Praktische Urteilskraft

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Obwohl eine sittlich qualifizierte Praxis von vielen unterschiedlichen Bedingungen abhängt, nimmt das Nachdenken über seine spezifisch kognitiven Voraussetzungen innerhalb der abendländischen Moralphilosophie (Moral) nicht nur traditionell einen bes. breiten Raum ein, es hat auch zu wichtigen Differenzierungen im Verständnis praktischer Vernunft geführt. Neben dem bis in die Antike zurückreichenden Begriff der Klugheit ist dabei v. a. die Kategorie der U. von besonderer systematischer Bedeutung. Während der allgemeine Begriff des „Urteilsvermögens“ bzw. der „urtheilenskraft“ ab dem 17. Jh. in der deutschsprachigen Literatur auftaucht, ist der spezifische Ausdruck der „p.n U.“ als eines distinkten kognitiven Vermögens der angemessenen Beurteilung moralischer Gegenstände eng mit dem Werk Immanuel Kants verbunden. Da die angemessene Interpretation der in moralischen Urteilen erhobenen Geltungsansprüche (Geltung) jedoch ebenso umstritten ist wie die ihrer epistemologischen Prämissen, ontologischen Implikationen und motivationalen Konsequenzen, steht auch der Begriff der U. bis heute im Schnittpunkt verschiedener (meta-)ethischer Kontroversen.

1. Kantischer Hintergrund

Ungeachtet des Umstandes, dass sich die „Moral als Einheitsband von Kants gesamtem kritischen Werk“ (Höffe 2008: 352) begreifen lässt, sind bzgl. des Begriffs der U. doch zwei unterschiedliche Motivstränge voneinander zu unterscheiden: Der eine hier zu vernachlässigende Motivstrang gründet in der traditionellen Geschmackslehre und führt von Christian Thomasius’ Deutung des Geschmacksbegriffs als „Beurtheilungskrafft“ (Thomasius 2002: § 54) bis hin zu I. Kants dritter Kritik von 1790, die sich u. a. auf das Schöne und Erhabene bezieht und eine Theorie ästhetischer Urteile enthält. Der andere Motivstrang ist ausdrücklich moralischer Natur und bezieht sich auf zwei einander ergänzende Themen, die jedoch auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Das basalere Problem, das I. Kant schon in der Vorrede der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1785 benennt, resultiert aus dem Anspruch der Moralphilosophie, dem Menschen als vernünftigen Wesen „Gesetze a priori“ zu geben, „die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfordern, um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen, da dieser, als selbst mit so viel Neigung affiziert, der Idee einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Leben in concreto wirksam werden zu machen“ (Kant 1911: 389). In der „Kritik der praktischen Vernunft“ von 1788 hat I. Kant dieses Vermittlungsproblem zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen noch näher entfaltet. Da „das sittlich-Gute“ I. Kant zufolge „etwas dem Objekte nach Übersinnliches [ist], für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann“, scheint die U. „unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft […] daher besonderen Schwierigkeiten unterworfen zu sein, die darauf beruhen, daß ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen, als Begebenheiten, die in der Sinnenwelt geschehen, und also so fern zur Natur gehören, angewandt werden soll“ (Kant 1913: 68). I. Kant versucht dieses Problem durch seine Typus-Lehre zu lösen, indem er den „Verstand“ als ein vermittelndes Erkenntnisvermögen einführt, welches „einer Idee der Vernunft nicht ein Schema der Sinnlichkeit, sondern ein Gesetz, aber doch ein solches, das an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urteilskraft unterlegen kann“ (Kant 1913: 69). Die p. U. leistet die Prüf- und Vermittlungsarbeit also durch die Anwendung der Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs. „Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest“ (Kant 1913: 69). Besteht die Maxime einer Handlung diesen Verallgemeinerungstest nicht, so ist sie sittlich unmöglich. Mit dieser Typik der U. ist es I. Kant zufolge möglich, die praktische Vernunft vor allem verderblichem „Empirism“ und „Mystizism“ zu bewahren und einen „Rationalism“ aufrechtzuerhalten, „der von der sinnlichen Natur nichts weiter nimmt, als was auch reine Vernunft für sich denken kann, d. i. die Gesetzmäßigkeit, und in die übersinnliche nichts hineinträgt, als was umgekehrt sich durch Handlungen in der Sinnenwelt nach der formalen Regel eines Naturgesetzes überhaupt wirklich darstellen läßt“ (Kant 1913: 71).

Das zweite für I. Kants Deutung der U. relevante Thema betrifft sein Verständnis des Gewissens (Gewissen, Gewissensfreiheit), das er im § 4 der Religionsschrift als „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft“ definiert. Während es Aufgabe der subjektiv-praktischen Vernunft sei, die Handlungen als Kasus, die unter dem Gesetz stehen, zu richten, bestehe die Funktion des Gewissens darin, dass sich die Vernunft hier selbst richtet, „ob sie auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit der aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe“ (Kant 1907: 186). Das aber bedeutet, dass der Begriff der p.n U. bei I. Kant auf zwei unterschiedlichen Ebenen auftaucht: auf der ersten Ebene als spezifisches Vernunft- bzw. Verstandesvermögen (Vernunft – Verstand), das eine einzelne konkrete Handlung unter eine moralische Regel subsumiert, und auf der zweiten Ebene als U. zweiter Stufe als reflexives Vermögen der kritischen Selbstbefragung, das überprüft, ob die auf der ersten Ebene durchgeführte Subsumtion auch wirklich in der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt worden ist.

2. Ausblick

In der zeitgenössischen ethischen Diskussion stellen sich mit Blick auf die U. vor allem folgende Herausforderungen: Erstens ist zu klären, wie sich die verschiedenen von der Tradition unterschiedenen kognitiven Einzelvermögen in eine kohärente Theorie praktischer Vernunft integrieren lassen. Zweitens ist zwischen Kognitivisten und Nonkognitivisten umstritten, wie der mit moralischen Urteilen verknüpfte Anspruch auf Wahrheit und Objektivität zu deuten und argumentativ einzulösen ist. Drittens ist angesichts der Kontroverse zwischen Prinzipienethikern und Partikularisten die Rolle von allgemeinen Normen und Prinzipien für die Handlungsorientierung zu klären. Und viertens ist näher zu bestimmen, welches genaue Verhältnis zwischen moralischen Einzelurteilen und individueller Handlungsmotivation besteht.