Adel
A. ist ein universalgeschichtliches Phänomen, das keineswegs auf Europa beschränkt ist. Schon die frühen Hochkulturen, bspw. in Mesopotamien oder Ägypten, kannten einen A., ebenso die griechische und römische Antike. In asiatischen Reichen, in China, Japan oder Indien, existierte genauso ein historischer A. wie bei den Inka oder Azteken in Lateinamerika. Insofern ist der A. des europäischen Mittelalters und der europäischen Neuzeit keine genuin europäische Erscheinung. Für das Phänomen A. gibt es nicht nur unterschiedliche Bezeichnungen, der A. erfüllte in je unterschiedlichen Zeiten, Gesellschaften und Kulturen auch unterschiedliche Funktionen, die von der politischen Herrschaft über religiös-priesterliche Rollen bis hin zu militärischen Aufgaben reichen konnten, wobei sich diese Funktionsbereiche immer wieder überschnitten. Dennoch lassen sich verbindende Merkmale identifizieren. A. genießt eine soziale Exklusivität, einen gesellschaftlichen Vorrang gegenüber anderen, ihm untergeordneten Bevölkerungsgruppen. Die Grundlage dieses Vorrangs können politische Herrschaftsfunktionen, ökonomische Potenz oder ein kulturell begründetes Ansehen sein. Auch hier können sich verschiedene Faktoren ergänzen, zum Teil wechselseitig verstärken. Sehr häufig hat sich die Herausgehobenheit des A.s in einer rechtlichen Sonderstellung artikuliert, sei es im indischen Kastenwesen, sei es in der ständischen Ordnung der europäischen Vormoderne (Ständestaat). Des Weiteren kann man immer wieder eine Tendenz zur konsequenten Abschließung des – wie auch immer begründeten und bezeichneten – A.s als Geburtsstand feststellen, also insb. zur Erblichkeit bzw. Vererbbarkeit von A. Die Entstehung geschlossener adeliger Heiratskreise, das Konnubium, steht damit in engem Zusammenhang. Es hatte ferner den Zweck, den A. vom „Volk“ bzw. von Nicht-Adeligen abzuschließen. Auch das diente der Stabilisierung von Herrschaft bzw. Dominanz, Vorrang oder Privilegierung. Die historische und die historisch-soziologische Forschung haben darüber hinaus, insb. für den europäisch-abendländischen Kontext (Abendland), weitere Definitionskriterien für A. herausgearbeitet: die Verfügung über ländlichen Grundbesitz, der agrarisch bewirtschaftet wurde; in Verbindung damit bzw. als Voraussetzung dafür die Herrschaft über unfreie, landarbeitende Menschen (Bauern) zur Bewirtschaftung von Grund und Boden; die Freiheit zum Waffentragen bzw. zum Kriegsdienst als Voraussetzung für Prestige- und Ehrgewinn einerseits und die Übernahme politischer Herrschaftsfunktionen andererseits; schließlich die Übernahme von Führungspositionen in der Kirche, von Diensten bei Hof und für den Staat. Wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen und zum Teil bezogen auf unterschiedliche Adelsgruppen, bildete sich in vielen Fällen eine adelige Mentalität heraus, die bspw. durch einen spezifischen Lebensstil oder bestimmte Wertvorstellungen gekennzeichnet war.
Das deutsche Wort „A.“ leitet sich aus dem althochdeutschen „adal“ für Geschlecht, Stammfolge, auch für ein edles Geschlecht („edili“) her; das Wort ist überdies verwandt mit den althochdeutsch-germanischen „odal“ oder „uodal“ als Bezeichnung für ererbten Boden, einen Erbsitz oder, im weiteren Sinne, die Heimat. Das deutet auf die Verfügungsgewalt über nutzbares Land als – im germanisch-deutschen Kontext – eine Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum A. hin. In anderen europäischen Sprachen leitet sich die Bezeichnung vom lateinischen „nobiles“ her. „Nobiles“ sind im Lateinischen zwar nicht im Wortsinne die Adeligen, aber (abgeleitet vom Verb „noscere“ für „kenntlich machen“) die Bekannten, die Kenntlichen. Das verweist auf Distinktion als Voraussetzung von Adeligkeit. Aus „nobiles“ wurde dann die französische „noblesse“, die englische „nobility“ oder die italienische „nobilità“. Seit dem 19. Jh. und bis in unseren gegenwärtigen Sprachgebrauch vermischten sich die Bezeichnungen „A.“ und „Aristokratie“ (heute fast als Synonym für „A.“). Dabei geht der Begriff der „Aristokratie“ zurück auf die politische Theorie der griechischen Antike. In der Staatsformenlehre des Aristoteles bezeichnet sie eine Herrschafts- oder Regierungsform, zusammen mit „Monarchie“ und „Demokratie“ eine der sogenannten „guten Regierungsformen“. Das negative Gegenbild zur „Aristokratie“ ist bei Aristoteles die „Oligarchie“. Als „Herrschaft der Besten“ (griech. „aristoi“) wird die „Aristokratie“ an Tugenden wie Verstand, Tapferkeit, Besonnenheit oder Gerechtigkeit festgemacht. Diese Begriffsbildung und -bestimmung könnte sich bereits auf Adelige bezogen und „adelig“ gemeint haben, weil der griechische A. für sich den Anspruch erhob, genau diese Tugenden zu besitzen. Gleichwohl ist es wichtig festzuhalten, dass „Aristokratie“ zunächst eine Regierungs-, Staats- oder Verfassungsform bezeichnet und nicht – oder allenfalls in zweiter Linie – eine soziale Gruppe. Seitdem jedoch der „Aristokratie“-Begriff (zusammen mit „Monarchie“ und „Demokratie“) im ausgehenden Mittelalter in der europäischen Philosophie rezipiert wurde, übte er eine starke Wirkung auf die politische Theorie in Europa aus und wurde in dieser Theoriebildung bzw. -entwicklung eng mit dem Problem des A.s verbunden. Dennoch geht die Bezeichnung „Aristokratie“ für den A. erst auf die Zeit im Vorfeld und während der Französischen Revolution zurück, als im öffentlich-politischen Sprachgebrauch die Worte „Aristokrat“ und „Demokrat“ als polemische Parteibezeichnungen geprägt und verwendet wurden. „Aristokratie“ meinte jetzt die Herrschaft des A.s und war als politischer Kampfbegriff deutlich negativ konnotiert. Freilich existierten auch politische und philosophische Gegenbewegungen, die den Versuch unternahmen, den Begriff „Aristokratie“ und damit auch den A.s-Begriff inhaltlich neu zu füllen (Neuadelskonzepte), und dabei nicht zuletzt auf Gedankengut der Aufklärung zurückgriffen.
In seinen unterschiedlichen historischen Ausformungen war A. über lange Zeit die „Herrschaft von Menschen über Menschen“ (Saint-Simon 1815: 137). Allerdings war die Herrschaftsstellung des A.s an eine Gesellschaftsordnung gekoppelt, die sich in ihren Grundstrukturen nicht veränderte. Als in Europa insb. die Ideen der Aufklärung die prinzipielle Veränderbarkeit sozialer Strukturen postulierten und sich im Übergang zur Moderne soziopolitische Ordnungen rasant wandelten, rührte das zwangsläufig auch an die Grundfesten der Herrschaft des A.s. So sehr der A. im Einzelnen auch seit etwa 1800 seine Herrschaftsrechte und andere Privilegien verteidigen konnte und es ihm gelang, seinen Status zu behaupten, so wenig bedeutete dies eine Wiederherstellung derjenigen gesellschaftlichen und politischen Ordnung, die der A. prinzipiell und dauerhaft dominiert hatte. Politische Herrschaft wird in der Moderne mit anderen Begriffen bezeichnet und durch andere Kategorien zu erfassen versucht (z. B. Elite, Oberschicht oder herrschende Klasse) als durch den Begriff bzw. die Kategorie „A.“. Dass wir von A. und Adeligen in der Gegenwart reden, widerspricht dem nicht. Im Übergang zur Moderne hat sich die Definition von A. verändert, die heute insb. in republikanisch-demokratischen Gesellschaften nicht mehr von der politischen Herrschaftsfunktion eines A.s bestimmt wird. Seit 1919 gibt es in Deutschland weder politisch noch (verfassungs)rechtlich einen A. oder Adelige, sondern lediglich Träger adeliger Namen bzw. die Angehörigen oder Nachfahren ehemals adeliger Familien. Diese bezeichnen sich selbst allerdings nach wie vor als A. und werden auch von der Gesellschaft weithin als A. anerkannt, nicht zuletzt auf Grund einer oft weiter gepflegten kulturellen Distinktion. Freilich ist diese in Verbindung mit einer gewissen Exponiertheit im Kern noch immer eine Folge der über Jahrhunderte ausgeübten Herrschaft des A.s. Sie hat eine spezifische Adelskultur ausgeprägt, deren Restbestände heute die Möglichkeit kultureller Eigenartigkeit des A.s schaffen.
Literatur
H. Reif: Adel, Aristokratie, Elite, 2016 • W. Demel/S. Schraut: Der deutsche Adel, 2014 • E. Conze: (Hg.): Kleines Lexikon des Adels, 22012 • W. Demel: Der europäische Adel, 2011 • M. Wienfort: Der Adel in der Moderne, 2006 • G. Gersmann: Art. Adel, in: ENz, Bd. 1, 2005, Sp. 39–54 • H. Reif: Adel im 19./20. Jahrhundert, 1999 • L. Kuchenbuch: Art. Adel, in: FLG, 1990, S. 105–120 • K. F. Werner: Art. Adel, in: LMA, Bd. 1, 1980 • W. Conze/C. Meier: Art. Adel, in: GGB, Bd. 1, 1972, S. 1–48 • H. de Saint-Simon: L’Industrie, Oeuvres, Bd. 19, 1815.
Empfohlene Zitierweise
E. Conze: Adel, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Adel (abgerufen: 21.11.2024)