Kollektivwissenschaft
1. Verortung
Menschliche Kollektivität ist Gegenstand der im Entstehen begriffenen K. Sie ergänzt die Disziplinen Kulturwissenschaft (Ethnologie, Cultural Studies) und Soziologie. Die K. stößt zu den Grundlagen des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv vor. Das Thema „kollektive Intentionalität“ teilt sie sich mit der analytischen Philosophie. Letztlich bestehen Verbindungen zu allen Sozial- und Geisteswissenschaften, insofern jede Disziplin auf Gruppierungen trifft, ohne sich immer mit ihnen theoretisch zu beschäftigen.
2. Kollektive Homogenität
Übereinstimmungen zwischen Individuen, sogenannte partiale Gemeinsamkeiten, bilden das Grundelement der Kollektivität. Jeder Mensch hat eine Vielzahl von Eigenschaften und Handlungsvorlieben, die er mit unterschiedlichen Mitmenschen teilt. Solche Gemeinsamkeiten lassen sich abstrahieren und als Abstraktions- oder Basiskollektive betrachten (Kaffeetrinker, Tennisspieler). Da sie immer nur einen Bruchteil des Individuums erfassen, bestehen Basiskollektive nicht aus Personen (Entindividualisierung), sondern aus übereinstimmenden, die Träger verbindenden Merkmalen. Kommt zur Gemeinsamkeit die Kollektivkomponente Kontakt hinzu, ergibt sich ein Sozialkollektiv. Kontakt setzt seinerseits eine Gemeinsamkeit voraus, mindestens nämlich die raum/zeitliche Gegenwart konkreter Individuen. Sozialkollektive können unbeabsichtigt, flüchtig und die sich ergebenden zwischenmenschlichen Verbindungen zufällig sein, oder beabsichtigt und stabil wie z. B. in einem Freundeskreis. Tritt als dritte Kollektivkomponente eine Hülle hinzu, lässt sich von einem Vollkollektiv sprechen. Eine Hülle liegt vor, wenn das Kollektiv sich informell oder formell selbst reguliert. Sie kann einerseits die zwischenmenschlichen Verbindungen stärken, andererseits die individuelle Autonomie einschränken, indem sie Verpflichtungen auferlegt. Sie dürfte zudem eine Voraussetzung dafür sein, dass Kollektive Handlungsfähigkeit erlangen.
3. Kollektive Heterogenität
Kollektivität besteht nicht nur aus Gemeinsamkeiten und Verbindungen, sondern auch aus sichtbaren oder unsichtbaren Trennungen bzw. Segmentierungen. Dieses Phänomen ist der Multikollektivität des Individuums geschuldet. Jedes Individuum gehört einer Vielzahl von Kollektiven an. Je nach Zeit und Ort ruhen die Zugehörigkeiten, d. h. sie sind latent, können aber jederzeit aktiviert und virulent werden. Wenn der evangelische Bäcker Tennis spielt, ist die Tennisclub-Mitgliedschaft aktiviert, wenn er den Gottesdienst besucht die Religionszugehörigkeit. Die jeweils ruhenden Kollektivmitgliedschaften befinden sich nach Art eines „Stand-by“ in einem präkollektiven Status, der sich situativ zum kollektiven wandelt (z. B. wird der Bäcker von seinem Tennispartner auf seinen Beruf angesprochen). Sozial- und Vollkollektive sind daher stets latent segmentiert: Kollektive fassen Kollektive in sich. Diese Umfassungen bzw. Segmentierungen existieren auf unterschiedlichen Grundlagen. Zu unterscheiden sind präkollektive von kollektiven Segmentierungen, wobei letztere sichtbar und gewollt sind. Organisationen und Verbände bestehen aus umgrenzten Einzelabteilungen, die auf ein gemeinsames Interesse hin zugeschnitten wurden. Dieser Zuschnitt der Segmente ist bei Dachkollektiven (z. B. Nationalgesellschaften) nur sehr beschränkt gegeben. Sie bestehen aus unterschiedlichen und rivalisierenden Kollektiven, deren Zusammenleben sie als Verwaltungsinstanzen zu regeln versuchen. Für diesen Höhepunkt an heterogener Segmentierung steht der Begriff Polykollektivität.
4. Kollektivität als Balance von Homo- und Heterogenität
Alle Sozialwissenschaften bemühen sich um den Gegensatz von heterogener Pluralität und homogener Einheit. Die traditionelle Soziologie bemühte sich, ihn durch die als homogenes Ganzes gedachte Gesellschaft zu überwinden. Egal wie unterschiedlich Gruppierungen waren und in wie viele heterogene Kategorien sie aufgeteilt wurden (Klassen, Schichten, Professionen, Religion), im Konzept Gesellschaft fanden sie zusammen. Die traditionelle Kulturwissenschaft operierte mit einem Kulturbegriff, der die Unterschiedlichkeit der Kulturen und die Problemanfälligkeit interkultureller Kommunikation betont. Aus dieser Überbetonung des Fremden resultierte ein Kulturrelativismus, der anthropologische, universelle Vorstellungen globaler Entwicklung von Zivilisation schwerlich denkbar macht. Dieses rigide Erbe haben beide Disziplinen zugunsten einer Vielzahl von Neuerungen aufgegeben, die aber nebeneinander stehen bleiben und zu keiner theoretischen Einheit finden.
Demgegenüber versucht die K. schon vom Ansatz her Hetero- und Homogenität begrifflich als Miteinander zu denken. Sie beginnt mit der Idee einer allumfassenden Aufteilung in kleine und kleinste Kollektive, die partiell miteinander verwoben oder verklammert sind. Diese scheinbar chaotische Pluralität weist jedoch Ordnungsstrukturen auf, Verschachtelungen und Homogenitätsbrücken. Die heterogenisierende Multikollektivität der Individuen hat eine Kehrseite: Durch sie werden alle Gruppierungen kreuz und quer miteinander verbunden. (Der evangelische, CSU wählende Bäcker spielt Tennis gegen den katholischen, mit der SPD sympathisierenden Metzger. Die virulente Gemeinsamkeit „Tennisspieler“ verknüpft auch die latenten Merkmale, die Teile der individuellen Identität sind.) Aufgrund der Multikollektivität wirkt die Segmentierung sowohl ein- als auch ausgrenzend. Das gilt insb. in Dachkollektiven. Einerseits gehört ein kollektives Segment zum Kollektiv, andererseits weist es Differenzen zu anderen Segmenten auf. Der mir abgrundtief fremde „Neonazi“ teilt mit mir Gemeinsamkeiten wie Sprache und Staatsangehörigkeit. Beides unterscheidet mich womöglich von einer Geflüchteten, die aber wie ich Ärztin und Jazzfan ist. Als Mitglied identischer Kollektive treffe ich sowohl auf unliebsame als auch auf geschätzte, auf fremde und vertraute menschliche Merkmale.
5. Methodische Vorzüge
Neben dieser Flexibilität im Bereich der Sozialtheorie liegt eine Stärke der K. in dem von ihr offerierten Begriffsinstrumentarium, das in der praktischen Forschung Anwendung findet. Es zielt weniger auf Idealtypen bzw. Typologien (wie teilweise noch die Gruppensoziologie), sondern präsentiert eine Liste von Virulenzbedingungen und deren mögliche Auswirkungen. Bei der Analyse von konkreten Kollektiven (Unternehmen, Flashmobs, anonyme Internetforen) hilft sie, Bedingungen zu erfragen und ihnen Auswirkungen zuzuordnen. Ein Begriffsinstrumentarium, das sich den Feinheiten des Sozialen widmet, wird der Vielfalt der Konstitutionsmöglichkeiten von Kollektivität gerechter als typologische Methoden.
Literatur
K. P. Hansen: Das Paradigma Kollektiv: Neue Einsichten in Vergesellschaftung und das Wesen des Sozialen, Bd. 7, 2022 •
K. P. Hansen: Die Balance von Integration und Individualität, in: ZKKW 3/1 (2017), 9–28 • Ders.: Kultur und Kulturwissenschaft, 42011 • Ders.: Kultur, Kollektiv, Nation, 2009 • H. B. Schmid/D. P. Schweikard (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, 2009.
Zeitschrift:
ZKKW 2015 ff.
Empfohlene Zitierweise
K. Hansen, J. Marschelke: Kollektivwissenschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kollektivwissenschaft (abgerufen: 23.11.2024)