Multilateralismus

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1. Begriffserläuterung

M. bezeichnet eine Form der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die zur gemeinsamen Problemlösung und der Vermittlung bei Interessenskonflikten dient. Einer rein formalistischen Minimaldefinition folgend bedeutet M. die diplomatische Koordination zwischen drei oder mehr Staaten. Im Gegensatz dazu werden Kooperationen und Verträge, die zwischen zwei Staaten geschlossen werden, als Bilateralismus bezeichnet und einzelstaatliches Vorgehen als Unilateralismus. Daneben wird M. auch als regelbasierte Zusammenarbeit verstanden. Laut dieser qualitativen Definition gibt sich die Staatengemeinschaft selbst bestimmte Prinzipien und Normen für diese Kooperation (Ruggie 1992). In den letzten Jahrzehnten wurde M. oftmals mit liberalen Werten, insb. dem Schutz der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, gleichgesetzt. Dieses Verständnis eines liberalen M. führte dazu, dass dieses Konzept häufig umstritten ist und von einigen Staaten oder gesellschaftlichen Akteuren, die sich mit diesen Werten nicht identifizieren, abgelehnt wird (Maull 2020).

2. Die Institutionalisierung des Multilateralismus

M. kann verschiedene institutionelle Formen annehmen. Vor dem 20. Jh. fand multilaterale Zusammenarbeit zumeist im Rahmen von kleineren regionalen, funktionalen Zusammenschlüssen statt, wie z. B. der im Jahr 1815 gegründeten Zentralkommission für die Rheinschifffahrt. Mit der Gründung des Völkerbunds, der Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen, wurde multilaterale Kooperation im Jahr 1920 zum ersten Mal global institutionalisiert. Die Tatsache, dass der Völkerbund überwiegend als gescheiterte Organisation in die Geschichte multilateraler Kooperation eingegangen ist, überschattet manch wichtige seiner Erfolge. Einige Institutionen des Völkerbunds sind bis heute aktiv, darunter die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO), der Ständige Internationale Gerichtshof (heute: ICJ) und die Gesundheitsorganisation (heute: WHO).

Nach 1945 ist ein dichtes Geflecht an globalen und regionalen Institutionen entstanden (Abbott/ Snidal 1998). Diese fördern multilaterale Kooperation auf verschiedene Weise. Auf der einen Seite stehen formale internationale Organisationen, die sowohl global handeln als auch regional begrenzte Mitgliedschaften bieten. Formale Organisationen werden meist durch einen offiziellen Vertrag von mindestens drei Staaten gegründet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl ein dauerhaftes Sekretariat besitzen als auch ein oder mehrere Gremien, in denen die Mitgliedstaaten in regelmäßigen Abständen zusammenkommen und gemeinsame Beschlüsse fassen. Die größten internationalen Organisationen sind in zahlreichen Politikfeldern zugleich tätig. Die UN nehmen hierbei als globale Organisation mit universeller Mitgliedschaft eine konkurrenzlose Sonderstellung ein. Andere globale Organisationen fokussieren sich auf die Förderung multilateraler Kooperation in einzelnen Politikbereichen, wie die Weltbank im Bereich Entwicklung, der IWF im Bereich Finanzen und die WTO im Bereich Freihandel.

Neben ihrem Mandat und der Reichweite ihrer Mitgliedschaft unterscheiden sich formale internationale Organisationen hinsichtlich ihrer Autorität (d. h. ihrer Fähigkeit für die Mitgliedstaaten rechtlich bindende Entscheidungen zu treffen) und der Entscheidungsbefugnis ihrer Mitglieder (Lenz 2017). Abgesehen von einzelnen Gremien wie dem UN-Sicherheitsrat und dem Streitschlichtungsmechanismus der WTO sind Entscheidungen vieler internationaler Organisationen rechtlich nicht bindend, sondern von der Umsetzung durch Mitgliedstaaten abhängige Empfehlungen. Die Entscheidungsbefugnis der Mitgliedstaaten variiert ebenfalls sehr stark je nach Organisation. Während in manchen Organisationen die Zustimmung aller Mitgliedstaaten bei allen Entscheidungen notwendig ist (etwa in der NATO), sind in anderen einfache oder qualifizierte Mehrheitsentscheidungen ausreichend (etwa in der UN-Generalversammlung). Streitschlichtungsgremien oder internationale Gerichte wiederum treffen Entscheidungen unabhängig von ihren jeweiligen Mitgliedstaaten.

Parallel zu formalen Organisationen haben informelle Institutionen für die multilaterale Koordination an Bedeutung gewonnen. Diese „club-förmigen“ Institutionen sind im Vergleich zu formalen, globalen Institutionen weniger inklusiv, auch wenn ihre Entscheidungen oftmals Auswirkungen für die größere Staatengemeinschaft haben. Die G7 (zeitweise mit Russland G8) sowie die G20 sind zwei informelle multilaterale Gremien, die insb. im Bereich globaler Finanzentscheidungen eine wichtige Rolle spielen.

Bei beiden Formen der Institutionalisierung des Multilateralismus, formell und informell, sind Staaten die zentralen Akteure. Dies liegt auch daran, dass nur Staaten Verträge i. S. d. Völkerrechts (Völkerrechtliche Verträge) abschließen und damit formale internationale Organisationen gründen können. Einzelne Vorreiterstaaten sind besonders wichtig, denn auch wenn der langfristige Ertrag der multilateralen Zusammenarbeit die beteiligten Staaten für ihre Kosten entschädigen sollte, sind nicht alle bereit oder in der Lage, diese zu tragen. Im 20. Jh. waren die USA die zentrale, den liberalen Multilateralismus und die multilateralen Institutionen der globalen Nachkriegsordnung prägende Kraft. Auf regionaler Ebene sind es einzelne gleichgesinnte Staaten, die multilaterale Kooperation vorantreiben. Auch kleinere Staaten schließen sich häufig zusammen, um sich durch multilaterale Koordination eine bessere internationale Machtposition zu verschaffen. Infolge der Konferenz im indischen Bandung im Jahr 1955, initiiert u. a. durch Indonesien und Indien, formierte sich die „Blockfreienbewegung“, in der sich bis zu 120 Staaten gegen die alten Kolonialmächte und die beiden Großmächte im Ost-West-Konflikt zusammenschlossen. Einige dieser „blockfreien“ Staaten gründeten außerdem die G77, die heute 134 Staaten des Globalen Südens umfasst und deren gemeinsame wirtschafts- und entwicklungspolitischen Interessen innerhalb der UN vertritt.

3. Herausforderungen und Krisen

Insb. die Ausweitung des Einflussbereichs internationaler Organisationen ruft zunehmend Widerstand hervor (Zürn 2018; Hirschmann 2020). Diese Zunahme an Autorität führt zwar zu einer größeren durchschnittlichen Effektivität internationaler Organisationen, wird aber von einzelnen Staaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren auch kritisch gesehen: Die einen sehen ihre nationalen Interessen missachtet, während andere die mangelnde demokratische Legitimierung dieser Institutionen beanstanden. Dieser Widerstand äußert sich in stärkerer gesellschaftlicher Politisierung (Seibel 2015; Zürn & Ecker-Ehrhardt 2013; Zürn et al. 2012). Auch Austritte aus internationalen Organisationen sind keineswegs ein neues Phänomen, wenngleich hierbei eine Vielzahl an Gründen ursächlich ist (Borzyskowski & Vabulas 2019). Andere Staaten wiederum gründen neue Institutionen, wenn sie mit dem bestehenden multilateralen institutionellen Regelwerk unzufrieden sind (Morse & Keohane 2014). Der zunehmende Widerstand gegen die Zunahme internationaler Autorität deutet darauf hin, dass die Regeln und Institutionen des M. einem ständigen Aushandlungsprozess unterliegen.

Eine grundlegende institutionelle Schwäche des M. zeigt sich am Vetorecht der ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat. Nach der Erfahrung mit dem Völkerbund war dieses Vetorecht ursprünglich ein notwendiges Zugeständnis an die Großmächte, um deren Mitwirken am UN-System zu garantieren. Gleichzeitig blockiert dieses Vetorecht heute häufig multilaterales Handeln in Konflikten, weil es von den ständigen Mitgliedern für Einzelinteressen genutzt wird und die Institution daran hindert, in humanitären Krisen effektiv zu handeln. Eine grundlegende Reform des Vetorechts ist jedoch zu umstritten, um in naher Zukunft umgesetzt zu werden. Auch die Abhängigkeit zahlreicher Institutionen vom multilateralen Engagement der USA wurde in den letzten Jahren zu einem grundlegenden Problem, insb. wenn US-Regierungen auf der Verfolgung von Eigeninteressen außerhalb dieser Institutionen bestehen oder sich vom M. zurückziehen. Das ambivalente Verhältnis zwischen multilateralem Engagement und nationalstaatlichen Interessen der USA ist ein Weckruf, dass M. kein Automatismus ist, sondern auch in Zukunft aktiver Förderung bedarf.

Unbestritten ist, dass institutionelle Reformen der bestehenden multilateralen Institutionen dringend notwendig sind (Brühl 2019). Einerseits sind internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen mit einem sehr hohen Erwartungsdruck konfrontiert, dem sie aufgrund institutioneller Schwächen bei der Finanzierung und angesichts der Entscheidungskompetenzen ihrer Mitgliedstaaten kaum gerecht werden können. Andererseits hat die zunehmende Komplexität globaler Problemlagen dazu geführt, dass Institutionen ihre Mandate auch ohne Zustimmung ihrer Mitgliedstaaten ausweiten und dabei auch Kompetenzen überschreiten. Beides zusammen, mangelnde Effektivität und Legitimitätsdefizite, hat dazu geführt, dass multilaterale Institutionen stark kritisiert werden. Diese Kritik wird von Autokratien, aber auch von populistischen Regierungen (Populismus) und Parteien in Demokratien, immer wieder instrumentalisiert. Sie konstruieren einen Gegensatz zwischen nationalstaatlicher Souveränität und M., indem sie behaupten, dass erstere nur durch eine Abkehr von multilateraler Kooperation zu stärken sei. In der neu gegründeten „Gruppe der Freunde zur Verteidigung der Charta der Vereinten Nationen“ setzen sich deshalb einige dieser Staaten für eine Rückkehr zum klassischen, formalistischen M. ein, in Abgrenzung zu prinzipienbasierten, inklusiveren Formen.

Darüber hinaus zeigt der Blick auf Global Governance die Grenzen des Konzepts des M. als Kooperation allein von Staaten (Eilstrup-Sangiovanni & Westerwinter 2022). Der Einfluss von Bewegungen der Zivilgesellschaft, internationalen Bürokratien und der Sekretariate von internationalen Organisationen selbst auf die Förderung, Institutionalisierung und Überwachung multilateraler Normen ist nämlich nicht zu unterschätzen (Carazannis & Weiss 2021). Im Bereich des Klimaschutzes spielen bspw. substaatliche Akteure eine wichtige Rolle (Klimawandel). Im Netzwerk „C40“ haben sich Städte auf allen Kontinenten zusammengeschlossen, die zusammen 25% des weltweiten Bruttonationalprodukts auf sich vereinen, um durch gemeinsame Politiken und das Teilen von wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken. Im Bereich der Menschenrechte haben sich Abgeordnete aus nationalen Parlamenten im Netzwerk „Parlamentarier für globales Handeln“ zusammengeschlossen, um sich in Kampagnen für Rechtstaatlichkeit, Demokratisierung und Menschenrechtsschutz gegenseitig zu unterstützen. In der globalen Gesundheitspolitik schließlich sind philanthropische Organisationen und öffentlich-private Partnerschaften wie etwa die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung und die Impfallianz GAVI wichtige Akteure bei der Förderung von Impfstoffentwicklung oder der Entwicklung neuer Techniken zum Gesundheitsschutz in Ländern des Globalen Südens. Auch wenn noch unklar ist, inwieweit sich die bestehenden multilateralen Institutionen diesen neuen Formen und Akteuren öffnen werden, zeigen diese Beispiele deutlich, dass ein rein staatenbasiertes Verständnis von M. zu kurz greift, um der Komplexität der regelbasierten Zusammenarbeit im heutigen globalen Regieren Rechnung zu tragen.