Konservatismus
1. Typus und Anfänge des Konservatismus
K. leitet sich vom Lateinischen conservare ab (= bewahren, erhalten, auch i. S. v. beobachten, aufrecht erhalten). Die Begriffsverwendung heute lässt sich auf die 1818 konzipierte französische Zeitschrift „Le Conservateur“ beziehen, welche die Programmatik für den modernen K. im Kontext von Staat, Nation und Religion paradigmatisch angezeigt hat. Hierbei geht es nicht allein um die Beibehaltung des Status quo, sondern mehr noch um die Orientierung und Bewahrung der wahren geistigen Grundlagen für das Zusammenleben der Menschen in der politischen Ordnung. Insofern ist K. nicht einfach identisch mit Restauration, auch wenn es gegnerische Ideologien der Moderne gern so auszulegen versuchen, weil es in ihr Weltbild passt. Das erklärt auch die Schwierigkeit in der heuristischen Bestimmung des konservativen Typs: weil dieser Typus einen historisch generierten Status und Habitus wertschätzt, gerät seine Position allzu schnell in den Verdacht unkritischer Systembestätigung. Insofern ist es gerade die Diskreditierung durch die beiden anderen großen Ideologien der Moderne (Liberalismus und Sozialismus), welche den K. in einen Spagat zwischen Pro- und Kontra-Positionen des politischen Diskurses bringt. Das führt generell zu einer heuristischen Schwierigkeit in Bezug auf die jeweils historisch-aktuelle Bestimmung der Wirklichkeit: „Wer etwas ‚konservieren‘ will, muß erst einmal etwas haben, was konservierbar ist“ (Kaltenbrunner 2015: 36).
K. bezieht sich in der Prämoderne auf einen aristokratischen wie monarchischen Standpunkt als Argumentationsperspektive. In dieser Hinsicht ist K. zunächst antiaufklärerisch und wirkt in seinem Traditionalismus, mit der Wertschätzung der Ständegesellschaft des Ancien Régime (Stand), oft (nur) antimodern. Allerdings kann man dem K., wenn man ihn exemplarisch in der deutschen Variante der Aufklärung bei Justus Möser verortet, keinen Antirationalismus vorwerfen. Im Gegenteil: Der konservative Typus ist hier durchaus Kennzeichen eines aufgeklärten Bürgertums (Bürger, Bürgertum) gerade im Hinblick auf die Kleinräumigkeit deutscher Territorialstaaten. Dieser Typus ist mit sich und der Welt zufrieden. Der jeweils konkreten Lebenwirklichkeit steht man skeptisch gegenüber, bes. im Hinblick auf den Fortschritt. Dieser Skeptizismus ist anthropologisch bedingt: Es wird keine wirkliche Änderung in den natürlichen Ausgangsbedingungen der conditio humana erwartet. Paradigmatisch zeigt sich dies beim Stammvater des K. Edmund Burke, der 1790 mit seinen „Reflections on the Revolution in France“ nicht nur eine dezidierte Streitschrift gegen den kognitiven und materiellen Furor dieser Revolution formuliert hat, sondern quasi nebenbei auch das Grundmuster konservativer Weltanschauung für die Moderne propagierte. Es gilt die Bewahrung der Grundlagen des historisch entwickelten Staates bzw. der Ordnung in der Gesellschaft. Selbst wenn E. Burke ebenfalls Kritik an Kirche und Adel formuliert, so bleibt doch die Grundanschauung bestehen, dass die jeweils von einer Generation vorgefundene Wirklichkeit nicht mit einer radikalen Idee über den Haufen geworfen werden darf. Deshalb setzt der K. (auch in seiner bürgerlichen Ausprägung) in Deutschland gerade im Angesicht der Gräueltaten der Französischen Revolution und des imperialen Herrschaftsanspruchs durch Napoleon Bonaparte auf die Restauration zugunsten einer Politik der Bewahrung von Ruhe und Ordnung. Staatsmänner wie Clemens Fürst von Metternich-Winneburg und Otto von Bismarck erscheinen hier nicht zufällig als Prototypen einer praktischen, konservativen Politik, die auf entsprechende Regelung der Abläufe des Alltags dringt. Deren wesentliches Kennzeichnen ist die Reform von oben. Wenn Zeit (und damit auch die Geschichte) schon ein fließender Vorgang ist, dann müssen die Dinge geordnet werden, und zwar von der Herrschaft und nicht von den chaotischen Kräften, die sich aus dem Volk emporschwingen wollen. Revolutionismus, Anarchismus und der Utopismus der Weltverbesserer sind dem konservativen Typus daher systemfremd. Die bestehende Ordnung darf zwar kritisiert und verbessert, aber sie soll auf keinen Fall grundsätzlich aufgehoben werden. Denn die natürliche Grundlage kollektiver Einheiten wie die der Familie oder die des (nationalen) Volkes würde dadurch gefährdet werden.
2. Der Konservatismus des Bürgertums in der Moderne
Die Französische Revolution ist in dialektischer Weise der politisch-kulturelle Ausgangspunkt für den modernen K. Sie wird zwar einerseits als Niedergang des aristokratischen Ständeregimes im Sinne eines Schreckensszenarios gedeutet. Zugleich geht von ihr jedoch auch eine merkwürdige Faszination aus; denn sie ist zugleich die Geburtsstunde der Nation. Der Nationalgedanke aber hat die Macht des Staates noch gesteigert. Beiden Prinzipien, Staat und Nation, sieht sich der K. im Verlauf des 19. und 20. Jh. immer wieder verpflichtet. Johann Gottlieb Fichtes berühmte „Reden an die deutsche Nation“ (1807/08) wie auch die schriftstellerischen Abhandlungen von Ernst Moritz Arndt rekurrieren auf ein nationales Bewußtsein, in welchem Sprache und Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie) eine fundamentale Bedeutung für die Identität der Nation gewinnen. Der K. ist in dieser Perspektive länderübergreifend eine politisch-weltanschauliche Erscheinungsform der Identitätsfindung im Prozeß der Moderne. Insb. in der Politischen Theorie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel manifestiert sich für das bürgerliche Selbstverständnis eine spezifisch konservative Perspektive zugunsten einer Balance zwischen Staat und Gesellschaft. Der Staat ist existentiell notwendig, um die bürgerlichen Rechte zu schützen, v. a. auch das Privateigentum zu garantieren. Darüber hinaus bekommt der Staat als Tugendsystem seine bürgerlichen, normativen Weihen. Nicht so sehr bei G. W. F. Hegel, jedoch bei einigen anderen Autoren des 19. Jh., wie etwa bei Juan Donoso Cortés, geht es dann auch um einen sakralen Anspruch in Bezug auf Staat und Volk. Der K. unterstreicht in solchen Fällen grundsätzlich die Legitimation eines konstitutionellen Monarchismus (Monarchie).
Aber nicht nur auf Seiten der Restauration findet sich das Anliegen des K. wieder, sondern auch bei der fast schon fundamentalen Ablehnung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bzw. ihrer geistigen Transzendierung. Die politische Romantik, insb. in Deutschland (bei Novalis und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling), zeichnet sich durch einen Zug in die Welt des reinen Geistes aus, der zwischen Rationalität, Irrationalität und blumiger Spekulation in der Sphäre des Wünschbaren oder dem fundamentalen Rückbezug auf die Natur den konkreten Herrschaftsalltag in Zeit und Raum geradezu nihilistisch (Nihilismus) interpretiert. Im weiteren Verlauf des 19. Jh. wird der bürgerliche K. zwischen den drei Positionen Etatismus, (religiösen) Ordnungsbekenntnis und der tendenziell apolitischen Variante der Romantik hin- und hergerissen. Zugleich vermischt er sich auch mit liberalen Formen des Grundverständnisses von Staat und Individuum. Damit avanciert nicht nur im Liberalismus, sondern auch im K. der durch Privatbesitz ausgestattete Bürger zum sozio-ökonomischen Träger des modernen (nationalen) Verfassungsstaates. Beide Ideologien wetteifern in Konkurrenz um ihre sozial-kulturellen Milieus in Zeit und Raum, die je nach nationaler Entwicklung in den sich formierenden Nationalstaaten durchaus unterschiedlich ausfallen. Hierin liegt auch eine Erklärung für die teils großen Differenzen in den Ausdeutungen des modernen K. Bei Karl Mannheim, dem Klassiker einer Sozialanalyse zum deutschen K., gilt dieser ideologische Typus als Antipode zum Kapitalismus (des Liberalismus) und des subjektivistischen Rationalismus der Aufklärung. K. ist demzufolge als ideologische Bewegung in einer fortwährenden Antiposition begriffen: gegen die Progression der Zeit zur Bewahrung von bewährten sozialen, kulturellen und ökonomischen Mustern der tradierten Ordnung. Im skeptizistischen Grundverständnis, das zur Kritik an der jeweiligen Gegenwart führt, sieht K. Mannheim eine Verwandtschaft zwischen K. und Sozialismus. Beide ideologischen Richtungen streben einen Kollektivismus an bzw. setzen diesen als normative Entität für die Welt der Politik voraus. Nicht zufällig kann man daher den K. in der Ausprägung des späten 19. Jh. und für die erste Hälfte des 20. Jh. mit dem Historismus gleichsetzen. Die Besonderheit der je aktuellen Existenz zeigt sich im historischen Bewusstsein des national orientierten Bürgertums.
3. Konservatismus in der Krise der Moderne
Mit der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) setzt im Verlauf des 19. Jh. zugleich eine Verschärfung der Klassenkonflikte ein, welche dem Sozialismus als Prototypen eines neuen Bewusstseins, das zur Umkehrung der bestehenden Sozialordnungen drängt, immer mehr Zulauf in den Massengesellschaften bringt. Dagegen wendet sich der K. in Form einer z. T. geradezu nihilistischen Kulturkritik an der Moderne, wie sie sich paradigmatisch in der eigentlich zunächst ganz unpolitischen Philosophie Friedrich Nietzsches manifestiert. Doch das hat Folgen für das Verständnis von Individuum, Staat und Ordnung insgesamt. Insb. im ersten Drittel des 20. Jh. präsentieren sich immer mehr Analysen als überaus zeitgeistkritische Interpretationen, die das Ende des bürgerlichen Zeitalters in düsteren bzw. mehr oder weniger skeptischen Versionen beschwören. Die in ihrer (auch medialen Auswirkung) nachhaltigste Darstellung stammt hierbei von Oswald Spengler, der mit seinem Bestseller „Untergang des Abendlandes“ von 1917 auch international den Nerv des konservativen bürgerlichen Spektrums getroffen hat. O. Spengler sagt in einer zumeist radikal spekulativen Geschichtsdarstellung vom Auf und Ab kultureller Ordnungen im Weltmaßstab der eigenen Epoche das Ende ihrer normativen wie funktionalen Bedeutung für den Gang der Weltgeschichte voraus. Die Welt als Krise ist nicht nur bei ihm, sondern einer ganzen Reihe von Autoren wie etwa Ernst Jünger oder Arthur Moeller van den Bruck in den 1920er Jahren das vorherrschende Deutungssymptom konservativen Zuschnitts. Insb. bezogen auf den deutschen Sprachraum fand sich die Bezeichnung Konservative Revolution: Die Systemkrise kann nur überwunden werden, wenn der K. in modifizierter Form zu seinen Wurzeln zurückkehrt. Der zweifellos kognitiv bedeutsamste Autor ist der Staatsrechtler Carl Schmitt gewesen, der mit seinen zahlreichen Schriften bis in die Phase der BRD (und über diese hinaus) auch jenseits der Jurisprudenz enorme Wirkungsmacht entfaltet hat. Insb. seine Auslegung vom „Begriff des Politischen“ (1932) führt zu einem grundsätzlich bellizistischen Verständnis von Politik, in der die normativen und funktionalen Ordnungsbemühungen des modernen Staates a priori auf eine Freund-Feind-Konstellation zurückgeführt werden. Von hierher erscheint der bürgerliche K. in einem existentiellen Kampfformat, der sich in der Sinnkrise der Moderne permanent neu behaupten und beweisen muss.
Bevorzugt wird im konservativen Denken für den deutschsprachigen Raum zugleich auch ein föderales Ordnungsbild, das bottom-up und (im Gegensatz zum Bellizismus bei C. Schmitt) strukturell auf Harmonie und Interessensausgleich ausgerichtet ist. Insofern ist der Nationalsozialismus nur bedingt für das konservative Verständnis geeignet gewesen. Zwar ist das Führer-Ideal als Dezisionsmoment ein Leitbild, hervorgegangen aus den Resten einer monarchistischen Weltanschauung; aber es trägt eben nicht zu einer zufriedenstellenden Synthese bei. Denn der Grundgedanke der NS-Ideologie in Form der totalen (rassisch bedingten) Gleichschaltung von Volk, Staat und Nation unter dem Führer ist dem bürgerlichen K. strukturell fremd. Insofern erklärt sich von hierher auch der Widerstand gegen den Nationalsozialismus seitens aristokratischer und konservativ-bürgerlicher Kräfte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelt sich der K. (nicht nur in Deutschland) in der Perspektive auf die Bewahrung der Nation (und des Staates). Eine starke Wiederbelebung bzw. Neuorientierung erfährt er hauptsächlich in der angelsächsischen Welt, hier v. a. durch die eigentlich neoliberale Interpretation (Neoliberalismus) vom ökonomischen Stellenwert des Individuums. Margaret Thatchers berühmtes Credo „There is no such thing as society“ (Thatcher 1987) zielt im Kern auf eine Fundamentalkritik an der postmodernen Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft, in der Beliebigkeiten den Allltag der sozialen und politischen Existenz ausmachen; ebenso Ronald Reagans Auffassung, dem Staat ein zwar machtvolles, aber eben doch in Bezug auf die sozialpolitischen Möglichkeiten streng normiertes Korsett zuzuschreiben. Insofern sind sowohl die Reaganomics der 1980er Jahre in den USA als auch gleichzeitig der Thatcherismus Neuformulierungen des K. im Angesicht einer Moderne, die immer mehr fragmentarisch wirkt.
4. Der republikanische Konservatismus
Allerdings ist der amerikanische K. mit dem europäischen nicht in jeder Hinsicht identisch. Denn die drei wesentlichen Strömungen (Freihandel, Religion und nationale Sicherheit) im amerikanischen K. führen zu unterschiedlichen Allianzen und Effekten, die im Kern auf ein eher liberales Weltbild hinauslaufen, jedoch oft mit einem massiven Militarismus verbunden wird. Liberal ist die Ansicht des betont religiösen K. in den USA, in dem die freie Religionswahl noch vor der Entscheidung des Staates als zentrales Bekenntnis der amerikanischen Verfassung ausgelegt wird. In diesem Kontext sind es gerade die Konservativen gewesen, genau genommen die so genannten Neokonservativen (Neocons), welche die Globalisierung in ihrer entscheidenden Phase nach 1990 vorangetrieben haben. Technisierung und Steigerung der Kommunikationsinfrastrukturen im weltweiten Handel liegen ganz auf ihrer Agenda. Damit verbunden ist in der Interpretation der Neocons ein interventionistisches Rollenbild für die USA, demzufolge Demokratie mit allen Mitteln, eben auch mit militärischer Gewalt, weltweit implementiert werden darf. Dies führt zu einem Weltdeutungsanspruch nach dem eigenen neokonservativen Leitbild, welches bis in den völkerrechtlich umstrittenen Interventionismus des Irak- und Afghanistankrieges hineinwirkt.
Donald John Trump erscheint in dieser Hinsicht als provinzieller Rückschritt konservativen Selbstverständnisses: Augenscheinlich vertritt er nicht freien Welthandel, sondern propagiert Isolationismus, der scheinbar den Abgedrifteten und Abgehängten in der eigenen Nation zu Gute kommen soll. Allerdings gehört auch diese Perspektive mit zum Code des K. in den USA: Global Governance oder International Politics aus einem Multilateralismus heraus werden hier als Projekte einen utopischen Idealismus dechiffriert, der spezifisch nur zu Lasten der eigenen Nation geht. Unstrittig ist jedoch auch für den republikanischen K., dass es im Zeitalter der Globalisierung neuer Sinndeutungen bedarf, welche die Einbettung der Nation in der Welt ermöglichen. Wie hier in der Weichenstellung für das 21. Jh. zu verfahren sei, ist für den K. gerade vor dem Hintergrund seines pragmatischen wie skeptischen Grundverständnisses alles anderes als hinreichend geklärt.
Literatur
C. K. Klunker: Beobachtungen zum heutigen Konservatismus in Deutschland. Eine Untersuchung nach Edmund Burke, 2016 • S. V. Levinson/J. Parker/M. S. Williams: American Conservatism, 2016 • G.-K. Kaltenbrunner: Rekonstruktion des Konservatismus, 2015 • K. von Beyme: Konservatismus. Theorien des Konservatismus und Rechtsextremismus im Zeitalter der Ideologien 1789–1945, 2013 • S. Breuer: Anatomie der konservativen Revolution, 21995 • M. Thatcher: Interview for Woman’s Own (1987), URL: http://www.margaretthatcher.org/document/106689 (abger.: 15.5.2018) • K. Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, 1984 • J. G. Fichte: Reden an die deutsche Nation, 1933 • C. Schmitt: Der Begriff des Politischen, 1932 • O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 1917 • E. Burke: Reflections on the Revolution in France, 1790.
Empfohlene Zitierweise
P. Nitschke: Konservatismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Konservatismus (abgerufen: 23.11.2024)