Verdinglichung
V. ist ein Begriff der Kritik. Er wird auf dreifache Weise verwendet, in jedem Fall aber dient er nicht nur der Beschreibung eines sozialen Sachverhalts bzw. eines menschlichen Erkennens und Handelns, sondern verbindet damit eine negative Beurteilung. Eine Ausnahme davon stellt eine Überlegung dar, die mit Bezug auf Theodor W. Adornos Vorstellung eines „Vorrangs des Objekts“ (Adorno 2006: 64) zu zeigen versucht, dass soziale Integration und Vermittlung notwendigerweise einen Prozess der V. voraussetze. Gemeinsam ist allen Verwendungsweisen, dass Tätigkeiten und Lebensweisen, soziale Beziehungen und Personen, die nur als humane oder soziale Verhältnisse angemessen erfasst werden können oder behandelt werden sollten, durch den Versuch verfehlt, verletzt oder missachtet werden, sie in objektivierenden Begriffen zu erfassen oder wie einen Gegenstand zu behandeln.
1. Soziale Pathologie: (Neo)marxistische Perspektive
Im umfassendsten Sinne und damit verbunden auch als fundamentale Kritik wird in (neo)marxistischer (Marxismus) Theoriebildung von V. gesprochen. Karl Marx’ Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und dem Warenfetischismus folgend, hat insb. der Philosoph Georg Lukács im zentralen Essay „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ seines zuerst 1923 erschienen Buches „Geschichte und Klassenbewußtsein“ die neomarxistische Kategorie der V. herausgearbeitet, indem er die Marxsche Kritik des Warenfetischismus mit Max Webers Theorie der Rationalisierung in der Moderne verknüpft hat. Die Warenstruktur und das Prinzip der Rationalisierung durchdringen alle individuellen und sozialen Tätigkeiten des Menschen und verfälschen demnach das ganze Leben der Gesellschaft, indem sie alle als „organisch“ (Weber 1985: 173) oder qualitativ erachteten menschlichen Betätigungen, Beziehungen und Lebensformen deformieren.
Von G. Lukács her wird der Begriff der V. „in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Leitmotiv der Sozial- und Kulturkritik im deutschsprachigen Raum“ (Honneth 2015: 13), der sich in den folgenden Jahrzehnten „wie ein roter Faden durch die gesellschaftstheoretischen Entwürfe der Frankfurter Schule zieht“ (Quadflieg 2019: 16). Bezeichnet wird damit die allumfassende (bewusstseins-)entstellende Wirkung, die der Kapitalismus und ein verkürztes Vernunftverständnis des Rationalismus auf alle Aspekte des menschlichen Lebens ausübt: auf das Verhältnis der Menschen zur Natur, zu den menschlich erzeugten Produkten und zum Prozess des Arbeitens (Arbeit) selbst, auf die sozialen Beziehungen und die kulturellen Formen wie auf das Verhältnis, das der Mensch zu sich selbst (und zu seiner Arbeitskraft) einnimmt.
G. Lukács’ Theorie der V. ist auch insoweit eine umfassende, als sie sowohl die ethisch-normative Komponente als auch die philosophisch-erkenntnistheoretische Dimension des Begriffs mit umfasst und zu erklären beansprucht. In dieser allgemeinen gesellschaftskritischen Weise wurde auch in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule mit dieser Kategorie argumentiert.
In der kritischen Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie der Gegenwart schreiben insb. Axel Honneth sowie Dirk Quadflieg mit der Studie „Vom Geist der Sache“ (2019) die Geschichte der V.s-Kritik fort. V. wird dabei differenzierter verstanden, dient nicht mehr als kritisches Passepartout und Inbegriff aller kapitalistischen Verfehlungen. A. Honneth reformuliert das Konzept der V. anerkennungstheoretisch (Anerkennung). „Verdinglichung im Sinne der ‚Anerkennungsvergessenheit‘ bedeutet […], im Vollzug des Erkennens die Aufmerksamkeit dafür zu verlieren, daß sich dieses Erkennen einer vorgängigen Anerkennung verdankt“ (Honneth 2015: 70). Damit treten auch andere als nur ökonomische Formen der V. hervor, etwa im Rassismus, und es werden auch andere soziale Strukturen und Praktiken als Ursachen verdinglichender Einstellungen diskutiert, die ein Anerkennungsvergessen befördern.
2. Ethische Perspektive
Während V. als Begriff der Sozial- und Kulturkritik die deformierenden Wirkungen auf der systemischen Ebene des Kapitalismus oder in Strukturen und Praktiken der modernen Gesellschaft entlarven soll, stehen bei der Kritik der V. im moralischen Sinne v. a. das zu verantwortende Handeln und die Einstellungen des einzelnen im Blick sowie von diesem her die daraus sich ergebenden (fehlerhaften) sozialen Prozesse und Strukturen. Ein bes. sinnfälliges Beispiel stellt die sexuelle V. dar: zumeist durch die Darstellung von und das Verhalten zu Frauen, die als Sexualobjekte oder als Waren entmenschlicht werden. Martha Craven Nussbaum unterscheidet sieben Verhaltensweisen der V., von denen bes. die Instrumentalisierung und die Leugnung der Autonomie als moralisch verwerflich gelten. Sie hebt aber hervor, dass für eine moralische Verurteilung eines Handelns als V. immer der Gesamtkontext einer sozialen Beziehung zu berücksichtigen ist, innerhalb dessen die verdinglichende Handlung erfolgt. Wer andere Menschen oder auch sich selbst verdinglicht, einen Jemand als ein Etwas behandelt, verletzt die Würde des Menschen (Menschenwürde) als Person bzw. verweigert die menschliche Anerkennung, welche diese Würde erheischt.
3. Erkenntnistheoretisches Konzept
Als Bezeichnung für einen erkenntnistheoretischen Kategorienfehler hat V. (als „Hypostasierung“) vermutlich die am weitesten zurückreichende Geschichte. In der „Kritik der reinen Vernunft“ kritisiert Immanuel Kant das Blendwerk, zu dem es kommt, wenn etwas, „was bloß in Gedanken existiert“ (Kant: 1983: 384), zu einem wirklichen Gegenstand außerhalb des denkenden Subjekts gemacht werde. Zu einem Erkenntnishindernis wird V., wenn Ordnungs- oder Funktionsbegriffe (etwa die Begriffe der Zeit oder des Raumes) wie Ding- oder Substanzbegriffe verwendet werden (vgl. Cassirer 2000). Ebenfalls als Erkenntnishindernis wirkt V., sofern soziale Beziehungen sprachlich so gefasst und so verstanden werden sollen, als wären es Gegenstände. Laut Norbert Elias leisten die alltägliche wie die sozialwissenschaftliche Wort- und Begriffsbildung zuweilen einer „Verdinglichung und Entmenschlichung der gesellschaftlichen Gebilde in der Reflexion“ Vorschub (Elias 2006: 16). Der zunächst begrenzte sprachliche und erkenntnistheoretische Kategorienfehler kann indes weiterreichende Folgen haben, bleiben doch die menschlichen Formen des Wissens von sich und der wissende Umgang von Menschen mit der Natur und der Gesellschaft nicht ohne Folgen. Hierin könnte man eine idealistische Entsprechung zur materialistischen marxistischen Kategorie der V. erkennen. Am Ende zahlt der Mensch für ein verdinglichendes Verstehen und verdinglichendes Verhältnis zur Natur mit einer V. seiner selbst.
Literatur
D. Quadflieg: Vom Geist der Sache. Zur Kritik der Verdinglichung, 2019 • A. Honneth: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, 2015 • V. Chanson u. a. (Hg.): La Réification. Histoire et actualité d’un concept critique, 2014 • T. W. Adorno: Negative Dialektik, 2006 • N. Elias: Was ist Soziologie?, 2006 • M. C. Nussbaum: Verdinglichung, in: dies.: Konstruktionen der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. Drei philosophische Aufsätze, 2002, 90–162 • E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 2000 • M. Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: J. Winckelmann (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 61985, 146–214 • I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: W. Weischedel (Hg.): Werke, Bd. 2, 1983 • G. Lukács: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in: ders.: Geschichte und Klassenbewußtsein, Bd. 2, 1968, 94–228.
Empfohlene Zitierweise
D. Lüddecke: Verdinglichung, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Verdinglichung (abgerufen: 21.11.2024)