Opportunismus
1. Begriff und Begriffszusammenhänge
Aus dem Lateinischen stammend, meint opportunus „günstig gelegen, brauchbar, geeignet, dienlich, gewandt“. Eine „Opportunität“ ist – im Deutschen seit dem 17. Jh. – eine passende Gelegenheit. Wer eine solche routinemäßig, auch entgegen geltenden Spielregeln und ungeachtet übler Konsequenzen für andere zum eigenen Vorteil nutzt, praktiziert O. Negativ besetzte Nachbarbegriffe sind Gesinnungslosigkeit oder Prinzipienlosigkeit. Positiv verstanden, lässt sich auch von einem mehr oder weniger bedingungslosen Pragmatismus sprechen.
In wirtschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen ist der Kern von O. das rationale, strategische Ausgehen auf eigenen Nutzen. Falls die Umstände derlei nahelegen, kann dieses auch mit raschen, von einer Orientierung an Werten oder Normen wenig behinderten Verhaltensanpassungen verbunden sein. Dazu gehören Vertragsuntreue, Zurückhalten von Informationen, Arglist und Betrug.
In politischen Zusammenhängen klingt O. nach Karrierismus und Konformismus, nach „faulen Kompromissen“, nach wahltaktischem Mäandern, auch nach populistischer Lust an Demagogie. Bei Niccolò Machiavelli gehört die Fähigkeit, eine sich bietende occasione zu ergreifen, zur virtù eines Politikers. Dieser nutzt dann gleichsam ein sich öffnendes „Fenster der Möglichkeit“ in einer ansonsten von funktionslogischer necessità geprägten Handlungswirklichkeit – und braucht dann nur noch fortuna, um als staatsmännischer Könner hohes Ansehen zu genießen. Gegenbegriffe zum O. sind Prinzipienfestigkeit, Unnachgiebigkeit, Unbeugsamkeit oder Intransigenz.
2. Zur Theorie des Opportunismus
Im O. kreuzen sich zwei Rationalitäten. Einesteils ist es das Verlangen, durch flexible Anpassung an die jeweils vorgegebene – wenngleich sich wandelnde – Umwelt sowie unter Schonung eigener Ressourcen vorteilssichernd zu agieren. Dann können Lernen und O. nahtlos ineinander übergehen. Andernteils gibt es Handlungsimperative zugunsten kulturell hochgeschätzter Werte wie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Charakterstärke, gegen die man sich oft nur zum eigenen Nachteil vergehen kann. Ihnen in den Augen von anderen gerecht zu werden, ist dann ebenfalls rational. Dass beide Rationalitäten einander in die Quere kommen können, macht opportunistisches Verhalten grundsätzlich riskant sowie Heuchelei zu seinem Begleiter. Umgekehrt ist umsichtiger O. höchst plausibel, sofern die nahegelegten Verhaltensmodifikationen nicht mit Prestigeeinbußen einhergehen – etwa deshalb, weil opportunistisches Verhalten, wie nach der Aufrichtung einer Diktatur, ohnehin zum zeittypischen Massenphänomen geworden ist.
Detaillierte Analysen von O. und sinnvoller Reaktionen darauf finden sich in den Wirtschaftswissenschaften, v. a. in der Neuen Institutionenökonomik und insb. im Bereich der Transaktionskostentheorie sowie der Agenturtheorie (Prinzipal-Agent-Theorie). Letztere reicht weit in den Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft hinein und ist in ihrer Ausprägung als Delegationstheorie zu einem wichtigen Analyseinstrument von Repräsentationsbeziehungen (Repräsentation) geworden. Ausgangspunkt ist die Modellannahme vom homo oeconomicus, der klar auf eigene Interessen ausgeht. Zum O. führen dann leicht die natürlichen oder gewollt herbeigeführten Informationsasymmetrien zwischen „Prinzipalen“ (etwa Kunden oder Bürgern) sowie ihren „Agenten“ (etwa Dienstleistern oder Abgeordneten). Bei ungleicher Informationslage können nämlich Agenten ihren Wissensvorsprung zum eigenen Vorteil nutzen, während Prinzipalen im Vorhinein nur Vertrauen, aber erst im Nachhinein eine – fachlich meist eng beschränkte – Kontrolle möglich ist. Umgekehrt können Prinzipale auch ganz zu Unrecht mit den Leistungen ihrer Agenten unzufrieden sein oder aus anderen Gründen jene Gegenleistungen verweigern, die von diesen erwartet werden.
Faktisch regeln implizite oder formelle Verträge die Beziehungen zwischen Prinzipalen und Agenten. Durch O. werden diese Verträge gebrochen, gleich ob seitens von Prinzipalen oder von Agenten. Müsste man mit keinerlei O. rechnen, ließe sich alles Miteinander umstandslos durch informelle oder formelle Regeln prägen. Da aber O. recht oft auftritt, empfiehlt es sich, von Anfang an in Kooperationsbeziehungen Absicherungen einzubauen, etwa „glaubhafte Zusicherungen“, Kontrollverfahren und Sanktionsmöglichkeiten. Dies alles erhöht dann aber die materiellen und psychischen Transaktionskosten in einer auf Arbeitsteilung zwischen Prinzipalen und Agenten angewiesenen Gesellschaft.
3. Opportunismusprävention
Um diese Kosten dennoch möglichst gering zu halten, wurden Institutionen geschaffen, deren Zweck es ist, von praktiziertem O. abzuschrecken. Bes. wichtig ist die Strafgerichtsbarkeit samt General- und Spezialprävention. In Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag wird diese Institution sogar ins Transzendente verlängert. Es brauche ein Staat nämlich unbedingt eine Zivilreligion mit mindestens drei Glaubensinhalten: Es gibt einen „Gott“; es gibt ein „Leben nach dem Tod“; und an dessen Beginn steht ein „Strafgericht“ über das zuvor geführte irdische Leben, im Anschluss woran für einst praktizierte, wenn auch verhohlene, Regelverstöße zu „büßen“ ist.
Im Vorfeld all dessen können auf das Unterlassen von O. solche Anreizsysteme hinwirken, die einen persönlich erstrebenswerten Bonus wie „Reputation“ oder „persönliche Ehre“ in Aussicht stellen. Außerdem kann eine Persönlichkeitsbildung opportunismuspräventiv wirken, die sich an der klassischen Tugendlehre orientiert: als Leitschnur Gerechtigkeit, selbst unter Inkaufnahme eigener Nachteile; Tapferkeit beim Ertragen jener Außenseiterrolle, in die man bei allgemein verbreitetem O. leicht gerät; Mäßigung beim Denken, Reden und Verhalten, wodurch die Versuchung zum O. sinkt; sowie Klugheit beim Handeln, welche von vornherein jene Situationen meiden lässt, in denen O. wirklich zum Rationalitätsgebot würde.
Literatur
D. Gerbaulet: Der Unternehmer als Reputator, 2016 • J. Helbig: Der Opportunist, 2015 • C. Schneider: Politischer Opportunismus und Haushaltsdefizite in den westdeutschen Bundesländern, in: PVS 48/2 (2007), 221–242 • K. Strøm: Delegation and Accountability in Parliamentary Democracies, in: EJPR 37/3 (2000), 261–289 • S. F. Franke: Opportunismus als Form politischer Rationalität der öffentlichen Verwaltung, in: E. Boettcher/P. Herder-Dorneich/K.-E. Schenk (Hg.): Jb. für neue politische Ökonomie, Bd. 8, 1989, 158–171 • E. Anderson: Transaction costs as determinants of opportunism in integrated and independent sales forces, in: Journal of Economic Behavior & Organization 9/3 (1988), 247–264.
Empfohlene Zitierweise
W. Patzelt: Opportunismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Opportunismus (abgerufen: 03.12.2024)