in der K. vergemeinschafteten Glaubenden sind.

4. „Zeichen der Zeit“

Zur Wahrnehmung ihres „W.-Auftrags“ muss sich die K. auf die Herausforderungen in den sie umgebenden W.en verständigen. Dazu hat sich das Zweite Vatikanische Konzil in GS die Hermeneutik der „Zeichen der Zeit“ (GS 4) auferlegt: Als „Zeichen der Zeit“ werden Sachverhalte und Tatbestände „außerhalb“ der K. referiert, die als typisch für die „W. von heute“ und als relevant für deren weitere Entwicklung gelten können. Diese Sachverhalte und Tatbestände sollen mit den sprachlichen und theoretischen Mitteln erkundet werden, die „außerhalb“ der K. und auch „außerhalb“ der Reflexionsform des christlichen Glaubens, also der Theologie, für die Analyse und Erklärung dieser Wirklichkeiten verfügbar sind. Diese Forderung begründet sich zunächst einmal analytisch, da man nur auf diesem Wege hinreichend viel von den W.en erfährt, deren Erkundung sich die K. vorgenommen hat. Diese Vorgehensweise begründet sich auch pragmatisch: Die Auszeichnung von „Zeichen der Zeit“ soll für die davon betroffenen Menschen auch dann verständlich werden, wenn ihnen der christliche Glaube fremd und dessen bes. Sprache ohne Bedeutung bleibt.

Die „Zeichen der Zeit“ nimmt sich die K. laut GS als Fragen vor, auf die sie im Vollzug des gemeinsamen Glaubens und deshalb im „Lichte des Evangeliums“ (GS 4) Antworten finden muss. Diese können erstens darin liegen, dass in Auslegung der kirchlichen Traditionen Orientierungen etwa zur Überwindung oder Bewältigung von Verwerfungen und Problemen in den für die K. zugänglichen W.en gegeben werden. Möglicherweise wird die K. dazu auch eigene Dienste, etwa kirchliche Sozialarbeit oder Konflikt- und Vermittlungsarbeit, „anbieten“. Die K. kann zweitens den „Eigensinn“ von Entwicklungen in den ihr äußerlichen W.en anerkennen, diesen in die Überzeugungen und Einstellungen des christlichen Glaubens einweben – und so diese Entwicklungen kirchlicherseits unterstützen. Sie kann drittens entsprechende Sachverhalte und Ereignisse in den für sie erreichbaren W.en als Spuren von Gottes Heil dechiffrieren, mit diesen sympathisieren und diese für sich und damit für die „soziale W.“ der Glaubenden adaptieren – und so ihr „Wissen“ von dem sich in der W. mitteilenden Heil Gottes („Offenbarung“) erweitern.