Targeted Killing

Version vom 16. Dezember 2022, 06:12 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Targeted Killing)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Unter „T. K.s“ werden heute zumeist gezielte Tötungen von Personen verstanden, die von den Autoritäten eines Staates als für diesen Staat und dessen Bürger gefährlich angesehen werden. Dabei sind es Mitarbeiter staatlicher Einrichtungen, die die Tötungshandlungen ausführen. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jh. sind gezielte Tötungen zu einem bevorzugten Mittel internationaler Terrorismusbekämpfung geworden, obwohl die Diskussion über ihre rechtliche und moralische Zulässigkeit nach wie vor kontrovers geführt wird. Zu T. K. wird in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gearbeitet, u. a. in den Sozial- und Geschichtswissenschaften, der Völkerrechtswissenschaft und der Ethik.

1. Definition

Die in der völkerrechtlichen Diskussion übliche Begriffsbestimmung hält an fünf Definitionsmerkmalen fest:

a) Der Gebrauch von tödlicher Gewalt,

b) das Ziel des Tötens,

c) das Anvisieren individuell ausgewählter Personen,

d) der Umstand, dass die angezielten Personen nicht in Gewahrsam des Angreifers sind, und

e) der Umstand, dass die Handlung des gezielten Tötens einem Völkerrechtssubjekt zugeschrieben werden kann.

Dass von den angezielten Personen eine unmittelbare Bedrohung ausgeht, ist nicht Bestandteil der Definition des T. K.s. Häufig wird synonym von extra-judicial killing, assassination oder named killing gesprochen. Diese Begriffsbestimmung kann auch in den anderen mit T. K.s beschäftigten Disziplinen zugrunde gelegt werden.

2. Historisch

Das gezielte Töten individueller Personen aus anderen politischen Gemeinschaften zum Zweck der Sicherung der eigenen hat eine lange Geschichte. Als biblische Beispiele nennt Werner Wolbert Judith (Jdt 13,8) und Ehud (Ri 3,20 f.), aber die Initiative ging in beiden Fällen gewissermaßen von Privatpersonen, nicht von öffentlichen Autoritäten, aus. Die gezielte Verfolgung der palästinensischen Attentäter von München 1972 durch den israelischen Geheimdienst Mossad erfüllt die Definitionsmerkmale des T. K.s, ist jedoch vermutlich eher als vergeltende Bestrafungsaktion zu bewerten denn als Schutzmaßnahme. Als weitere Beispiele gelten die Tötung des tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew durch russische Laserlenkraketen am 21.4.1996 oder die von Scheich Ahmad Yasin, eines führenden Begründers der Hamas, am 22.3.2004 in Gaza. Die größte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erlangte die Tötung von Osama bin Laden am 2.5.2011 durch ein Spezialkommando der amerikanischen Navy Seals.

Bestimmte technologische Fortentwicklungen wie Lenkflugkörper und bewaffnungsfähige Drohnen begünstigten die Praxis des gezielten Tötens von namentlich gesuchten Personen, da mit diesen Mitteln verhältnismäßig einfach in das Staatsgebiet eines anderen Landes eingedrungen werden kann und der Anwender der tödlichen Gewalt etwaiger Gegengewalt entzogen ist.

3. Sozial- und politikwissenschaftlich

Es ist umstritten, ob gezielte Tötungen wirksame Handlungen zur Abwehr von terroristischen Bedrohungen (Terrorismus) darstellen oder darstellen können. Die sozialwissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit (effectiveness) von T. K.s ist mit zahlreichen methodischen Problemen konfrontiert, u. a. dem Umstand, dass die Zahl der untersuchbaren Vorfälle gering ist und daher Verallgemeinerungen problematisch sind, sowie auch, dass das Ziel, an dem sich die Wirksamkeit messen lassen müsste, nämlich verbesserte „Sicherheit“ oder gar ein „Sieg über den Terrorismus“ operational schwer bestimmbar ist. Zudem kann die Wirksamkeit von einzelnen Handlungen in der Geschichte immer nur beurteilt werden, indem dieser Geschichte kontrafaktische Verläufe entgegengestellt werden. Des Weiteren wird zu bedenken gegeben, dass T. K.s genau die Personen töten könnten, die zu einem künftigen Friedensschluss notwendig wären. Es findet sich auch die Position, dass es gerade Akte von (versuchten) T. K.s sind, die den terroristischen Gruppen neuen Zuwachs verleihen (backlash). Selbst wenn ein einzelnes T. K. erfolgreich wäre, könnte sich eine T. K.-Politik in der Summe nachteilig auswirken. In Bezug auf diesen backlash wäre noch feiner zu unterscheiden, ob es die Akte als solche sind, die zur Neurekrutierung in terroristischen Gruppen führen, oder ob es die angenommene Illegalität oder Illegitimität von T. K.s ist, die Personen zur Teilnahme an terroristischen Handlungen motiviert. Nicht zuletzt deshalb kommt der rechtlichen und ethischen Beurteilung eine große Rolle zu.

4. Völkerrechtlich

Trotz der Debatte im Völkerrecht und seiner innerhalb dieser erarbeiteten Definition ist „T. K.“ als solches kein Rechtsbegriff und sagt nicht aus, ob die durch ihn beschriebene Praxis legal oder rechtlich verboten ist. Im Völkerrecht muss nach wie vor zwischen dem Töten in Friedenszeiten und dem Töten im bewaffneten Konflikt unterschieden werden. In Friedenszeiten muss sich staatliches Tötungshandeln an den menschenrechtlichen (Menschenrechte) Vorgaben messen lassen, lediglich in bewaffneten Konflikten tritt das humanitäre Völkerrecht als lex specialis hinzu.

4.1 Menschenrechtlicher Schutz vor willkürlicher Tötung

Art. 6 IPbpR konstatiert, dass jedem Menschen ein „angeborenes Recht auf Leben“ zukommt und niemand „willkürlich“ seines Lebens beraubt werden darf (vgl. auch Art. 3 AEMR; Art. 2 EMRK). Das vorsätzliche Töten einer Person durch staatliche Kräfte zur Verteidigung einer anderen Person vor unrechtmäßiger Gewalt unterliegt daher strengsten Bedingungen; so muss insb. die Bedrohung unmittelbar sein, d. h. der unrechtmäßige Angreifer benötigt keine weiteren Schritte mehr zu unternehmen, um die angedrohte schädigende, insb. tötende, Handlung, vorzunehmen. T. K. unterliegt hier im Grunde den gleichen Standards wie der sogenannte finale Rettungsschuss, der in den Polizeigesetzen der meisten Bundesländer rechtlich ermöglicht ist. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen unterhalb der Schwelle des bewaffneten Konflikts ist T. K. also nur in extremen Ausnahmefällen rechtlich zulässig.

4.2 Töten im bewaffneten Konflikt

Kombattanten dürfen gemäß dem humanitären Völkerrecht während eines bewaffneten Konflikts an den Feindseligkeiten teilnehmen, was zum einen bedeutet, dass sie ihrerseits legitime Ziele des Gegners (straffrei) angreifen können („Kombattantenprivileg“), was zum anderen aber auch heißt, dass sie jederzeit während des bewaffneten Konflikts durch Kombattanten des Gegners rechtmäßig angegriffen werden dürfen. In internationalen bewaffneten Konflikten können also auf gegnerische Kombattanten gerichtete T. K.s rechtmäßig sein. Dabei kann sogar ein nicht-exzessiver Kollateralschaden nach Art. 51 Nr. 5 b ZP I (Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte) in Kauf genommen werden. – In den asymmetrischen militärischen Konflikten der Gegenwart sind aber häufig keine Kombattanten i. S. der Mitglieder der Streitkräfte einer staatlichen Konfliktpartei das Ziel von T. K.s, sondern Personen, die je nach politischer Zielsetzung als „Aufständische“, „Terroristen“ oder auch „Freiheits-“ oder „Gelegenheitskämpfer“ bezeichnet werden. Diese Konflikte sind rechtlich zumeist als nicht-internationale bewaffnete Konflikte zu qualifizieren. Die Mehrheitsmeinung im Völkerrecht sieht Mitglieder von (irregulären) bewaffneten Gruppen, die sich in nicht-internationalen Konflikten gegen die staatliche Regierung erheben, als Zivilisten an, die allerdings keinen Schutz als Zivilisten genießen, „unless and for such time as they take a direct part in hostilities“ (Art. 51 Nr. 3 ZP I). Die nach den Ereignissen vom 11.9.2001 eingebrachte alternative Auffassung, solche Personen als „illegale Kombattanten“ zu deklarieren, denen zwar das Kombattantenprivileg fehlt, die aber dennoch jederzeit während des bewaffneten Konflikts angegriffen werden dürfen, hat sich nicht durchgesetzt. Die Auslegung dieser Konditionalklausel hat daher in der Diskussion um die rechtliche Zulässigkeit von T. K.s bes. Bedeutung erlangt. Wenn die Formulierung wörtlich genommen würde, könnten solche sich direkt beteiligenden Zivilisten nur angegriffen werden, während sie selbst einen Angriff führen („funktionaler Ansatz“). Um die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts zu sichern, hat aber selbst das IKRK zugestanden, dass eine „ständige Kampffunktion“ in einem bewaffneten Arm einer militanten Gruppe ausreichen kann, um Angriffe auf diese Personen zu rechtfertigen („Mitgliedschaftsansatz“). Der Oberste Gerichtshof Israels hat für selbst im bewaffneten Konflikt vorgenommene T. K.s eine unabhängige Untersuchung nach jedem Tötungsakt vorgeschrieben – eine Anforderung, die aus dem Menschenrechtsschutzregime stammt.

4.3 Verletzung von staatlicher Souveränität

T. K.s, die durch Kräfte eines Staates auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates durchgeführt werden, verletzen die staatliche Souveränität dieses Staates, wenn sie nicht mit dessen Zustimmung erfolgt sind. Unter Umständen liegt in solchen Fällen ein Verstoß gegen das Gewaltverbot nach der UN-Charta (Art. 2 Abs. 4) vor. Umstritten ist, inwieweit „schweigende Zustimmung“ angenommen werden kann – insb. dann, wenn die Regierung eines betroffenen Staates von dem Staat, der die T. K.s durchführt, wirtschaftlich oder politisch abhängig ist. Problematisch ist zudem, dass viele T. K.s nicht vom Militär, sondern von den Geheimdiensten (Nachrichtendienste) durchgeführt werden.

5. Philosophisch-ethisch

Die angewandt-ethische Debatte um die Erlaubtheit von gezielten Tötungen kann aus der rechtlichen Diskussion zahlreiche hilfreiche Unterscheidungen und Kriterien übernehmen. Allerdings wird in philosophisch-ethischen Überlegungen eine normative Trennung nach Friedens- und Kriegszeiten zunehmend in Frage gestellt (Krieg).

a) Aus der Sicht des Individualismus ist Gewalt im bewaffneten Konflikt zwar aufgrund seiner konkreten Ausmaße anders zu behandeln als Gewalt zwischen Privatpersonen, nicht aber hinsichtlich der grundsätzlichen Prinzipien, die Gewalt in bestimmten Fällen rechtfertigen können. Unter der Voraussetzung, dass strafende Gewalt nie so weit gehen darf, der verurteilten Person das Leben zu nehmen (Todesstrafe), kann lediglich verteidigende Gewalt einen Rechtfertigungsgrund für gezieltes Töten liefern, wobei diese sowohl als Selbstverteidigung (Notwehr) als auch als Fremdverteidigung (Nothilfe) vorkommen kann. Das bedrohte Gut muss dabei das Leben oder die körperliche Integrität von moralisch unschuldigen Personen sein. Unter der Bedingung der „weiten“ Verhältnismäßigkeit kann auch ein gewisser Schaden an unbeteiligten Personen hinnehmbar sein („Kollateralschaden“). Die Rechtfertigungsfähigkeit von Verteidigungshandlungen mit tödlichem Ausgang hängt insb. davon ab, ob die tödlich wirkende Gewalt nötig ist zur effektiven Abwehr der Bedrohung; jedoch bezeichnet das Notwendigkeitskriterium genau genommen selbst ein Verhältnismäßigkeitsprinzip, denn man kann größere oder geringere Risiken in der Abwehr von Bedrohungen auf sich nehmen. Verteidigung mit tödlicher Gewalt kann auch nur gegenüber unmittelbaren Bedrohungen gerechtfertigt sein, da andernfalls mildere Mittel (Versuch der Gefangennahme) in Frage kommen könnten. Insofern als T. K.s häufig Personen betreffen, die allenfalls eine mittel- oder langfristige Bedrohung für andere darstellen, sind sie ethisch nicht haltbar. Ein besonderes moralphilosophisches Problem stellt die Frage dar, ob es selbst in einer unmittelbaren Verteidigungshandlung legitim sein kann, intentional auf den Tod des Angreifers abzuzielen, da der Tod als solcher für die Abwehr der Bedrohung niemals notwendig ist, aber u. U. in Kauf genommen werden muss.

b) Autoren, die nach wie vor die normativ wirksame Trennung von Kriegs- und Friedenszeiten akzeptieren, sind bereit, T. K.s im Rahmen einer Logik des Krieges als legitimes Mittel hinzunehmen oder fordern ein ius ad vim ein, das Gewalt politischer Akteure unterhalb der Schwelle zum Krieg rechtfertigen soll.