Sozialdarwinismus

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S. ist eine sich auf die Gesetze der Evolution berufende Gesellschaftstheorie und -praxis, deren zentrales Motiv die Auffassung des Zusammenlebens als Daseinskampf bildet. Daraus wird unmittelbar die normative Vorstellung abgeleitet, dass sich um des allgemeinen Wohles willen nur die „Tüchtigsten“ durchsetzen sollen. Der viktorianische Sozialphilosoph Herbert Spencer hat bereits vor dem Erscheinen der Werke Charles Darwins eine Gesellschaftstheorie entwickelt, die man als „S. vor C. Darwin“ bezeichnen könnte. Schon in seinem 1851 erschienenen Werk „Social Statics“ entwickelt H. Spencer den selektionistischen Grundgedanken der Höherentwicklung durch Eliminierung der Schwachen als gesellschaftspolitisches Leitkonzept.

In dem Aufsatz „A Theory of Population, Deduced From the General Law of Animal Fertility“ (Spencer 1852) legt H. Spencer dar, dass die Knappheit an Nahrungsmitteln einen positiven Effekt auf die Entwicklung der menschlichen Rasse haben müsse, da dies bes. kulturelle Anstrengungen stimuliere und so die jeweils Besten zum Überleben ausgewählt würden. In diesem Aufsatz prägte er die sozialdarwinistischen Leitbegriffe struggle for existence und survival of the fittest. Letzteren übernahm C. Darwin erst 17 Jahre später in der fünften Auflage seines zuerst 1859 erschienenen Hauptwerkes „On the Origin of Species“. Der S. ist nicht eine nachträgliche Anwendung der biologischen Evolutionstheorie auf die Gesellschaft sondern in seinen Ursprüngen eine dieser vorausgehende und durch die Autorität der empirischen Forschungen C. Darwins verstärkte Sozialtheorie.

1. Sozialdarwinismus auf der Grundlage evolutionärer Fortschrittstheorien

Grundlegend für den S. ist die Interpretation der Gesellschaft als „Naturtatsache“, d. h. als ein System sozialer Beziehungen, das sich spontan aus dem biologisch grundgelegten Bedürfnisstreben (Bedürfnis) der Individuen entwickelt und über vielfältige Anpassungsmechanismen zu einer dynamischen Sozialordnung integriert wird. Die Ethik wird bei H. Spencer und seinen Nachfolgern nicht mehr primär unter dem Gesichtspunkt der inneren Entscheidung des Einzelnen betrachtet, sondern unter dem der von Konkurrenz und „arbeitsteiliger“ Symbiose bestimmten Anpassung an die gesellige Existenz des Menschen. Als Programmschrift des S. gilt die Publikation „The Struggle for Existence. A Programm“ von Thomas Huxley (1888), der als weltanschaulicher und politischer Vorkämpfer der Evolutionstheorie in England auch „Bulldogge Darwins“ genannt wurde. Seine stärkste politische Wirkung hat der S. jedoch zunächst in den USA in einer Symbiose von Wirtschaftsliberalismus und religiös-calvinistischem Fortschrittsoptimismus (Fortschritt) gezeigt.

Während die Evolutionstheorie in den USA weitgehend durch Geistliche mit calvinistischem Hintergrund (Calvinismus) verbreitet wurde (Asa Gray, John Fiske, James McCosh, Henry Drummond u. a.), verband sie sich in Deutschland mit einem aggressiv-antikirchlichen Tenor, der maßgeblich durch Ernst Haeckel bestimmt wurde. Der evolutionäre Monismus von E. Haeckel ist antimetaphysisch geprägt und versucht programmatisch auch die Ethik monokausal aus biologischen Prämissen abzuleiten. E. Haeckel propagiert einen „aristokratischen“ S., womit er das Naturgesetz einer Bevorzugung der Stärkeren und Besseren meint. Die sozialdarwinistisch-evolutionäre Ethik und die biologistische Weltsicht E. Haeckels stellen einen tiefen Bruch mit der humanitären Tradition dar.

2. Der rassenbiologische Sozialdarwinismus

Neben den an evolutionäre Fortschrittstheorien anknüpfenden Formen des S. kann man einen zweiten Grundtyp unterscheiden: die von rassenbiologischen Verfallstheorien beeinflussten, eher kollektivistisch und staatsautoritär ausgerichteten Interpretationen der Evolutionstheorie. Diese gehen davon aus, dass der aufgrund der kulturellen Begrenzung des Daseinskampfes drohende Verfall der biologischen Konstitution des Menschen nur durch staatliche Intervention zu verhindern sei. Selbst so anerkannte Forscher wie August Weissmann haben darwinistische Ideen relativ naiv auf den Bereich der Zivilisation übertragen: „Weissmann hielt nichts von den Segnungen der modernen Medizin, da er meinte, sie laufe der natürlichen Selektion zuwider: So erachtete er es beispielsweise als der Selektion zuwiderlaufend und daher als problematisch, dass sich Personen mit beeinträchtigtem Sehvermögen aufgrund der Verordnung von Brillen genauso gut vermehren konnten wie Sehtüchtige“ (Bauer 2008: 26).

Charakteristisch für den rassenbiologischen S. ist der Rückgriff auf vordarwinistische Kategorien (typologischer Rassenbegriff von Arthur de Gobineau, romantische Organontheorie und der damit verbundene normative Gemeinschaftsbegriff). Indem die Rasse als die zentrale Einheit des Daseinskampfes verstanden wird, setzt sich eine kollektivistische Umdeutung des Kampfmotivs durch. Der mit der Rassentheorie (Rassismus) verbundene S. gehört zu den grundlegenden und richtungsbestimmenden Konstanten in Adolf Hitlers Denken, der eine Wurzel seiner ideologischen Zielstrebigkeit und seines metaphysischen Sendungsbewusstseins darstellt (Nationalsozialismus).

Unter verändertem Namen und in neuem Gewand finden Elemente des sozialdarwinistischen Denkens auch heute Zuspruch. Dies zeigt sich bspw. im Erfolg der Soziobiologie, die das sozialdarwinistische Deutungsmuster des Fortschritts durch Daseinskampf auf der Basis genetischer Theorien in radikaler Weise ausweitet und konsequent auch auf das menschliche Verhalten anwendet. Der bekannteste Vertreter des soziobiologischen S. ist Richard Dawkins. Basierend auf seiner Idee vom egoistischen Gen zeichnet er ein Bild von Tieren wie von Menschen als „Überlebensmaschinen“ zur maximalen Verbreitung der sie steuernden Gene (Dawkins 1978: 55). Solche auf die maximale Reproduktion ihrer selbst ausgerichteten Agenten bilden für R. Dawkins auch die Basis seiner Erklärung von Kultur. Dort bezeichnet er die Replikatoren als „Meme“ (Dawkins 1978: 223). Wie Gene, so stünden menschliche Gedanken, Ideen und kulturelle Schöpfungen im durch Selektion gesteuerten Kampf um die Vorherrschaft.