Anglo-amerikanischer Rechtskreis

1. Rechtskreise und Rechtstraditionen

Die Unterteilung von Rechtsordnungen in Rechtskreise (R.e) (legal families, familles juridiques) lehnte sich anfangs an naturwissenschaftliche, insb. biologische Klassifizierungsmodelle an und wurde zuerst auf dem Internationalen Kongress für Rechtsvergleichung 1900 diskutiert. R.e sollten die große Zahl nationaler Rechtsordnungen durch Gruppenbildung überschaubarer, leichter beschreibbar und vergleichbar machen. Man wurde sich allerdings nie einig, welche Gruppierungen eigenständige R.e darstellen. Einflussreich war die Einteilung von Pierre Arminjon, Baron Boris Nolde und Martin Wolff und deren leichte Weiterentwicklung durch Konrad Zweigert und Hein Kötz in den französischen, deutschen, Common Law, nordischen, fernöstlichen und den R.en religiöser Rechte, während René David zwischen dem römisch-deutschen, dem sozialistischen und dem R. des Common Law unterschied.

Die R.-Lehre ist als eurozentrisch sowie als übermäßig zivilrechtlich orientiert kritisiert worden. Manche sehen mehr den Einfluss von Rechtstraditionen am Werk, die einzelne Rechtsordnungen über eine als statisch empfundene Zuordnung zu Kreisen hinaus weiterentwickeln und auch Besonderheiten gemischter Rechtssysteme (z. B. Südafrika) besser erklären. Patrick Glenn unterscheidet zwischen der chthonischen, talmudischen, zivilistischen (römischrechtlichen), islamischen, Common Law, hinduistischen und asiatischen Rechtstradition. Rodolfo Sacco lehnt die R.e nicht ab, sieht aber eine größere Rolle im jeweiligen Zusammenspiel rechtlicher Formate (wie Gesetzesnorm [ Norm ], Lehrmeinung, gerichtliche Leitsätze, Anwendungsregeln, aber auch versteckt agierenden „Kryptoformanten“). Insgesamt bleibt aber das Common Law durchgehend als eigene Tradition bzw. eigener R. gesetzt. Der a. R. umfasst heute die meisten Länder des Commonwealth, Irland und die USA.

2. Entstehung und Verbreitung des Common Law

2.1 Entstehung

Das Common Law entstand unter Heinrich II (1154–1189), der nach einer turbulenten Phase England befrieden und dafür mehr Rechtsstreitigkeiten klären musste, als die curia regis bewältigen konnte. Die dafür eingesetzten Entscheidungsgremien verfestigten sich graduell zu richterlichen Spruchkörpern. Die bis heute als Teil des High Court existierende King’s Bench (bzw. Queen’s Bench) entstand gegen 1200. Nach und nach bildete sich aus der richterlichen Entscheidungspraxis ein in ganz England geltendes und in ganz England durchsetzbares gemeines Recht („common law“) heraus, das gegenüber der traditionellen mündlichen Lokaljustiz auch die Vorteile einer schriftlichen Fixierung hatte und so eine beachtliche Sogwirkung entfaltete. Kompilationen des Common Law folgten bald. Die einflussreichste ist nach dem Richter Henry de Bracton (gest. 1268) benannt und stellt das englische Recht aus der richterlichen Anwendungsperspektive dar. Darin fortlebende angelsächsische und normannische Rechtstraditionen werden vermengt mit römischem Recht, dem H. de Bracton u. a. die Klassifizierung in Personen, Sachen und Aktionen entlehnt.

a) Actions und writs

In den folgenden Jh. wurde ein zunehmend verfestigtes Recht stark formalisiert. Kläger mussten aus einer mittlerweile geschlossenen Liste von actions wählen und den Sachverhalt in die jeweils passende vorgeschriebene Klageformel (writ) pressen. Da die für Kläger günstigste action oft Landfriedensbuch (trespass) war – sie erforderte für vertragsrechtliche Fälle keine Schriftform und konnte nicht vorab durch meineidige Zeugen des Beklagten (wager of the law) abgewiesen werden – wurden zunehmend große Teile des Zivilrechts mit fingierter Gewalt ausgestattet und ins Deliktsrecht verlagert. Diese forms of actions wurden ab 1832 graduell abgeschafft, wirken aber bis heute auf die Systematik des Common Law fort.

b) Equity

Der einsetzenden Verkrustung des Rechts wirkte zunehmend der Kanzler (chancellor) entgegen, der ab ca. 1350 im Auftrag des Königs Petitionen gegen Gerichtsentscheidungen entschied und oft vermitteln konnte. Im Laufe des 15. Jh. entstand daraus für zivilrechtliche Streitigkeiten eine eigene Gerichtsbarkeit des Lord Chancellor (chancery), in der sich ein eigener Korpus von Rechtsregeln (equity) entwickelte. Zunächst konnte die Chancery schnell (ohne juries), informell (ohne actions und writs), für die Betroffenen verständlich (in englischer Sprache anstatt der sonst üblichen Verwendung von Französisch und Latein) und kostengünstig viele Rechtsstreitigkeiten entscheiden und so auch der ärmeren Bevölkerung Zugang zur Justiz verschaffen. Später verlor die Equity die meisten Vorteile infolge von Verkrustung und Verzettelung in Sach- und Kompetenzstreitigkeiten mit den Common Law-Gerichten, die 1615 Francis Bacon im Auftrag von Jakob II zugunsten der Equity entschied. 1873/75 wurde die Chancery als eigene Abteilung in den neu geschaffenen High Court eingegliedert und so in ein einheitliches Gerichtssystem eingebunden. Common Law und Equity als Rechtsquellen sind bis heute nicht vollständig integriert.

2.2 Verbreitung

Verbreitet wurde das Common Law mit Hilfe von guns and gowns (Roben): England, später Großbritannien erstreckte das Common Law auf die eroberten oder anderweitig einverleibten Gebiete und entsandte zur Rechtspflege englische Richter und Anwälte. Anders hätte sich ein auf Fallrecht basierendes Rechtssystem, das sich selbst als Handwerk verstand und bis weit in das 19. Jh. rechtswissenschaftlich kaum erschlossen war (s. u.), nicht verbreiten können, im Gegensatz insb. zum französischen und deutschen Recht, deren große Kodifikationen weit über den unmittelbaren politischen Einflussbereich hinaus wirkten. Im Indien des 19. Jh. wollte der Fallrechtstransfer nicht recht gelingen, so dass der Gesetzgeber mit dem Indian Penal Code 1860 und dem Indian Contract Act 1872 über Kodifikationen nachhelfen musste.

2.3 Common Law-Rechtsordnungen heute

Das Common Law gilt bis heute nicht in Schottland, wo unter dem Act of Union (1706/07) eine schottische Ausprägung von römischem Recht fortwirkt, wohl aber in den ehemaligen britischen Kolonien (darunter Australien, Indien, Kanada [außer Quebec], Kenia, Neuseeland, Nigeria, Pakistan, Südafrika [im Zusammenspiel mit römisch-niederländischem Recht] und den USA [mit Louisiana als hybrider Rechtsordnung]), in ganz Irland und in Wales. Auch einige ehemalige britische Völkerbund-Mandatsgebiete wie Ägypten, Israel und Irak sind vom Common Law beeinflusst.

Wie die USA schon 1776, so behielten auch die anderen britischen Kolonien nach der Unabhängigkeit das Common Law bei, mit dem Stand der Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit. Aber während die USA seitdem weitgehend einen Sonderweg beschritten, insb. nicht an den bedeutenden Reformen des englischen Rechts im 19. Jh. teilnahmen (v. a. nicht an der weitgehenden Abschaffung der juries im Zivilprozess), nahmen viele Commonwealth-Länder lange und nehmen einige karibische Staaten bis heute an der Entwicklung des englischen Fallrechts unmittelbar teil, indem sie als oberstes Gericht das Judicial Committee des Privy Council anerkennen, welches personell identisch ist mit dem Supreme Court des Vereinigten Königsreichs (vormals: dem Appellate Committe des House of Lords). Mit namentlicher Ausnahme der USA schätzen viele Common Law-Länder auch jüngere höchstrichterliche Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten als (nicht bindende) persuasive authority (s. u.).

3. Charakteristika des Common Law

3.1 Fallrecht als Rechtsquelle

Die zentrale Bedeutung des case law (Fallrechts) als Rechtsquelle gilt vielen als wichtigstes Wesensmerkmal des Common Law. Tatsächlich sind zentrale Bereiche des Zivil-, Straf- und öffentlichen Rechts (Strafrecht; Öffentliches Recht) weitgehend Fallrecht. Das trifft auch auf die wichtigste verfassungsrechtliche Norm des Vereinigten Königreichs zu, die supremacy of parliament, nach der ohne weitere verfassungsrechtliche Schranken alles Gesetz ist, was vom House of Commons unter der Mitwirkung des House of Lords verabschiedet und vom Monarchen mit dem Royal Assent versehen ist. Jedoch wird die Bedeutung des Fallrechts für andere R.se traditionell unterschätzt, für den a.n R. manchmal überschätzt. Bspw. ist das englische Arbeitsrecht weitgehend kodifiziert, während die Rechtsprechung deutscher Arbeitsgerichte ganz in Common Law-Manier verstreute gesetzliche Regelungen zusammenhält.

a) Abwesenheit von Kodifikationen

So wird die Abwesenheit der großen Kodifikationen des Zivil- und Handelsrechts, des Strafrechts und des Zivil- und Strafprozessrechts, die namentlich den französischen und deutschen R. prägen, als wesentliches Merkmal des a.n R.es verstanden. Das englische Zivilprozessrecht ist allerdings über eine Anzahl von systematisierten Civil Procedure Rules und Practice Directions zusammenhängend und detailreich geregelt, das Gesellschaftsrecht im Companies Act 2006 in gut 1 300 Sections umfassend kofidiziert. Der US-amerikanische Uniform Commercial Code umfasst große Teile des Vertrags- und Handelsrechts.

b) Stare Decisis und Ratio Decidendi

Als in ganz England geltendes Recht konnten sich die mittelalterlichen Entscheidungen der königlichen Gerichte nur durchsetzen, wenn sie über die jeweils entschiedenen Fälle hinaus wirkende einheitliche Rechtsregeln hervorbringen konnten. So sieht es schon H. de Bracton als wichtige Aufgabe an, den Erfahrungsschatz der zeitgenössischen Richterschaft auch mit Bezug auf individuelle Entscheidungen für nachfolgende Generationen festzuhalten. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Common Law-Richter fühlten sich einer allgemeinen Auffassung unter Richtern verpflichtet, die einem Abgleiten in Einzelfallgerechtigkeit entgegenwirkte. Die strenge Bindungswirkung des Fallrechts (stare decisis) unter einer doctrine of binding precedent, die den a.n R. kennzeichnet, ist allerdings erst eine Entwicklung der späten Moderne, die in England in Zusammenhang mit der Entwicklung von Rechtsmittelinstanzen im 19. Jh. steht.

Welche Urteile nach heutigem Common Law als Präjudiz in Frage kommen, hängt vom jeweiligen Rechtssystem ab. Im englischen Recht kommen dafür nur Urteile des High Court, des Court of Appeal und des Supreme Court (vormals: House of Lords) in Frage. Alle anderen Gerichte sind an diese Urteile gebunden. Der High Court ist an Entscheidungen der beiden höheren Gerichte gebunden, streng genommen aber nicht an seine eigenen. Der Court of Appeal ist dagegen an seine eigenen Entscheidungen ebenso gebunden wie an die des Supreme Court und House of Lords. Der Supreme Court ist, wie auch zuvor das House of Lords, nur an seine eigenen Entscheidungen gebunden, kann aber in begründeten Ausnahmefällen seine eigene Rechtsprechung aufgeben. Wird eine vorausgegangene Entscheidung teilweise oder ganz aufgegeben (overruled), so ersetzt die Bindungswirkung der neuen Entscheidung insoweit die der aufgegebenen.

Bindend ist allerdings nicht der in einem Urteil formulierte Rechtssatz, sondern dessen Anwendung im Rahmen der für diesen Fall prägenden Tatsachen. Somit kann kein Richter bindende allgemeine Rechtsregeln für nachfolgende Fälle formulieren. Die bindende ratio decidendi ergibt sich vielmehr erst, wenn eine Entscheidung in einem oder mehreren nachfolgenden, ähnlich gelagerten Fällen interpretiert wird. Die zuvor entschiedenen einschlägigen Fälle schränken die Auswahl des Richters dabei auf solche Rechtsregeln ein, die in den vorher entschiedenen vergleichbaren Fällen zum selben Ergebnis geführt hätten.

Ist das nicht der Fall, muss die als störend empfundene Vorentscheidung distinguished werden. Der Richter muss erläutern, worin sie sich vom zu entscheidenden Fall unterscheidet und warum dies eine andere Behandlung rechtfertigt. Umgekehrt muss bei als passend empfundenen Entscheidungen mit einem abweichenden Sachverhalt begründet werden, warum die damals gefundene Regel auch auf den vorliegenden Fall angewendet werden soll. Über diesen induktiven Prozess werden bewährte Rechtsregeln graduell ausgeweitet und generalisiert, als hinderlich empfundene nach und nach eingeschränkt auf die bes.en Umstände des seinerzeit entschiedenen Falls.

Soweit das Ergebnis nicht durch bindende ratio decidendi offensichtlich präjudiziert ist, können auch seinerzeit nicht entscheidungserhebliche rechtliche Erwägungen (obiter dicta) aus vorausgegangenen Urteilen in die Entscheidungsfindung einfließen. Ebenso können als persuasive authority nicht bindende Entscheidungen anderer Gerichte, auch aus anderen Rechtsordnungen herangezogen werden; innerhalb des Commonwealth ist das sogar üblich. Seit 1990 knüpft das House of Lords (seit 2009: der britische Supreme Court) wieder an eine Tradition des 19. Jh. an und lässt sich in grundsätzlichen Fällen auch oft von kontinentalem, heutzutage auch häufig deutschem Recht inspirieren (z. B. White v Jones [1995] UKHL 5, Aston Cantlow v Wallbank [2003] UKHL 37). Auch außerrechtliche, also wirtschaftliche, kulturelle, soziale oder politische Faktoren fließen oft offen in die Entscheidungsfindung ein, sofern sie über der Tagespolitik stehen und nicht dem Gesetzgeber vorbehalten sind.

c) Charakteristika von Urteilen

Urteile aus dem a.n R. unterscheiden sich äußerlich stark von z. B. den stets in einem Satz formulierten französischen, oder den vom Ergebnis her aufgebauten, streng gegliederten, unpersönlich und oft als unausweichlich formulierten deutschen. Auch in Kollegialgerichten liefert grundsätzlich jeder Common Law-Richter ein eigenes Votum (opinion), das allerdings oft aus einer kurzen formelhaften Zustimmung zum Votum eines anderen Richters besteht. Gelegentlich formuliert ein einzelner Richter eine kollegial getragene Entscheidung für das gesamte Gericht (per curiam). Üblich sind dissenting opinions, welche die Mehrheitsentscheidung nicht mittragen, und concurring opinions, welche die gefundene Entscheidung anders begründen. Die vielen Stimmen in einem Urteil können nachfolgenden Richtern das Auffinden der ratio decidendi einerseits erleichtern, insb. durch die Identifizierung nicht mehrheitsfähiger Positionen und alternativer Begründungen, und ganz allgemein durch die Beleuchtung rechtlicher Positionen aus unterschiedlichen Perspektiven. Andererseits gibt es Fälle, in denen eine mögliche ratio decidendi im Stimmenwirrwar untergeht, insb. wenn eine knappe Mehrheit für das gemeinsam getragene Ergebnis schwer miteinander kompatible Begründungen abgibt (z. B. McAlpine v Panatown [2000] UKHL 43).

Die Richterpersönlichkeit scheint in den Voten stark durch. Sie sind grundsätzlich in der ersten Person verfasst und mehr um klare Sprache als um fein ziselierte Dogmatik bemüht. Manche Richter werben um die Aufmerksamkeit des Lesers mit Geist, Witz und bes. zitierfähigen Sentenzen. Diese Personalisierung der Entscheidungen erleichtert es auch, Rechtsentwicklungen mit herausragenden Richterpersönlichkeiten zu verbinden, wie z. B. Joseph Story (1779–1845), Oliver Wendell Holmes (1841–1935) und Benjamin Cardozo (1870–1938) für das amerikanische oder Sir Edward Coke (1552–1634), Lord Mansfield (1705–1793) und Lord Denning (1899–1999) für das englische Recht.

3.2 Gesetz als Rechtsquelle

Auch im Common Law kann der sprichwörtliche Federstrich des Gesetzgebers viel Makulatur erzeugen, denn Gesetze haben Vorrang vor Fallrecht. Man sollte zudem nicht aus der geringeren Anzahl von Kodifikationen folgern, dass es in Ländern des Common Law wenig Gesetze gäbe. Sir William Dale (1992) hat sogar nachgewiesen, dass Großbritannien jährlich mehr als viermal so viel Gesetzestexte produziert wie Frankreich.

Die Metapher von Inseln des Gesetzgebungsrechts in einem Meer von Fallrecht kennzeichnet das Verhältnis der wichtigsten Rechtsquellen des Common Law (Gewohnheitsrecht spielt daneben eine sehr geringe Rolle) und zugleich die geringe Bezugnahme zwischen einzelnen Gesetzen. Gerade wo die großen Kodifikationen fehlen, muss jedes Einzelgesetz seine Terminologie, seinen Anwendungsbereich und sein Umfeld für sich klären. Wo etwa das deutsche &pfv;BGB mit einem Paragraphen zur Tierhalterhaftung auskommt, müssen englische Gesetze diese konsekutiv in Teilregelungen einführen, wie durch den Riding Establishments Act 1964, Animals Act 1971, Guard Dogs Act 1975 und den Dangerous Wild Animals Act 1976.

Gesetzgebung aus einer Common Law-Rechtsordnung ist i. d. R. leicht erkennbar. Häufig sind lange Schachtelsätze (ein Satz pro Vorschrift), lange Aufzählungen (wo kontinentale Gesetzgeber eine generische Umschreibung verwenden würden) und eine Neigung zu sehr detaillierter Regelung, die Ambiguität ausschließen will (z. B. „… including, but not limited to …“). Das lässt sich teils damit erklären, dass Gesetzesrecht oft detailliertes Fallrecht ersetzt und Richtern früher die Neigung unterstellt wurde, durch das gezielte Auffinden von Gesetzeslücken den Gesetzgeber zu unterlaufen, so dass der Gesetzgeber durch obsessiv detaillierte Regelung das Gesetz judgeproof machen wollte. Jeremy Bentham (1792) vermutete wirtschaftliche Ursachen, nämlich dass Gesetzesentwerfer für längere Texte besser entlohnt würden.

Tatsächlich hat der Gesetzgeber nicht immer das letzte Wort, denn das Gesetzesrecht gilt im Common Law as applied by the courts, mit der Folge, dass namentlich ältere Gesetze von mehr und mehr Fallrecht überwuchert werden können. Das daraus resultierende Konfliktpotential wurde allerdings traditionell entschärft durch die Neigung der englischen Gerichte zu einer möglichst wörtlichen Auslegung von Gesetzen, die erst in jüngerer Zeit einer stärker teleologisch orientierten Auslegung weicht. Innerhalb des a.n R.es lassen sich hier Unterschiede feststellen. Judicial activism als sich über den Gesetzeswortlaut erhebende richterliche Weiterentwicklung des Rechts ist modernen englischen Gerichten eher fremd, im US-amerikanischen Recht allerdings spätestens seit der kreativen Begründung einer Verfassungsgerichtsbarkeit des Supreme Court in Marbury v Madison 5 U.S. 137 (1803) nicht ungewöhnlich und auch in einigen anderen Common Law-Ländern anzutreffen.

3.3 Rechtswissenschaft

Dem a.n R. wird nachgesagt, dass die Wissenschaft bei der Entwicklung des Rechts eine eher untergeordnete Rolle spiele. So spricht man tatsächlich bis heute auch im akademischen Umfeld von law, nicht von legal science. Historisch gesehen ist diese Einschätzung richtig. Zwar konnte man in Oxford und Cambridge schon im 12. Jh. Recht studieren, aber das war römisches, nicht englisches Recht. Die mittelalterlichen Kompilationen des Common Law wie die von H. de Bracton wurden nicht fortgeführt. Das Rechtshandwerk wurde in der Praxis erlernt, in der Blütezeit von ca. 1500 bis zum Beginn des Bürgerkriegs 1642 für angehende Rechtspraktiker auch unterrichtet an den kollektiv als „Third University of England“ apostrophierten Inns of Court (in denen noch heute die Barrister [s. u.] zusammengefasst sind) und Inns of Chancery. Sir E. Coke, einflussreich als Richter, aber als Autor „most unsystematic and crabbed“ (Lawson) veröffentlichte zwischen 1628 und 1644 seine vierbändigen „Institutes of the Lawes of England“, die trotz ihrer labyrinthischen Verzettelungen v. a. in den USA weiterhin geschätzt werden. Praktisch gesehen war englisches Recht über Jahrhunderte hinweg der Öffentlichkeit unzugänglich, auch weil das zentrale Fallrecht wenig und unzuverlässig veröffentlicht wurde. Der Philosoph und Jurist J. Bentham sprach sogar vom englischen Recht als „dog-law“: Die Richter behandelten die Bürger wie ein Herr seinen Hund, dem erst nachträglich durch Prügel beigebracht werde, wenn er etwas falsch macht. William Blackstones vierbändige „Commentaries on the Law of England“, veröffentlicht zwischen 1765 und 1769, sind die erste systematische Darstellung des englischen Rechts seit H. de Bracton. Darin fasst er die von ihm gehaltenen ersten Vorlesungen zum englischen Recht an einer englischen Universität zusammen. W. Blackstone unterrichtete seit 1753 in Oxford und erhielt 1758 den ersten Lehrstuhl zum englischen Recht. Allerdings bildete er nie künftige englische Juristen aus. Erst im späten 19. Jh. begann die universitäre Ausbildung von englischen Juristen. Wie kontrovers das war, lässt sich am Titel der Oxforder Antrittsvorlesung von Albert Venn Dicey im Jahr 1883 ablesen: „Can English Law be Taught at the Universities?“ Das bejahte A. V. Dicey unter Berufung auf Robert Joseph Pothier, Friedrich-Karl von Savigny, Karl Adolph von Wangerow, Pasquale Stanislao Mancini und Johann Kaspar Bluntschli. A. V. Dicey selbst hat sowohl das öffentliche als auch das Zivilrecht des Common Law nachhaltig beeinflusst.

Über das 19. und 20. Jh. hinweg haben die Rechtswissenschaftler des Common Law ihre kontinentalen Kollegen mit ihren Beiträgen zur Rechtsentwicklung meist eingeholt und stellenweise sogar überholt, gerade weil sie meist enger am Fallrecht arbeiten und ihre Beiträge für die Rechtspraxis oft unmittelbar verwertbar sind. Aber auch viele grundsätzliche Impulse für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und die gesamte Rechtswissenschaft kommen seit Jahrzehnten aus der anglo-amerikanischen Rechtswissenschaft, wie legal realism und die wirtschaftliche Analyse des Rechts. Der Einfluss der Rechtswissenschaft auf die Entwicklung des Common Law wurde allerdings lange unterschätzt, auch weil es noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg für unschicklich galt, in Urteilen noch lebende Rechtswissenschaftler zu zitieren. Wie wichtig heute die Rechtswissenschaft gerade für die englische Rechtspraxis ist, lässt sich daran ablesen, welches Buch ein Anwalt als erstes in die Hand nehmen wird, wenn er einen schwierigen Vertragsrechtsfall vertreten soll. In Deutschland ist das der nahezu ausschließlich von Richtern geschriebene „Palandt“, in England der ganz überwiegend von Rechtswissenschaftlern verfasste „Chitty on Contracts“.

3.4 Einfluss des römischen Rechts

Anhänger der R.-Lehre sehen den geringen Einfluss römischen Rechts als ein Wesensmerkmal des Common Law. Dort wird allerdings nicht weniger lateinische Rechtsterminologie verwendet. Römisches Recht wurde auch nach den Zeiten von H. de Bracton rezipiert, u. a. über den aus Schottland stammenden Richter Lord Mansfield, später auch über das einflussreiche Werk des französischen Juristen R. J. Pothier (1699–1772), der in ca. 50 Gerichtsentscheidungen aus dem 19. Jh. erwähnt wird, oft neben den Digesten, mehrfach auch in bis heute leading cases wie etwa Taylor v Caldwell (1863) B&S 825 309. Insgesamt ist das Common Law aber vom römischen Recht weniger beeinflusst als das deutsche oder französische.

3.5 Verfahrensrecht

Als weiteres Merkmal des a.n R.es gilt die bes.e Bedeutung des Verfahrensrechts. Historisch lässt sich das an den bereits erwähnten actions und writs nachweisen, an der weitreichenden Verfahrensgarantie in chapter 29 der Magna Carta von 1215, aber auch den frühen Schutz der Freiheit der Person durch den spätmittelalterlichen writ des Habeas corpus. Bis heute denkt das Common Law tatsächlich stark prozessual.

Im Rechtsbewusstsein der Common Law-Rechtsordnungen ist das adversariale Verfahren fest verankert, in dem die Parteien dominieren. Sie bestimmen den Streitstoff sowie die Beweismittel und -aufnahme, während dem Richter bis zum Urteil eher prozessordnende Funktionen zukommen. Typisch dafür ist das Kreuzverhör, bei dem Richter traditionell keine oder nur ergänzende Fragen an Zeugen und Sachverständige stellen, aber auch die weitreichenden Rechte der Parteien bei der Beschaffung von Dokumenten bei der Gegenpartei oder Dritten im Rahmen der disclosure bzw. discovery. Prägend für das englische Verfahren ist der barrister, ein auf die Vertretung der Partei im Prozess spezialisierter Rechtsanwalt, zu dessen wichtigen Aufgaben auch gehört, dem Richter das Recht zu erläutern. Dieses Rechtsgespräch zwischen Richter und Parteien bringt den benefit of the full argument. Schon die Terminologie verrät die Ablehnung des Gegenmodells, das so genannte inquisitorische Verfahren, das kontinentalen Rechtsordnungen etwas zu pauschal unterstellt wird, und in dem der Richter den Prozess leitet und dominiert, Zeugen und Sachverständige lädt, als erster vernimmt, zur Aufklärung des Sachverhalts aktiv beiträgt und Rechtsdiskussion ablehnt (iura novit curia). Übersehen wird dabei allerdings leicht, dass die lange so erfolgreiche Chancery bis zu ihrer Integration in die allgemeine Gerichtsbarkeit 1873/75 dem inquisitorischen Modell folgte. An dieses lehnt sich mittlerweile auch die reformierte englische Zivilgerichtsbarkeit für Fälle mit geringem Streitwert im small claims track stärker an und wertet allgemein die Rolle des Gerichts bei der vorausschauenden Prozessgestaltung im Wege des case management auf. Die allzu starre Unterteilung in adversarial und inquisitorisch orientierte Rechtsordnungen wird auch in Frage gestellt von Mirjan Dama&shatsch;ka (1986), der einzelne Verfahrenstypen auf einer Vier-Felder-Matrix von hierarchischen und koordinierenden sowie von policy-implementierenden und konfliktlösenden Verfahren zuordnet und damit eine ungeahnte Vielfalt innerhalb einzelner sowie Gemeinsamkeiten zwischen Common Law- und anderen Rechtsordnungen nachweist.

3.6 Induktives, deduktives und konzeptuelles Denken

Dem Common Law wird eine Neigung zum induktiven Denken nachgesagt, die im Kontrast zu einer kontinentaleuropäischen Neigung zum deduktiven Rechtsdenken stehe. Deshalb neige der a. R. auch weniger zu konzeptuellem Denken als die kontinentalen Rechtsordnungen mit ihren Begrifflichkeiten.

Richtig ist daran zunächst, dass Fallrecht sich einer Klassifikation leicht entzieht, während Kodifikationen ohne klassifizierende Gliederungen kaum denkbar sind. Berühmt ist das Diktum von Thomas Holland, wonach „the old fashioned English lawyer’s idea of a satisfactory body of law was a chaos with a full index“ (1870: 171). Tatsächlich werden in der einzigen aktuellen Gesamtdarstellung des englischen Rechts in Halsbury’s Laws of England die einzelnen Rechtsgebiete alphabetisch sortiert und erschlossen.

Richtig ist auch, dass das englische Fallrecht wie oben beschrieben seine Regeln induktiv entwickelt. Auch die Gesetzgebung im a.n R. vermeidet meist Generalklauseln oder gar die Kodifizierung von Rechtsprinzipien, aus denen die Rechtsprechung Details deduktiv entwickeln müsste, und bevorzugt die schrittweise Abarbeitung einzelner Regelungspunkte.

Andererseits finden sich in anglo-amerikanischen Gesetzen grundrechtsbeschränkende Klauseln von aus deutscher Perspektive erschreckender Breite und Unbestimmtheit. So wird bis heute nach dem Obscene Publications Act 1959 die Veröffentlichung von Werken strafrechtlich verfolgt, die „tend to deprave and corrupt“. Wäre die Richterschaft nicht grundrechtsfreundlicher geneigt als der Wortlaut dieser Vorschrift, und gäbe es nicht schon viel Fallrecht dazu, wäre das ein modernes Beispiel für J. Benthams „dog-law“. Auch wird die Einbürgerung nach dem British Nationality Act 1981 bis heute davon abhängig gemacht, dass der prospektive Neubürger „of good character“ ist.

Auch das englische Fallrecht hat mit dem trust eine Rechtsinstitution geschaffen, das mit einem eleganten Drei-Parteien-Konstrukt höchst vielfältige Situationen im Sachenrecht, Erbrecht, Familienrecht und Schuldrecht abdecken kann, wo etwa zweiseitige vertragsrechtliche Regelungen oder die bescheidene deutsche Treuhand nicht mithalten können. Und eines der konzeptuellsten Argumente, denen man in der Rechtsprechung begegnen kann, stammt aus einem englischen Fall. In Sinclair v Brougham [1914] AC 398 befand das House of Lords, dass der Kunde einer Bausparkasse, die gesetzeswidrig Bankgeschäfte betrieb, seine Einlage nicht zurückerhalten könne. Denn der Bereicherungsanspruch basiere auf einem fiktiven Rückzahlungsversprechen, und das sei notgedrungen genauso unwirksam wie der gesetzeswidrige Bankvertrag. Das führt zum nächsten Thema:

3.7 Vorliebe für Rechtsfiktionen

Im a.n R. ist eine starke Neigung zu Rechtsfiktionen verbreitet. Rechtsfiktionen galten sogar lange neben Equity und Gesetzgebung als wichtiges Mittel für die Entwicklung des Rechts. Ein schönes Beispiel ist die Überwindung der (durch gesetzgeberische Nachlässigkeit entstandenen) Beschränkung von Gewohnheitsrecht auf Rechte, die nachweislich schon 1189 existierten. Hier half lange ein fiktiver lost grant, ein angeblich auf einer später verlorenen Urkunde verbrieftes Recht, „although neither judge nor jury, nor any one else, had the shadow of a belief that any such instrument had ever really existed.“ (Cockburn CJ in Bryant v Foot [1867] L.R. 2 Q.B. 161, 181). Erwähnt wurden bereits der fiktive Landfriedensbruch, der weite Bereiche des Schuldrechts beherrschte, sowie die traditionelle Begründung des Bereicherungsrechts auf ein fiktives, unwiderlegliches Versprechen der Rückzahlung. „John Doe“, im amerikanischen Englisch ein so klassischer Platzhaltername wie „Lieschen Müller“ auf Deutsch, geht auf fiktive Prozessparteien zurück, deren Einschaltung im späten 17. Jh. Räumungsklagen erleichterte.

Mittlerweile ist bisweilen die Fiktion selbst fiktiv. Wenn eine Common Law-Rechtsregel die Wörter „is deemed to“ enthält, wird die Fiktion oft nur vorgetäuscht, denn die letzten zwei Wörter können häufig ohne jeden Bedeutungsverlust gestrichen werden. Diese fiktive Fiktion, in der Sache nicht mehr als eine pompöse Floskel, hat mittlerweile breiten Einzug in die EU-Gesetzgebung (Europarecht) gefunden.

3.8 Zusammenfassung

Mit Ausnahme der USA, die nach der frühen Abspaltung einen eigenständigeren Weg gegangen sind, weist der a. R. eine beachtliche Kohärenz auf. Aber nicht alle dem a.n R. traditionell unterstellten Charakteristika erweisen sich bei näherer Hinsicht als ewige Wahrheiten zum Common Law. Die sorgfältige Entwicklung des Rechts aus Fällen, die geringe Neigung zu Kodifikationen, die starke Betonung des Verfahrensrechts, eine bemerkenswerte Fähigkeit, aus nahezu jeder Krise gestärkt hervorzugehen sowie eine gelungene Balance zwischen Rechtssicherheit und Fähigkeit zur Anpassung an geänderte Verhältnisse zeichnen das moderne Common Law ebenso aus wie die Unfähigkeit, historischen Ballast vollständig über Bord zu werfen. In den Worten von David Ibbetson (1999: 294): „The Common law has many virtues; tidiness is not among them.“