Dialektik

D. umfasst als dialektikē technē schon bei Platon und dann wieder bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel alle Formen des Logischen, gerade auch als Kritik an vermeintlich allgemein gültigen Regeln des formal-logischen dialegesthai, eines bloß üblichen „wissenschaftlichen“ Erfragens und vermeintlichen Gebens von Gründen. Gerade in dem Dialog mit dem Titel „Sophist“ expliziert Platon den Kern der formalen Logik, die Definitionslehre kriterialer Dihairesis, das Urbild aller „Porphyrischen Bäume“ in taxonomischen Klassifikationen von Gegenständen, für die als sortale schon klare Bedingungen der Identität und Verschiedenheit unterstellt werden. Es wird dabei ein Genus (eine Familie oder Gattung G) wie im Paradigma der Lebewesen durch spezifische Differenzen in Arten A, B und Unterarten eingeteilt. Die logikē technē ist seit Aristoteles zunächst Übersicht über die allgemein gültigen Schlussformen der „mereologischen“ Verhältnisse von Teil und Ganzem wie „Inklusion“ oder „Exklusion“. In der modernen Logik nach Gottlob Frege kommt nur eine ausgefeilte Definitionslehre für die Aussageformen A(x) hinzu, welche Teilklassen definieren, und zwar auf der Basis von Regeln für den wahrheits-wertlogischen und eben damit klassifikatorischen Gebrauch von Satz-Junktoren wie „und“, „nicht“ und Quantoren wie „für alle“, außerdem die Unterscheidung zwischen einer Elementbeziehung und einer Teilmengenbeziehung. Die D. wird in dieser Tradition zu einer bloßen Topik degradiert, d. h. zu einer Sammlung von sophistischen Widerlegungen oder schlechten Argumenten, die es durch eine „formale“ logische Analyse auf der Basis definitorischer Begriffsschärfungen „aufzuheben“ gelte. Die formale Logik, die bei Platon noch das Problem war, wird hier zu einer Art Werkzeug echter Wissenschaft, was aber unterstellt, dass den Begriffen scharf umrandete (Teil-)Mengen in schon als definiert vorausgesetzten sortalen Gegenstandsbereichen entsprechen, wie das rein nur in der Mathematik möglich ist.

Noch Immanuels Kants transzendentale Dialektik steht in dieser Tradition des Aristoteles. Sie ist Anwendung einer transzendentalen Analytik als einer Logik sachhaltiger Aussagen, die als solche transzendentale, d. h. implizit unterstellte oder „präsupponierte“ kategoriale Bedingungen für den empirischen Gegenstandsbezug und die empirische Wahrheit analysiert, wie sie in gemeinsamer Anschauung überprüft werden. Die D. hebt auf dieser Grundlage „vernünftelnde“ Schlüsse auf, bes. die von I. Kant sogenannten Paralogismen und Antinomien der reinen Vernunft (Vernunft – Verstand). Dabei ist ein Schluss ein Paralogismus, wenn er „der Form nach“ falsch ist, „sein Inhalt mag … sein, welcher er wolle“ (Kant 1983: 341). Die „Antinomie der reinen Vernunft“ (im generischen Singular) besteht in einer „reinen (rationalen) Kosmologie“, die „in ihrem blendenden, aber falschen Scheine darzustellen“ ist (Kant 1983: 401).

G. W. F. Hegels D. ist im Grunde einfach Verallgemeinerung von I. Kants bahnbrechenden Einsichten. Es wird bei ihm vollends klar, dass die sogenannte formale Logik der Tradition, heute unter Einschluss der mathematischen Logik G. Freges, keineswegs eine allgemeine Logik sprachlichen Weltbezugs ist. Das System ihrer vermeintlich allgemein gültigen Aussage- bzw. Schlussformen gilt nur für ganz spezielle Bereiche, nämlich für rein mathematische Quantitäten (Zahlen, Größen, Proportionen) oder rein sortale Mengen und ihre Relationen, nicht aber für die Benennungen von in ihrer Seinsweise kontinuierlich sich ändernden, entstehenden und vergehenden, Sachen und Wesen der realen Welt. Man kann über empirische Gegenstände nie ohne Beachtung der Sprecher und des Redekontexts etwas aussagen. Damit wird das formale Schließen als schematisches Rechnen mit Satzformen in konkreten Anwendungen auf innerweltliche Sachen durchaus unzuverlässig, führt regelmäßig in beständige Widersprüche und formal unlösbare Aporien.

Bloß äußerlich ähnlich wie G. W. F. Hegel aber ohne jeden Fokus auf das Problem der formalen Logik haben auch der späte Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher versucht, an die D. Platons anzuknüpfen, die aber wieder bloß als topische Sammlung von Regeln verstanden wird, in einem Streitgespräch zu einer gemeinsamen Anerkennung einer „Wahrheit“ zu gelangen. Als „Lösung“ der D. des Daseins, der Absurditäten endlichen Lebens, fordert Søren Aabye Kierkegaard den Sprung in den religiösen Glauben – und damit eine Rückkehr zu einer Transzendenz, dessen klassisch-philosophischer Begriff in I. Kants transzendentaler Logik und D. kritisiert worden war. Die „dialektische“ Theologie Karl Barths und Rudolf Bultmanns setzen S. A. Kierkegaards Tradition fort – wobei dessen dialektische Ironie zur indirekten Mitteilung wird, ähnlich wie die sogenannten „unsinnigen“ Sätze in Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“. Bei Ludwig Andreas Feuerbach wird D. zu einer Methode einer diachron-erklärenden, bei Karl Marx zugleich zu einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie, was vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen historia und theoria zu begreifen ist. Erstere ist bloß erst oberflächliche Beschreibung von Erscheinungen, man denke etwa heute an anekdotische Statistiken. Sie sind zu erklären durch eine strukturelle Darstellung praktisch anerkannter Formen kooperativen Handelns und deren Entwicklung durch Kritik und institutionelle Umbauten. G. W. F. Hegels dogmatismuskritische Warnung, dass theoretische Setzungen derartiger Erklärungen bloße Versicherungen bleiben, wenn sie nicht in einem freien Dialog der Wissenschaften als gute Orientierungen gesetzt werden, wird bis zur Frankfurter Schule Max Horkheimers übertönt durch eine allzu allgemeine Ideologie-, Verdinglichungs- und Entfremdungskritik (Ideologie, Verdinglichung, Entfremdung). Andererseits wird seit Friedrich Engels im Marxismus etwa auch bei Karl Kautsky D. mehr und mehr ontisierend gedeutet als „Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens“ (MEW 20: 131 f.) und zwar gemäß eines allzu schematischen Dreisprungs, der von Thesen über Antithesen zu Synthesen in einer „Entwicklung durch den Widerspruch“ (MEW 20: 307) führen soll. Wladimir Iljitsch Lenin wehrt sich zwar verbal dagegen, „irgend etwas mit Hilfe von Triaden beweisen zu wollen“ (LW 1: 156), hält auch nichts von einer D. der Natur, mystifiziert aber selbst G. W. F. Hegels hochspezielle Rede von einem „Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt“ (MEW 20: 348), was bestenfalls als vage Chiffre Sinn hat, da eine Praxisform nur anerkannt ist, wenn hinreichend viele Personen ihr gemäß handeln. Die Kritik an der objektivistischen Lesart marxistischer D. durch Eduard Bernstein und Max Adler hat sich nicht durchgesetzt. In überschwänglichen Reden von einer „allseitigen“ Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird stattdessen auch bei Georg Lukács oder Theodor W. Adorno auf mystifizierende Weise mit dem Titelwort „Totalität“ (Horkheimer/Adorno 1971: 25) operiert und von einer „Dialektik der Aufklärung“ gesprochen als Folge einer langen Entwicklung bloß scheinbar rationaler Arbeitsteilungen, die in Wirklichkeit geprägt seien durch kapitalistische Eigentums- und damit Machtverhältnisse (Kapitalismus).

Adolf Trendelenburg hat zwar G. W. F. Hegels D. nicht ganz zu Unrecht als eine Logik des „Weder-Noch und Sowohl-Als-Auch“ (A. Trendelenburg 1840: 93 f.) charakterisiert, verkennt aber in seinem Festhalten an der aristotelischen Tradition formaler Logik deren eigentliches Problem, nicht anders als Bernard Bolzanos Kritik an deren Unschärfe, da es ja gerade um die unausweichliche Vagheit jedes Realbegriffs und jeder auf reale Erfahrungen bezogenen Wahrheiten geht. In ähnlicher Weise gehen Eduard von Hartmanns Vorwurf, die Hegelsche D. sei „legitimationslos“ (Hartmann 1868: 122) und Karl Raimund Poppers Meinung, sie erlaube sich durch Ablehnung des formallogischen Widerspruchsprinzips ein inkonsistentes Daherreden an deren Einsichten einfach vorbei, dass alle Aussagen zunächst Versicherungen sind und generische Normalfallfolgerungen oder begriffliche Default-Inferenzen in den Wissenschaften als Ergebnis eines Dauerdiskurses um das beste Allgemeinwissen kanonisiert werden.