Europäische Union (EU)
1. Begriff
Die EU ist die durch den Vertrag von Maastricht 1992 gegründete supranationale Organisation mit damals 15, derzeit (vor dem für 2019 beabsichtigten Austritt Großbritanniens) 28 Mitgliedstaaten. Dadurch wurde der Entwicklung der EWG zu einer weitere Politikfelder (Innen- und Außenpolitik) erfassenden Organisation Rechnung getragen, was in der Umbenennung der EWG in EG und im Drei-Säulen-Modell des Maastricht-Vertrags (Europäische Gemeinschaften EGKS, EG und EURATOM; GASP; ZBJI) zum Ausdruck kam. Durch den Vertrag von Lissabon von 2007, der aktuellen rechtlichen Basis der EU, wurde das Säulenmodell dadurch aufgelöst, dass die EU als Rechtsnachfolgerin (auch) an die Stelle der EG trat (Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV), so dass jetzt als Völkerrechtssubjekt eine einheitliche EU besteht. Dies sollte auch Verwirrungen im Sprachgebrauch (EU/ EG) entgegenwirken, allerdings verbunden mit der Aufgabe des die Besonderheit dieses europäischen Zusammenschlusses treffenden und in allen 24 Amtssprachen der EU kongenialen Begriffs der „Gemeinschaft“.
2. Entstehungsgeschichte
2.1 Die Gründung der Europäischen Gemeinschaften
Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs stellte die europäischen Staaten angesichts der Folgen eines Krieges zwischen ihnen und der sich offenbarenden Dominanz der Supermächte USA und UdSSR vor die Aufgabe, kriegerische Auseinandersetzungen untereinander zu verhindern und gemeinsam den politischen Einfluss in der Welt wiederzuerlangen. In seiner berühmten Zürcher Rede forderte Winston Churchill 1946 die „Neugründung der Europäischen Familie“ (zit. nach Gasteyger 1991: 40), die insb. eine Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich erfordere, während er Großbritannien in der Rolle eines Freund und Förderers sah. Die Grundlagen des bis dahin nur theoretisch entwickelten Europagedankens, nämlich der Friedenssicherung, der Supranationalität, der Freiheit von Handel und Verkehr und der Machterhaltung Europas wurden unter dem Eindruck der Bedrohung durch den Ost-West-Konflikt und beschränkt auf Westeuropa zunächst durch die Gründung der EGKS durch den Vertrag von Paris 18.4.1951 (in Kraft 23.7.1952; außer Kraft getreten am 23.7.2002), der die Schlüsselindustrien für die Kriegswirtschaft einer Hohen Behörde (die später in der Europäischen Kommission aufging) unterstellte, zwischen Deutschland, Frankreich, Italien sowie Belgien, den Niederlanden und Luxemburg verwirklicht, wobei weiteren Staaten der Beitritt offen gehalten wurde. Durch ihre Supranationalität (Übertragung von Hoheitsrechten, Mehrheitsprinzip, Begründung von unmittelbaren Rechten für die Bürger der Mitgliedstaaten) unterschied sich die EGKS von herkömmlichen völkerrechtlichen Organisationen wie z. B. dem Europarat. Nachdem sich das unter dem Eindruck dieses Erfolgs angestrebte Projekt einer EVG 1952 jedenfalls so kurze Zeit nach Kriegsende als zu ambitioniert erwies, gingen die Vertragsparteien einen Schritt zurück und beschränkten sich auf eine wirtschaftliche Integration. Der damit verbundene funktionalistische Ansatz erhoffte dabei einen „Spill-over-Effekt“ in Richtung einer nachfolgenden politischen Integration. Durch die Römischen Verträge vom 25.3.1957 (in Kraft seit 1.1.1958) wurden die EWG und die EURATOM gegründet. Die EWG enthielt bereits damals die in mehreren Stufen bis Ende 1969 (Ablauf der Übergangszeit) herzustellenden grundlegenden Elemente Zollunion (Abschaffung der Binnenzölle, gemeinsamer Außenzoll) und Gemeinsamer Markt mit den Grundfreiheiten des freien Waren-, und Personen- und (noch abgeschwächt) Kapitalverkehrs.
2.2 Die Entwicklung bis zum Vertrag von Maastricht
Die Pläne zu institutionellen Reformen der EG verfolgten v. a. folgende Ziele:
a) Stärkung der Rolle des &pfv;Europäischen Parlaments,
b) Verbesserung des Entscheidungsverfahrens im Rat der Europäischen Union,
c) Steigerung der Effizienz der Arbeitsweise der Kommission.
Die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments wurde v. a. von diesem selbst gefordert. Von Reformberichten wurde dies teilweise, von den Regierungen der Mitgliedstaaten, von denen die dazu notwendigen Initiativen (Praxis des Rates, ggf. Vertragsänderungen) ausgehen müssen, eher zurückhaltend unterstützt. Immerhin wurde das Europäische Parlament 1975 am Haushaltsverfahren beteiligt, seine Anhörung wurde erweitert, es erhielt das wichtige Fragerecht gegenüber Rat und Kommission. Die EEA vom 27./28.2.1986 (in Kraft nach dem in Irland erforderlichen Referendum seit 1.7.1987) beteiligte das Europäische Parlament mit dem Verfahren der Zusammenarbeit an der Gesetzgebung, wobei sein Votum allerdings vom Rat mit Einstimmigkeit überstimmt werden konnte. Seit 1979 wird das Europäische Parlament alle fünf Jahre direkt gewählt, wobei bis jetzt trotz gewisser Vereinheitlichungen (z. B. Verhältniswahlrecht) kein einheitliches Wahlverfahren zustande gekommen ist und die Europawahlen innerhalb der unionsrechtlichen Vorgaben nach den nationalen Wahlrechten der Mitgliedstaaten erfolgen. Im Rat wurde die mit Ablauf der einzelnen Stufen der Übergangszeit vorgesehene Mehrheitsabstimmung durch die sogenannte Luxemburger Vereinbarung vom 29.1.1966 praktisch außer Kraft gesetzt. Die Rolle der Kommission wurde durch die EEA durch die Ausweitung der Übertragung von Durchführungsbefugnissen gestärkt. Von den Plänen zur Schaffung einer Europäischen Politischen Union setzten sich diejenigen durch, die eine Ergänzung der Integration im Wege der Gründungsverträge durch eine institutionalisierte Zusammenarbeit in den Bereichen außerhalb der Verträge durch eine EPZ in den Bereichen Außen- und Innenpolitik und eine Verklammerung beider Bereiche vorsahen, was durch die (wohl deshalb so genannte) EEA zur Änderung der Verträge erfolgte. Neben den institutionellen Reformen enthielt die EEA als wichtige materielle Regelung das Konzept für den Europäischen Binnenmarkt, das bis 1992 die im Gemeinsamen Markt noch bestehenden Hindernisse für einen Raum ohne Binnengrenzen (s. jetzt Art. 26 AEUV) beseitigen sollte. Zugleich wurde das Mehrheitsprinzip im Rat ausgebaut und auch praktisch durchgesetzt.
2.3 Der Vertrag von Maastricht als „Gründungsvertrag“ der EU
Durch den Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992 (in Kraft nach Verzögerungen durch ein zunächst negatives Referendum in Dänemark und das nach Verfassungsbeschwerden erforderliche Urteil des BVerfG [BVerfGE 89, 155]) sollte der mit der Gründung der EG eingeleitete Prozess mit der „Gründung“ der EU „auf eine neue Stufe“ gehoben werden. Entscheidend dafür waren die erheblichen substanziellen Veränderungen sowie für die weitere Entwicklung auch die dafür gesetzten Zielvorgaben. Das Strukturproblem einer großen, eng verbundenen und mit weiten Kompetenzen ausgestatteten Gemeinschaft von im Übrigen souverän bleibenden Staaten (dies hebt der vom BVerfG geprägte Begriff des &pfv;„Staatenverbundes“ hervor) sollte durch das Postulat einer „immer engeren Union der Völker Europas“, „in der Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“ (Art. 1 Abs. 2 EUV), gelöst werden. Um dies zu verdeutlichen, wurden das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung für die Kompetenzen der EU und die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit für deren Ausübung ausdrücklich festgelegt (jetzt Art. 5 EUV) sowie die EU verpflichtet, die „nationale Identität“ ihrer Mitgliedstaaten zu achten (jetzt Art. 4 Abs. 2 EUV). Die EU als „Union von Völkern und Staaten“ stützt sich auf eine in ihrem Gleichgewicht neuartige und mit den Begriffen des Bundesstaats nicht erfassbare doppelgleisige demokratische Legitimation über das Europäische Parlament und den Rat, dessen Mitglieder von den Mitgliedstaaten entsandt und von den nationalen Parlamenten kontrolliert werden (jetzt Art. 10 Abs. 2 EUV). Die bereits in der EEA angelegte Verbindung supranationaler und intergouvernementaler Elemente wurde im Drei-Säulen-Modell mit den Europäischen Gemeinschaften (der jetzt EG genannten EWG, der EURATOM, die nach wie vor neben der EU fortbesteht und mit der EU verbunden ist, vgl. Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon, ABl.EU 2007 C 306/199, Art. 106a EAGV, und der 2002 auslaufenden EGKS) einerseits und der GASP und ZBJI andererseits auf neuer vertraglicher Grundlage und mit institutionellen Verknüpfungen fortgeführt. Dem Europäischen Rat als politischem Leitungsorgan wurden Zuständigkeiten im Rahmen der EU insgesamt übertragen. Das Europäische Parlament wurde durch das Verfahren der Mitentscheidung im Rahmen von dessen Tragweite zum Mitgesetzgeber mit dem Rat. Mit dem AdR erhielten die Regionen eine, wenngleich nur beratende, Vertretung innerhalb der EU. Materiell am bedeutsamsten und Kernstück des Vertrages war die Schaffung der EWWU, wobei mit der Währungshoheit für die Staaten, die der Währungsunion angehören (ursprünglich 11, jetzt 19), ein wesentliches Element der Souveränität auf die EU und dort der EZB übertragen wurde. Der EUV führte auch die Unionsbürgerschaft ein, die zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzutritt, diese aber nicht ersetzt (jetzt Art. 9 S. 3 EUV), die in ihren vom EuGH entwickelten Wirkungen aber gewaltig unterschätzt wurde. Die erheblichen Änderungen führten in Deutschland dazu, dass an die Stelle der etwas „mageren“ (Hans Dieter Jarass) Bestimmung des Art. 24 GG als Grundlage (und Grenze) für die Integration in die EU Art. 23 GG n.F. (ersetzte den nach der deutschen Wiedervereinigung obsoleten Art. 23 GG a.F.) als lex specialis gesetzt wurde.
2.4 Die Änderungsverträge bis zum Vertrag von Lissabon
Der Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 (in Kraft seit 1.5.1999) brachte zwar einige institutionelle Änderungen. So wurde die Rolle des Europäischen Parlaments durch Ausweitung und Reform des Verfahrens der Mitentscheidung gestärkt. Ein Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unterstützte den Rat in Angelegenheiten der GASP. Mit der Möglichkeit zur verstärkten Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten wurde das Konzept eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten, das bereits (vorübergehend hinsichtlich des Vereinigten Königreichs) in der Sozialpolitik und in der EWWU bestand, allgemein institutionalisiert. Die angesichts der bevorstehenden Erweiterung der EU angestrebte wirkliche Reform der Institutionen gelang aber nicht. Materiell war v. a. die „Vergemeinschaftung“, d. h. der Wechsel der Bereiche Visa, Asyl, Einwanderung u. a. Politiken betreffend den freien Personenverkehr von der ZBJI, die auf die PJZS reduziert wurde, in die „Erste Säule“ der EG, und das Postulat eines RFSR bedeutsam (jetzt Art. 67, Art. 77–79 AEUV). Auch im Vertrag von Nizza vom 26.2.2001 (verzögert durch ein zunächst ablehnendes Referendum in Irland in Kraft seit 1.2.2003) erfolgten zwar institutionelle Änderungen, das Kernziel der Reform im Hinblick auf die Erweiterung wurde jedoch nur teilweise erreicht. Materiell-inhaltlich erfolgten nur wenige Neuerungen. Nach den widerrechtlichen Sanktionen gegen Österreich wegen der Bildung einer Regierung aus ÖVP/ FPÖ wurde im EUV eine Rechtsgrundlage für ein Sanktionsverfahren gegen Mitgliedstaaten geschaffen, welche die fundamentalen Grundsätze verletzen (jetzt Art. 7 EUV). Die 2000 ausgearbeitete EuGRC wurde von Rat und Kommission sowie vom Europäischen Parlament feierlich proklamiert und vom Europäischen Rat „begrüßt“, aber noch nicht in das Primärrecht aufgenommen.
Weil die Reformen der Verträge von Amsterdam und Nizza allenfalls die notwendigsten Anpassungen der Struktur der EU für die anstehenden Erweiterungen brachten, forderten die Erklärungen zur „Zukunft der EU“ und von Laeken, dass ein Konvent die Grundlagen für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa schaffen sollte. Dieser Verfassungsvertrag (VVE) sollte die bisherigen Verträge (EUV und EGV) ersetzen und deren Inhalte zusammenfassen. Der nach einigen Problemen am 29.10.2004 unterzeichnete Verfassungsvertrag scheiterte an ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden (Europäische Verfassung). In der danach eintretenden „Reflexionsphase“ wurden Konzepte entwickelt, aus denen nach schwierigen Verhandlungen schließlich der Vertrag von Lissabon hervorging.
2.5 Der Vertrag von Lissabon
2.5.1 Konzept des Vertrags von Lissabon gegenüber dem VVE
Der im Mandat des Europäischen Rates noch Reformvertrag genannte Vertrag von Lissabon wurde am 13.12.2007 unterzeichnet und trat nach einigen Schwierigkeiten im Ratifikationsprozess (zuerst ablehnendes Referendum in Irland; Widerstände der Präsidenten von Polen und Tschechien; Verfassungsbeschwerden und Auflagen des BVerfG [BVerfGE 123, 267] für die deutschen Begleitgesetze IntVG, EUZBBG, EUZBLG) am 1.12.2009 in Kraft. Gegenüber dem VVE wurden konsequent der Verfassungsbegriff und das Verfassungskonzept aufgegeben. Der Begriff „Verfassung“ wurde von der Mehrheit der Bürger wohl eher negativ empfunden mit der zumindest rechtlich unbegründeten Befürchtung der Ersetzung der nationalen Verfassungen durch die europäische. Alles, was die EU, die ein föderatives System ist, an einen „Staat“ erinnern könnte, wurde nicht übernommen: Symbole, die an sich auch wegen der Differenzierungen sinnvollen Bezeichnungen Gesetz bzw. Europäische Verordnung für VO und Europäisches Rahmengesetz für RL, aber auch die ausdrückliche Bestimmung über den Vorrang des Unionsrechts, der gemäß Erklärung Nr. 17 zum Vertrag von Lissabon nach wie vor auf der Rspr. des EuGH beruht (Europarecht). Statt eines einheitlichen Vertrags stehen rechtlich gleichrangig der EUV, der gegenüber dem EUV a.F. erhebliche Änderungen enthält, und der AEUV, der die Materien des EGV sowie der PJZS übernimmt, nebeneinander. Dagegen wurden der Inhalt des VVE und damit dessen Änderungen gegenüber den bisherigen Verträgen weitgehend übernommen.
2.5.2 Änderungen gegenüber den bisherigen Verträgen
Der Vertrag von Lissabon schafft die Säulenstruktur des Vertrags von Maastricht formell ganz, materiell allerdings nur eingeschränkt ab. Denn das materielle Recht der GASP ist nicht im AEUV, sondern im EUV geregelt, der auch die intergouvernementalen Besonderheiten der GASP festhält (Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 EUV). Institutionell ist es insb. gelungen, durch Bestimmungen über die Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung präzisieren, diesen ständigen Streitpunkt soweit wie möglich rechtlich zu erfassen (Art. 2–6 AEUV). Durch die Bestimmung der doppelt qualifizierten Mehrheit im Rat (Art. 16 Abs. 4 AEUV) wurde nicht nur eine Streitfrage gelöst, sondern durch den demographischen Faktor (wie bereits im Vertrag von Nizza) ein Gegengewicht gegen die Ungleichheit der Wahl im Europäischen Parlament geschaffen. Die Charta der Grundrechte der EU wurde durch die Einbeziehung in Art. 6 Abs. 1 EUV gleichrangig mit den Verträgen (EUV und AEUV) rechtlich verbindlich. Materiell wurden Änderungen vorgenommen, die die Kompetenzen der EU erweitern (z. B. in Art. 207 AEUV hinsichtlich der Gemeinsamen Handelspolitik), aber auch begrenzend präzisieren. Die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens des Europäischen Parlaments, das jetzt „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ genannt wird (Art. 289 Abs. 1, Art. 294 AEUV), und der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wurde fortgesetzt.
2.6 Durchgehende Tendenzen der Entwicklung
Als durchgehende Tendenz lässt sich die Kombination von Vertiefung durch zunehmende Kompetenzen der EU und der Erweiterung von sechs auf derzeit 28 Mitgliedstaaten feststellen (1973: Dänemark, Irland, Vereinigtes Königreich; 1981: Griechenland; 1986: Portugal, Spanien; 1995: Finnland, Österreich, Schweden; 2004: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, Zypern; 2007: Bulgarien, Rumänien; 2013: Kroatien). Diese Kombination bringt Probleme mit sich, die sich aktuell zeigen, zumal das „immer enger“ nicht nur vom jetzt austrittswilligen Vereinigten Königreich nicht akzeptiert wird. Institutionell erfolgte eine stetige Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments (Mitgesetzgeber mit dem Rat; Billigung der Besetzung der Kommission) und die Ausweitung des Mehrheitsprinzips im Rat. Materiell wurden über die Wirtschaftsgemeinschaft hinaus wesentliche Aspekte aller Politikbereiche erfasst oder zumindest berührt, was die politische Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten notwendig einschränkt, dort aber auch zu Akzeptanzproblemen führt. Wegen der erforderlichen Koordinierung der auf die EU (EZB) übertragenen Währungspolitik und der in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbliebenen Wirtschaftspolitik ergeben sich rechtlich wie politisch ebenso notwendige wie problematische Kombinationen von supranationalen und intergouvernementalen Elementen.
3. Rechtsnatur der EU
3.1 Die EU als qualitativ neue Entwicklungsstufe des Völkerrechts und qualitativ neue Kategorie der internationalen Organisationen
Wie die EG wurde auch die EU als deren Fortentwicklung durch einen völkerrechtlichen Vertrag gegründet und basiert nach wie vor auf diesem. Eine Änderung der Verträge ist im ordentlichen Vertragsänderungsverfahren nur durch einen Vertrag zwischen allen Mitgliedstaaten möglich, der der Ratifikation durch diese nach Maßgabe ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften bedarf (Art. 48 Abs. 4 EUV). Auch im vereinfachten Änderungsverfahren, das in beschränkten Bereichen möglich ist und bislang durch die Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV (Ermächtigung der Staaten, deren Währung der Euro ist, zur Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus), können die Verträge nicht gegen den Willen eines Mitgliedstaats und dessen Parlament geändert werden (Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 S. 3; Art. 48 Abs. 7 Abs. 3 EUV). Die Mitgliedstaaten können aus der EU auch austreten (Art. 50 EUV). Damit hat sich die EU noch nicht von ihrer völkerrechtlichen Grundlage gelöst.
Wie bereits die EG, für die dies der EuGH festgestellt hat (Rs. 26/62 – van Gend en Loos: „eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts“), stellt nach den Fortentwicklungen in diese Richtung erst recht die EU eine qualitativ neue Kategorie dar. Denn die Besonderheiten, die den hohen Integrationsgrad und die Supranationalität der EU kennzeichnen, nämlich die Ausstattung mit eigenen Rechtsetzungsbefugnissen, die Durchgriffswirkung des sekundären (VO, nach der Rspr. des EuGH auch RL) sowie teilweise auch des primären Unionsrechts, die Einsetzung unabhängiger Organe (Europäische Kommission, EuGH), deren Beschlüsse und Urteile für die Mitgliedstaaten verbindlich sind, und die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen, durch die Mitgliedstaaten überstimmt werden, aber gleichwohl an den Beschluss gebunden sind (Art. 16 Abs. 3 AEUV), sind in dieser Kumulation und Breite, in der in ihnen angelegten Integrationsdynamik (vgl. die Präambel des EUV: „immer engeren Union“; „um die europäische Integration voranzutreiben“) und der dadurch anwachsenden oder zumindest ermöglichten Integrationsdichte in der EU einmalig (Europäischer Integrationsprozess).
3.2 Die EU als „Staatenverbund“ und Union der Bürger
Das BVerfG hat im Maastricht-Urteil für die Charakterisierung der EU den Begriff „Staatenverbund“ geprägt: „Der Vertrag begründet einen europäischen Staatenverbund, der von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet; er betrifft die Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht eine Zugehörigkeit zu einem europäischen Staat.“ (BVerfGE 89, 155/181). Im Lissabon-Urteil wurde dies präzisiert und ergänzt: „Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – d. h. die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“ (BVerfGE 123, 267/Ls 1). Ansatzpunkt des BVerfG ist, dass die EU (ungeachtet der Fülle der auf sie übertragenen Kompetenzen und „Staatsfunktionen“ [Legislative durch Europäisches Parlament und Rat; Exekutive durch Kommission; Judikative durch EuGH]) auf der fortbestehenden Entscheidung der Mitgliedstaaten und, da die Mitgliedstaaten Demokratien sein müssen (Art. 2, Art. 49 EUV), deren Bürgern basiert. Der Begriff definiert die EU als eigene föderative Kategorie zwischen einem Staat und einem Staatenbund. Er erfasst aber nur einen Teil des Verbundcharakters der EU und auch nur einen Teil der Rechtsnatur der EU, die auch eine Union der Bürger ist. Dies zeigt sich durch deren unmittelbare, wenngleich noch auf die einzelnen Mitgliedstaaten aufgeteilte, Vertretung im Europäischen Parlament (Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 EUV; zur doppelgleisigen Legitimation der EU s. Art. 10 Abs. 2 EUV), und in der Begründung von unmittelbaren Rechten (und Pflichten) für die Unionsbürger durch das Recht der EU, insb. durch die Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes sowie durch das Sekundärrecht.
3.3 Rechtspersönlichkeit der EU
Gemäß Art. 47 EUV hat die EU Rechtspersönlichkeit. Damit übernimmt sie als Rechtsnachfolgerin der EG (Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV) deren bereits bestehende Rechtspersönlichkeit und erhält sie (was zuvor strittig war) ausdrücklich auch für die Bereiche GASP und PJZS. Während Art. 335. S. 1 AEUV die Rechts- und Geschäftsfähigkeit in den Mitgliedstaaten der EU betrifft, bezieht sich Art. 47 EUV auf die völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit, die der Anerkennung durch die jeweiligen Vertragspartner bedarf und gegenüber der EU ausdrücklich oder durch den Abschluss entsprechender Verträge erfolgt ist. Die Tragweite der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit der EU bestimmt sich nach den ihr insoweit übertragenen Kompetenzen (z. B. Gemeinsame Handelspolitik, Art. 3 Abs. 1 e, Art. 206 f. AEUV; ferner Art. 216 Abs. 1 i. V. m. Art 3 Abs. 2 AEUV: Annexkompetenz zu Binnenkompetenzen; Art. 217 AEUV: Assoziierungsabkommen; Art. 37 EUV: GASP).
3.4 Die EU-Verträge als Verfassung der EU
EUV und AEUV (sowie die über Art. 6 Abs. 1 EUV einbezogene EuGRC) sind als „Grundlage der Union“ auch deren Verfassung.
4. Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten
4.1 Rechtliche und politische Bedeutung
Das Verhältnis der EU zu ihren Mitgliedstaaten hat rechtliche Bedeutung für die Fragen der Grundlage der EU, des Verhältnisses von Unionsrecht und nationalem Recht, den gegenseitigen Rechten und Pflichten, der Abgrenzung der Kompetenzen von EU und Mitgliedstaaten, des Einflusses der Mitgliedstaaten in den Organen der EU, der unionsrechtlichen Vorgaben für die Mitgliedschaft in der EU und den Folgen für die Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung. Ereignisse wie der geplante Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, für den ein wesentliches Motiv wohl die Wiedergewinnung politischer Gestaltungsfreiheit war, die (wenig effektiven) Maßnahmen gegen Mitgliedstaaten, deren Umgestaltung der Verfassungsordnung die Frage der Vereinbarkeit mit den „Werten“ der EU (Art. 2 EUV), insb. der Rechtsstaatlichkeit aufwirft (Polen, Ungarn), die Auswirkungen nationaler Wahlen auf die EU, die deutliche Bekundung, Urteile des EuGH zur europäischen Asylpolitik nicht befolgen zu wollen (Ungarn), generell die Diskussion über „mehr“ oder „weniger“ Europa offenbaren aber auch ihre eminente politische Bedeutung.
4.2 Die Mitgliedstaaten als Träger der EU
Nicht nur die Gründung der EU und ihre vertragliche Fortentwicklung basiert auf dem Zusammenwirken ihrer Mitgliedstaaten. Auch ihr Fortbestand, ihr Umfang, ihre Fortentwicklung auf der Basis der Verträge und das Funktionieren der EU hängen vom Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander und zur EU ab. Innerhalb der verfahrensrechtlichen Schranken (Art. 48 EUV) sind die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“, was sich auch im Austrittsrecht (Art. 50 EUV) zeigt. Als Mitglieder der EU sind sie allerdings an diese gebunden, was die Einschränkung der eigenen politischen Gestaltungsfreiheit zur Folge hat. Die Mitgliedstaaten wirken über ihre Vertreter in den Organen Europäischer Rat (Art. 15 Abs. 2 EUV: Staats- und Regierungschefs) und Rat der Europäischen Union (Art. 16 Abs. 2 EUV: Minister) der EU mit. Für den Vollzug des Unionsrechts sind hauptsächlich die Mitgliedstaaten zuständig, die dazu auch verpflichtet sind (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV; Art. 291 Abs. 1 AEUV). Da die EU abgesehen von den durch den Vertrag von Maastricht eingeführten und im Vertrag von Lissabon verbesserten Maßnahmen zur Durchsetzung von Urteilen des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 260 Abs. 2 und 3 AEUV: Zwangsgeld und Pauschalbetrag), dem an hohe, im entscheidenden Punkt die Einstimmigkeit ohne den Betroffenen voraussetzende, Voraussetzungen gebundenen Verfahren des Art. 7 EUV sowie Maßnahmen bei einem übermäßigen Defizit (Art. 126 AEUV) keine Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Mitgliedstaaten hat (vgl. Art. 299 Abs. 1 Hauptsatz 2 AEUV), ist sie letztlich auf die „freiwillige“ Befolgung des Unionsrechts durch diese angewiesen. Entscheidend ist, dass seitens der Mitgliedstaaten erkannt wird, dass ohne die (grundsätzliche) Anerkennung des Vorrangs des Europarechts und seine Befolgung die EU nicht funktionieren kann und damit auch die mit ihr verbundenen Vorteile verloren gingen und sie dies auch jeweils nach innen vermitteln.
4.3 Loyalitätsgebot und gegenseitig bestehende Pflichten
Zentrale Vorschrift hinsichtlich des Verhältnisses zwischen EU und Mitgliedstaaten ist Art. 4 EUV (früher Art. 10 EGV), der allgemeine Grundpflichten der EU, wechselseitige Pflichten von EU und Mitgliedstaaten und Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der EU festlegt. Die EU achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt, sowie die grundlegenden Funktionen des Staates (Art. 4 Abs. 2 EUV). Die EU als föderales Gebilde darf nicht zentralistisch sein. Die Ausgestaltung der inneren Verfassungsstruktur (z. B. zentralistisch oder föderal) obliegt den Mitgliedstaaten, die dabei allerdings an die Werte der EU, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind oder zumindest sein sollen (Art. 2 EUV), insb. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat) und Wahrung der Menschenrechte gebunden sind. Die Mitgliedstaaten haben grundsätzlich die Autonomie für Organisation und Verfahren und auch für den Vollzug des Rechts der EU, müssen diesen aber sicherstellen (Art. 291 Abs. 1 AEUV). Dies setzt der Autonomie mit den aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und der Unterstützungspflicht (Art. 4 Abs. 3) hergeleiteten Geboten der Äquivalenz und der Effektivität Grenzen (Europäisches Verwaltungsrecht). Da die nationale Identität eine „jeweilige“ ist, kann ihre Präzisierung nur „national“ erfolgen und obliegt, soweit sie dafür zuständig sind, letztlich den nationalen Verfassungsgerichten. Insoweit findet die vom BVerfG entwickelte „Identitätskontrolle“ einen Anhaltspunkt im Unionsrecht. Die Auslegung des Inhalts des Achtungsgebots des Art. 4 Abs. 2 EUV und die Prüfung der plausiblen Geltendmachung von Identitätsvorbehalten gegenüber dem Recht der EU kommt dagegen dem für die Auslegung der Verträge zuständigen (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) EuGH zu. Um angesichts jeweils fortbestehender „Letztentscheidungsrechte“ Konflikte zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten wie dem BVerfG zu vermeiden, ist, wie auch von der gegenseitigen Loyalitätspflicht gefordert, eine gegenseitige Rücksichtnahme erforderlich, für die es auf beiden Seiten Beispiele gibt (BVerfG: „Europarechtsfreundliche“ Ausübung der Kontrollmaßstäbe; EuGH: Rs. C-36/02 – Omega [„Laserdrome“], Rdnr. 33 ff.: spezifische Auslegung der Menschenwürde; Rs. C-200/09 – Sayn-Wittgenstein, Rdnr. 81 ff.: Adelsaufhebung in Österreich). Da sich die Pflicht zur Befolgung der Verträge bereits aus dem allgemeinen Grundsatz pacta sunt servanda des Völkerrechts ergibt, sind die in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 und 2 EUV enthaltenen Pflichten nicht lediglich deklaratorisch, sondern gehen durch die Begründung einer besonderen Loyalitätspflicht darüber hinaus. Dies hat der EuGH durch die darauf (zumindest unterstützend) basierende Herleitung besonderer Pflichten bestätigt (z. B. konkrete Anforderungen an die Umsetzung von EU-RL; Pflicht zur Einräumung des Vorrangs des Unionsrechts; Sicherung der Grundfreiheiten gegen Beeinträchtigungen durch Privatpersonen; Pflicht zum Handeln als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses“). Bes. Loyalitätspflichten bestehen im Fall eines bewaffneten Angriffs (Art. 42 Abs. 7 EUV) sowie in Fällen terroristischer Anschläge und Katastrophen (Art. 222 AEUV). Das geforderte Zusammenwirken zwischen EU und Mitgliedstaaten wird hier „im Geiste der Solidarität“ (Art. 222 Abs. 1 AEUV) gefordert. Davon spricht auch z. B. Art. 80 AEUV hinsichtlich u. a. der Asylpolitik, wo allerdings dieser „Geist“ in mehrfacher Hinsicht fehlte und nach wie vor fehlt.
4.4 Der Verbundgedanke als Charakteristikum der EU
Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verankert ein vom EuGH (Rs. 280/81, Rn. 37 – Luxemburg/ Europäisches Parlament) seit langem postuliertes unionales Verfassungsprinzip ausdrücklich im EUV. Zwischen der Union und den Mitgliedstaaten besteht ein Verbund, dessen Elemente in den Begriffen Staatenverbund, Verfassungsverbund (EU-Verträge einschließlich EuGRC und Verfassungen der Mitgliedstaaten; vgl. auch die in Art. 2 EUV als „gemeinsam“ postulierten Werte) und Verwaltungsverbund (loyaler Vollzug des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten) sowie Rechtsprechungsverbund (durch Art. 267 AEUV institutionalisierter Dialog) zum Ausdruck kommen. Diese Begriffe sind nicht gegensätzlich oder alternativ, sondern behandeln unterschiedliche Aspekte des Verbundgedankens als Charakteristikum der EU.
4.5 Beitritt zur EU
Wie bereits die EWG und die EG ist auch die EU auf Erweiterung angelegt, wobei sich bei ihr angesichts von bereits 28 Mitgliedstaaten die Frage nach Grenzen der Aufnahmekapazität bei Wahrung der bestehenden Struktur stellt. Gemäß Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV kann jeder „europäische Staat“ beantragen (ein Anspruch auf Beitritt besteht nicht) Mitglied der EU zu werden. Zieht man den Vergleich mit dem insoweit übereinstimmenden Art. 4 S. 1 der Satzung des Europarats heran, trifft dies geographisch auf alle 47 Staaten des Europarats zu (mit dem geographischen Argument abgelehnt wurde der Beitrittsantrag Marokkos). Die Kommission sieht in einer Mitteilung [KOM (2006) 649 endgültig] den Begriff „europäisch“ „aus geographischen, historischen und kulturellen Elementen“ zusammengesetzt, „die alle zur europäischen Identität beitragen.“ Angesichts der nach der Überwindung der Teilung Europas 1989/90 bevorstehenden Erweiterung der EU hat der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen vier generelle Kriterien formuliert, die beim Beschluss des Rates und der Zustimmung des Europäischen Parlaments dazu zu berücksichtigen sind (Art. 49 Abs. 1 S. 4 EUV). Vom Beitrittskandidaten wird verlangt:
a) Eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten („Verfassungsstaatlichkeit“). Dies fordert jetzt ausdrücklich Art. 49 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 2 EUV.
b) Eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten („Binnenmarktfähigkeit“). Dafür wurden seitens der EU Unterstützungsmaßnahmen entwickelt.
c) Die Fähigkeit und den Willen, die Mitgliedspflichten zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen zu machen („Integrationswilligkeit“).
d) Das letzte Kriterium betrifft die EU selbst, nämlich die Fähigkeit, durch organisatorische und institutionelle Rahmenbedingungen und ohne wirtschaftliche Überforderung und ohne Gefährdung der Vertiefung der Integration neue Mitglieder aufzunehmen („Erweiterungsfähigkeit“).
Ob diese Kriterien erfüllt sind, ist im Wesentlichen sicher eine politische Bewertung, die allerdings ernst genommen werden und nach objektiven Kriterien in gleicher Weise gegenüber allen Beitrittskandidaten erfolgen muss, soll die EU als Rechtsgemeinschaft glaubwürdig sein und bleiben. Die Beitrittskandidaten müssen ggf. ihre Rechtsordnung mit den geforderten Kriterien in Einklang bringen. Über den Antrag entscheidet der Rat einstimmig nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung der absoluten Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments (Art. 49 Abs. 1 EUV). Ferner bedarf es eines Vertrages über die Aufnahmebedingungen (Grundprinzip ist die Übernahme des sogenannten acquis communautaire, d. h. der Gesamtheit des Unionsbestandes (z. B. an politischen Zielsetzungen) und des Rechts der EU (ggf. mit Übergangszeiten) und die erforderliche Anpassung von EUV und AEUV, der von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden muss (Art. 49 Abs. 2 EUV). In Frankreich ist gemäß Art. 88–5 der Verfassung ein Referendum obligatorisch.
Die seit 2005 laufenden ausdrücklich als „ergebnisoffen“ (was zweifelhaft ist) deklarierten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (mit der durch das Assoziierungsabkommen und die Beschlüsse des Assoziationsrats bereits bes. Beziehungen bestehen) sind derzeit ausgesetzt, da das Kriterium der Verfassungsstaatlichkeit offensichtlich verfehlt wird. Generell ist fraglich, ob die geforderte Integrationswilligkeit vorliegt. Die ernsthafte Prüfung der Kriterien (einschließlich der „Erweiterungsfähigkeit“) ist auch bei den aufgenommenen Beitrittsverhandlungen mit den Staaten mit sogenanntem „Kandidatenstatus“ (Mazedonien, Montenegro, Serbien) sowie bei den Beitrittskandidaten Albanien, Bosnien-Herzegowina und des Kosovo (der von fünf Mitgliedstaaten noch nicht als Staat anerkannt wurde) geboten. Hier wie bei weiteren Staaten bietet sich eher die in Art. 8 EUV verankerte Nachbarschaftspolitik mit Assoziierungsabkommen an. Ein solches wurde (wobei in den Niederlanden ein ablehnendes Referendum übergangen werden musste) mit der Ukraine geschlossen (in Kraft seit 1.9.2017; politisch wegen des Verhältnisses zu Russland problematisch). Island hat seinen 2009 gestellten Beitrittsantrag 2015 zurückgezogen. Mit der Schweiz bestehen bilaterale Abkommen, die durch die sogenannte „Guillotineklausel“ miteinander verknüpft sind. Die Mitgliedschaft Norwegens scheiterte zweimal an einem Referendum, es ist aber wie Island und Liechtenstein zusammen mit der EU und ihren Mitgliedstaaten Vertragspartei im EWR; EFTA.
4.6 Austritt aus der EU
Durch den mit dem Vertrag von Lissabon eingeführten Art. 50 EUV hat sich die bis dahin strittige Frage, ob ein Mitgliedstaat aus der EU austreten kann, erledigt. Wohl gerade gegenüber den neuen Mitgliedstaaten eher demonstrativ gedacht, dass die EU keine „Zwangsgemeinschaft“ ist, wurde Art. 50 EUV nach einer Volksbefragung im Vereinigten Königreich, in der sich 51,89 % für den „Brexit“ aussprachen, aktiviert. Die Verhandlungen über das in Art. 50 Abs. 2 EUV vorgesehene Austrittsabkommen zeigen, welche Probleme bei einem Austritt zu lösen sind und damit auch, wie eng die Mitgliedstaaten, selbst wenn sie weder der Währungsunion des Euro noch dem Schengen-Abkommen (Schengen) angehören, in der EU bereits verbunden sind. Kommt es bis 29.3.2019 zu keinem Abkommen oder wird die Frist nicht verlängert, scheidet das Vereinigte Königreich automatisch und ungeregelt aus der EU aus (Art. 50 Abs. 3 EUV). Ein Wiedereintritt ist möglich, aber nur nachdem das Verfahren des Art. 49 EUV durchlaufen ist. Ein Austritt Deutschlands müsste die verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 23 GG beachten.
4.7 Ausschluss aus der EU
Die Verträge sehen keinen Ausschluss aus der EU vor. Selbst bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte sieht Art. 7 EUV allein ein Suspendierungsverfahren hinsichtlich bestimmter Rechte vor. Dieses ist als abschließende Regelung gedacht, sodass allenfalls bei dadurch nicht abzuwendenden unerträglichen Zuständen an einen Ausschluss nach völkerrechtlichen Grundsätzen (erhebliche Vertragsverletzungen, clausula rebus sic stantibus, Art. 60 Abs. 2, Art. 62 WVRK) zu denken wäre.
5. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die EU
5.1 Allgemein
Da mit der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU der eigene politische Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten erheblich eingeschränkt wird, bedarf es dazu einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung, die dafür Bedingungen und Schranken vorsieht, deren Einhaltung ggf. einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Wenngleich in sehr unterschiedlicher Form und auch unterschiedlichem Ausmaß, sehen dies letztlich die Verfassungen aller Mitgliedstaaten (Sonderfall Vereinigtes Königreich) vor.
5.2 Art. 23 GG als Grundlage der Mitwirkung Deutschlands in der EU
Gemäß Art. 23 Abs. 1 GG wirkt die BRD zur Verwirklichung eines Vereinten Europas bei der Entwicklung der EU mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Hierzu kann der Bund durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Ggf. sind verfassungsändernde Mehrheiten (Art. 79 Abs. 2 GG) erforderlich. Eine absolute Schranke ist die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG. Diese enthält einerseits eine Ermächtigung, ja durch den Imperativ („wirkt mit“) eine Verpflichtung, die es nicht im Belieben der deutschen Staatsorgane lässt, an der EU mitzuwirken (so BVerfGE 123, 267/346 f.), wobei sie aber bei der Ausgestaltung weites politisches Ermessen haben. Andererseits werden mit diesen Strukturanforderungen an die EU Schranken der Integrationsermächtigung normiert, die binnengerichtet sind, denen die EU aber entsprechen muss, damit Deutschland in ihr mitwirken darf. Diese haben Parallelen zu den Strukturprinzipien des GG. Bei der Konkretisierung dieser „Grundsätze“ muss aber beachtet werden, dass die Strukturen der EU als Integrationsgemeinschaft in entscheidenden Punkten von der Struktur eines Staates zwangsläufig abweichen. Um dem Rechnung zu tragen, sind die Postulate strukturangepasst zu modifizieren, was seitens des BVerfG auch geschehen ist (vgl. zur demokratischen Legitimation der EU BVerfGE 89, 155/182 ff.).
5.3 Maßstäbe der Kontrolle durch das BVerfG
Die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Schranken der Integrationsermächtigung (Art. 23 Abs. 1 GG) unterliegt der Kontrolle des BVerfG. Dabei kommen neben der noch nicht aktivierten abstrakten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG: bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit unionsrechtlicher Vorgaben müssen die Instanzgerichte aber vorab die Entscheidung des EuGH gemäß Art. 267 AEUV einholen, BVerfGE 129, 186), der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG: hinreichende Beteiligung des Bundestags gemäß Art. 23 Abs. 2, Abs. 3 i. V. m. EUZBBG und IntVG und des Bundesrats gemäß Art. 23 Abs. 2, Abs. 4–7 i. V. m. EUZBLG und IntVG), der Bund-Länder–Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) sowie die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) in Betracht. Diese kann nach der Rspr. des BVerfG (Verfassungsgerichtsbarkeit) auf Art. 38 GG (Wahlrecht) mit der Begründung gestützt werden, dass durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU dem Bundestag nicht mehr hinreichend „bedeutsame eigene Aufgabenfelder“ verbleiben und damit das Wahlrecht ausgehöhlt werde (BVerfGE 89, 155/186 und LS. 5; BVerfGE 123, 267/340 ff., 357 f. und LS. 2b). Kontrollmaßstäbe sind: die Grundrechtskontrolle, die „im Kooperationsverhältnis“ mit dem EuGH allerdings „solange“ nicht ausgeübt wird (BVerfGE 73, 339/ LS. 2 – Solange II), bis dargelegt werden kann, dass die Kontrolle durch den EuGH unter den geforderten Grundrechtsstandard abgesunken ist (BVerfGE 102,147/ LS. 1 – Bananenmarkt); die Ultra-vires-Kontrolle (Einhaltung der auf die EU übertragenen Befugnisse oder „ausbrechender Rechtsakt“, BVerfGE 123, 267/ LS. 4) und die Identitätskontrolle (Wahrung der Identität des GG, vgl. BVerfGE 140, 317). Nach Ansicht des BVerfG ermächtigt Art. 23 GG nicht zu einem „Identitätswechsel“ vom Staatenverbund in einen europäischen Bundesstaat, dazu sei eine neue Verfassung i. S. v. Art. 146 GG erforderlich (BVerfGE 123, 267/331 f., 364). Daher müsse die Kompetenz-Kompetenz, d. h. die Kompetenz, Kompetenzen zu begründen, bei den Mitgliedstaaten verbleiben (so derzeit Art. 48 EUV). Vor Annahme eines Ultra-vires-Akts, der nur bei einem offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzverstoß vorliegt, muss der EuGH angerufen werden (BVerfGE 126, 286/304 und LS. 1-Honeywell). Dies ist bereits geschehen (BVerfGE 134, 366 – OMT-Vorlagebeschluss; BVerfG, NJW 2017, 2894–2904; EZB-Ankaufprogramm EAPP). Die Kontrolle wird vom BVerfG „europarechtsfreundlich“ ausgeübt. Dadurch werden rechtlich unauflösbare Konflikte vermieden (vgl. zuletzt BVerfGE 142, 123 – OMT). Nach innen wird die rechtliche Integrationsverantwortung insb. des Bundestags unter Berücksichtigung von dessen politischer Gestaltungsfreiheit konkretisiert.
6. Struktur und Organisation der EU
6.1 Einheitlichkeit der EU
Von den Zielen des Verfassungsvertrags wurde die Einheitlichkeit der Union, die Rechtsnachfolgerin der EG ist (Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV) und die bislang intergouvernemental strukturierten operativen Felder der GASP und PJZS übernimmt, in den Vertrag von Lissabon übernommen. Die Einheitlichkeit zeigt sich in der Rechtspersönlichkeit (Art. 47 EUV), in den Organen (Art. 13 EUV) und in der Bezeichnung der Rechtsakte (Art. 288 AEUV). Während die PJZS in den RFSR integriert wurde – der allerdings einige institutionelle Besonderheiten aufweist (z. B. ausdrückliche Leitungsfunktion des Europäischen Rates, Art. 68 AEUV; Initiativrecht eines Viertels der Mitgliedstaaten neben der Kommission, Art. 76 b AEUV; sogenannter „Notbremsemechanismus“, so § 9 IntVG zu Art. 82 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1, Art. 83 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 AEUV), verbleibt die GASP ungeachtet der Optik einer „einheitlichen“ Union das letzte Relikt der vormaligen Säulenstruktur, was sich in den Besonderheiten zeigt, die Art. 24 EUV ausdrücklich hervorhebt. Die Zuständigkeit des EuGH ist grundsätzlich ausgeschlossen (Art. 275 Abs. 1 AEUV, mit Ausnahmen in Abs. 2: „Schiedsrichter“ in Streitfällen, ob GASP oder sonstige Kompetenzen vorliegen, Art. 40 EUV; Nichtigkeitsklage, Art. 263 Abs. 4 AEUV, von Individuen gegen restriktive Maßnahmen). Die „spezifische Rolle“ von Europäischem Parlament und Kommission bedeutet, dass das Parlament zwar ein Anhörungsrecht hat (Art. 36 EUV), aber keine maßgebliche Rolle im Entscheidungsprozess spielt, und die Kommission nur über die Doppelfunktion des Hohen Vertreters für die GASP in diese eingebunden ist.
6.2 Die Organe und ihr Zusammenwirken
Die zunächst selbstständigen Organe der vormals drei selbstständigen EG wurden 1957 bzw. 1965 fusioniert. Der durch den Vertrag von Maastricht als Organ der EU installierte Europäische Rat ist seit dem Vertrag von Lissabon ein Organ der jetzt einheitlichen EU, ebenso die EZB unter Beibehaltung ihrer eigenen Rechtspersönlichkeit und Unabhängigkeit. Die in Art. 13 Abs. 2 EUV aufgeführten Organe haben im Wesentlichen folgende Funktionen: Der Europäische Rat soll als Leitungsorgan der EU die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse geben; er legt hierfür die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest. Das Europäische Parlament ist zusammen mit dem Rat der EU der europäische Gesetzgeber. Die Europäische Kommission hat grundsätzlich das Initiativmonopol für Gesetzgebungsvorhaben und ist als rein supranationales Organ Hüterin der Verträge sowie die Exekutive der EU. Der EuGH sichert die Wahrung des Rechts als „Schiedsrichter“ bei Streitigkeiten zwischen den Organen oder den Mitgliedstaaten sowie zwischen Organen und Mitgliedstaaten bei Klagen von Individuen gegen Handlungen der Organe sowie durch das Monopol für die verbindliche Auslegung der Verträge und die Prüfung der Gültigkeit von Sekundärrecht. Die EZB ist für die Währungspolitik der Mitgliedstaaten der Euro-Zone mit dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verantwortlich. Dem 1975 geschaffenen EuRH obliegt die externe Rechnungsprüfung der allgemein und bes. in für „Unregelmäßigkeiten“ anfälligen Bereichen (EU-Subventionen) große Bedeutung zukommt (Sonderberichte). Die Organe Europäisches Parlament, Rat und Kommission werden durch beratende Einrichtungen unterstützt, nämlich dem paritätisch durch Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und der Zivilgesellschaft besetzten EWSA und dem durch den Vertrag von Maastricht geschaffenen AdR. Durch diesen wurde insoweit die „Landesblindheit“ der EU beendet, da den regionalen und lokalen Körperschaften (in Deutschland die Länder und die Kommunen) dadurch eine Mitwirkung in der EU selbst ermöglicht wird.
6.3 Supranationalität und Intergouvernementalität
Die Supranationalität der EU zeigt sich in der Unabhängigkeit der Kommission, deren Mitglieder Weisungen von den Regierungen der Mitgliedstaaten weder einholen noch entgegennehmen dürfen (Art. 17 Abs. 3 UAbs. 3 EUV), der Unabhängigkeit der für die Währungspolitik zuständigen EZB (Art. 282 Abs. 3 AEUV) sowie in der Kompetenz zur Rechtsetzung, die im Regelfall mit qualifizierter Mehrheit im Rat (Art. 16 Abs. 3 AEUV) erfolgen kann. Die sogenannte „Gemeinschaftsmethode“ zeigt sich im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1, Art. 294 AEUV), in dem auf Vorschlag der Kommission das Europäische Parlament und der Rat (dieser mit qualifizierter Mehrheit) gemeinsam den Rechtsakt (VO und RL) beschließen. Bei Uneinigkeit ist ein Vermittlungsverfahren (Art. 294 Abs. 10–14 AEUV) vorgesehen. Zur Vorbereitung von Rechtsakten sprechen sich Kommission, Europäisches Parlament und Rat im sogenannten „Trilog“ ab. Diese Praxis erleichtert die politische Einigung, kann und darf das vertraglich vorgesehene offene Gesetzgebungsverfahren aber nicht überspielen. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist der Regelfall und kommt z. B. im bedeutsamen Fall der Verwirklichung des Binnenmarkts (Art. 114 AEUV) zum Tragen. In Materien, in denen die Mitgliedstaaten sich nicht überstimmen lassen wollen (insb. Steuern), kommen bes. Gesetzgebungsverfahren zum Tragen (z. B. Art. 115 AEUV), die die Einstimmigkeit im Rat erfordern. Solche Sicherungsmechanismen der Aufrechterhaltung eines bestimmenden nationalen Einflusses zeigen sich auch im sogenannten „Notbremseverfahren“ in den Bereichen Sozialpolitik (Art. 48 Abs. 2 S. 1 AEUV) und Strafrecht (Art. 82 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1, Art. 83 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 AEUV; Europäisches Strafrecht), in Deutschland verstärkt durch den bestimmenden Einfluss des Bundestags (§ 9 IntVG). Das Konsensprinzip gilt grundsätzlich im Europäischen Rat (Art. 15 Abs. 4 EUV), allerdings mit wichtigen Ausnahmen, die Vetoblockaden verhindern sollen und auch verhindern, was in bedeutsamen Fällen (Art. 17 Abs. 7 S. 1 EUV: Vorschlag des nach der getroffenen Vereinbarung siegreichen „Spitzenkandidaten“ der Europawahl 2014 zur Wahl des Kommissionspräsidenten gegen die Stimme des Vereinigten Königreichs; Art. 15 Abs. 5 S. 1 EUV: erneute Wahl des Polen Donald Franciszek Tusk zum Präsidenten des Europäischen Rates gegen die Stimme seines Heimatlandes) bei den überstimmten Staatenvertretern zu (rechtlich unbegründeten) Protesten führte. Dies zeigt, dass die Einbeziehung des Europäischen Rates als Organ der jetzt einheitlichen EU wegen dessen Zusammensetzung und der Stärkung seiner Rolle einerseits den intergouvernementalen Ansatz in der EU stärkte, andererseits wegen der Ausnahmen vom Konsensprinzip (Konsens) aber relativierte. Intergouvernementale Elemente kennzeichnen wegen der in Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 EUV dokumentierten Sonderrolle und des dort geltenden Grundsatzes der Einstimmigkeit (Art. 31 Abs. 1 S. 1 EUV) nach wie vor die GASP. Intergouvernemental angelegt ist nach wie vor auch die Wirtschaftspolitik als Teil der EWWU, da diese weiterhin in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt, die allerdings unionsrechtliche Vorgaben zu beachten haben, deren Einhaltung einem sehr behutsamen und leider auch wenig konsequent ausgeübten unionalen Kontrollverfahren unterliegt (vgl. Art. 120, Art. 121, Art. 126 AEUV). In der Aufspaltung der EWWU zwischen der für die Mitgliedstaaten der Eurozone in die Kompetenz der EU und dort der EZB übertragenen Währungspolitik und der auch bei diesen Mitgliedstaaten verbliebenen Wirtschaftspolitik wird ein „Geburtsfehler“ der EWWU gesehen, zumal beide Bereiche schwer abzugrenzen sind. Daher bestehen Pläne, auch die Wirtschaftspolitik zu „vergemeinschaften“ (z. B. Überführung des auf einem völkerrechtlichen Vertrag basierenden ESM in das Unionsrecht; Etablierung eines „Europäischen Finanzministers“), die neben politischen (Uneinigkeit der Mitgliedstaaten über die „richtige“ Wirtschaftspolitik) auch rechtliche (Budgetrecht der nationalen Parlamente) Probleme aufwerfen.
7. Kompetenzen der EU
Die EU und damit ihre Organe dürfen nur tätig werden, wenn und soweit ihr und ihnen die Kompetenz dazu durch die Verträge, auf denen die EU basiert (EUV und AEUV, Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV; die EuGRC führt ausdrücklich zu keiner Kompetenzerweiterung, Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, Art. 51 Abs. 2 EuGRC), übertragen wurde. Dieses Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wurde durch den Vertrag von Lissabon noch deutlicher als bislang in Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV verankert und wird mehrfach betont, auch hinsichtlich der Kehrseite, dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben (Art. 4 Abs. 1 EUV). Daran knüpft auch Art. 288 Abs. 1 AEUV an, wonach die für die Gesetzgebung der EU zuständigen Organe (Kommission als Initiativorgan, Europäisches Parlament und Rat als Unionsgesetzgeber) die dort vorgesehenen Rechtsakte „für die Ausübung der Zuständigkeiten“ annehmen. Sie dürfen daher nur dort tätig werden, wo die Verträge die Verbandskompetenz der EU begründen, und müssen das jeweils vorgeschriebene Verfahren (ordentliches oder besonderes Gesetzgebungsverfahren, wodurch auch die jeweilige Organkompetenz festgelegt wird) einhalten und die jeweils vorgeschriebene Form des Rechtsakts (VO oder RL) verwenden, es sei denn, der Vertrag überlässt ihnen durch den Begriff „Maßnahmen“ insoweit die Wahl (so die wichtige und vom EuGH weit interpretierte, z. B. EuGH Rs. C-301/06 – Irland/EP und Rat, Vorratsdatenspeicherung, aber immerhin inhaltlich präzisierte, vgl. EuGH Rs. C-376/98 – Tabakwerbeverbot, Binnenmarktkompetenz, Art. 114 Abs. 1 AEUV). Diese ist allerdings zu begründen (Art. 296 AEUV), wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV) zu beachten ist. Um die Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Mitgliedstaaten zu konkretisieren, wurden durch den Vertrag von Lissabon die Kompetenztypen (ausschließliche und geteilte Zuständigkeit der EU; parallele Zuständigkeit von EU und Mitgliedstaaten; Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen als „Beitragskompetenz“ der EU) und deren Folgen präzisiert (Art. 2 AEUV) und den einzelnen Kompetenztypen materielle Bereiche zugeordnet (Art. 3–6 AEUV). Diese und die zu deren Verwirklichung vorgesehenen Kompetenzgrundlagen sind im dritten Teil des AEUV („Die internen Politiken und Maßnahmen der Union“) geregelt. Dessen Titel I–XXIII und die davon erfassten Gebiete, nämlich Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarkts, RFSR (&pfv;Europäische Innen- und Rechtspolitik), Wettbewerb und Steuerfragen, Wirtschafts- und Währungspolitik, Beschäftigung, Sozialpolitik, Allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport, Kultur, Verbraucherschutz, Transeuropäische Netze, Industrie, Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt, Umwelt, Energie, Tourismus und Katastrophenschutz, machen die – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – erfolgte Erfassung weiter Politikbereiche durch das Unionsrecht deutlich. Dies erfordert zum einen die Abgrenzung zu den in der Kompetenz der Mitgliedstaaten und damit in deren politischer Gestaltungsfreiheit verbliebenen Bereiche, zum anderen das loyale Zusammenwirken (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV) und die Verwaltungszusammenarbeit von EU und Mitgliedstaaten (vgl. Art. 197 AEUV). Der Sonderrolle (vgl. Art. 24 EUV) der GASP trägt Art. 2 Abs. 4 AEUV mit Verweis auf die Regelung im EUV (Art. 23–46 EUV) Rechnung. Eine eigene Kategorie ist die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, die zwar bei den Mitgliedstaaten verbleibt, wegen des Zusammenhangs mit der Währungspolitik im Rahmen der EWWU aber von diesen koordiniert werden muss (Art. 120 ff. AEUV; Art. 145 ff. AEUV). Politische Vereinbarungen ohne rechtliche Verbindlichkeit werden innerhalb der vom Europäischen Rat 2000 eingeführten Methode der sogenannten „offenen Koordinierung“ (OKM) getroffen, v. a. hinsichtlich der Sozialpolitik.
8. Wirtschaftliche und politische Entwicklung
8.1 Von der Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen Union
Die EG haben sich von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union eigener Art entwickelt, die in erheblichem Umfang Staatsfunktionen ausübt, sich in ihrer Struktur aber wegen des Beruhens auf den insoweit souverän bleibenden Mitgliedstaaten von einem Staat deutlich unterscheidet. Neben dem Erfordernis der Ratifikation völkerrechtlicher Verträge durch alle Mitgliedstaaten im ordentlichen Vertragsänderungsverfahren (Art. 48 Abs. 4 EUV) wird dies v. a. durch das Recht deutlich, die EU zwar in einem geordneten Verfahren, wegen der Sunset-Clause bei dessen Scheitern (vgl. Art. 50 Abs. 3 EUV) aber ohne das Erfordernis eines Rechtfertigungsgrundes verlassen zu können. Wenngleich die 1953 geplante EPG zusammen mit der EVG als jedenfalls damals zu ambitioniert scheiterte und die ausdrücklich als „Politische Union“ bezeichneten Projekte (z. B. Fouchet-Plan 1961; Davignon-Bericht 1970; Entwurf des Europäischen Parlaments für einen Vertrag zur Gründung der EU 1984) unterschiedliche Ansätze (intergouvernemental oder supranational oder gemischt) verfolgten, der Begriff „Politische Union“ nicht in das Primärrecht aufgenommen wurde und über ihn wie hinsichtlich der „Finalität“ der EU unterschiedliche Vorstellungen bestehen, ist die stetige Entwicklung in diese Richtung unverkennbar. Deutlich wird dies in der Erweiterung des Konzepts des „Marktbürgers“ (Ipsen 1972: 187) zum Unionsbürger, dessen Bürgerschaft (Art. 20 EUV) der EuGH als „grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ bezeichnet (EuGH Rs. C-184/99 – Grzelczyk) und darauf weittragende Konsequenzen (Tragweite des Freizügigkeitsrechts, Art. 21 AEUV; Eröffnung des Anwendungsbereichs des Diskriminierungsverbots, Art. 18 AEUV) jedenfalls hinsichtlich dessen „Kernbereichs“ gestützt hat (vgl. z. B. EuGH Rs. C-34/09 – Zambrano). Die damit verbundene Erfassung weiter Politikbereiche wirft die Frage nach Grenzen einer „immer engeren Union“ (Präambel EUV, Erwägungsgrund 13) und nach der durch Art. 4 Abs. 2 EUV gebotenen Achtung der jeweiligen Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten auf. Wird hier das rechte Maß verfehlt, führt dies statt zu den angestrebten integrativen (Präambel EUV, Erwägungsgrund 14) zu desintegrativen Tendenzen, die kennzeichnend für die gegenwärtigen Probleme der EU sind.
8.2 Bilanz: Erfolge und Probleme
In der Erklärung von Rom vom 25.3.2017 zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge sind die führenden Vertreter von 27 Mitgliedstaaten und der EU-Organe Europäischer Rat, Europäisches Parlament und Kommission „stolz auf die Errungenschaften der Europäischen Union“ und betonen: „Der Aufbau der europäischen Einheit ist ein kühnes, auf lange Sicht angelegtes Unterfangen. Vor sechzig Jahren haben wir nach der Tragödie zweier Weltkriege beschlossen, uns zusammenzuschließen und unseren Kontinent aus seinen Trümmern neu aufzubauen. Wir haben eine einzigartige Union mit gemeinsamen Institutionen und starken Werten aufgebaut, eine Gemeinschaft des Friedens, der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, eine bedeutende Wirtschaftsmacht mit einem beispiellosen Niveau von Sozialschutz und Wohlfahrt“. Mit der Friedenssicherung durch supranationale Integration der sich jahrhundertelang bekriegenden Staaten, dem wirtschaftlichen Fortschritt durch Freiheit des Handels und Verkehrs in einem Gemeinsamen Markt bzw. Binnenmarkt und der Machterhaltung Europas im Weltmaßstab gegenüber den damaligen und heutigen Supermächten USA und UdSSR (jetzt Russland) sowie den von Jean Monnet bereits 1954 als künftig bedeutsamen Akteuren erkannten China und Indien, ferner dem nach dem Krieg sich wirtschaftlich rasch erholenden Japan durch die von Anfang an grundsätzlich in der ausschließlichen Kompetenz der EWG und jetzt inhaltlich ausgedehnt (vgl. Art. 207 AEUV) der EU liegenden Gemeinsamen Handelspolitik wurden die Grundlagen des Europagedankens in der Tat verwirklicht, so dass der europäische Einigungsprozess eine Erfolgsgeschichte ist. Nach der 1989/1990 geschehenen Überwindung der Teilung Europas durch die nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Blocksysteme erfolgte die große Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Staaten, die aber auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Erweiterung und Vertiefung und den sowohl der verkraftbaren Anzahl der Mitgliedstaaten als auch der von diesen gewünschten und in diesen politisch vermittelbaren Gemeinsamkeit und somit nach den Grenzen der Integration und einer „immer engeren Union“ aufwarf. Dies zeigte sich bereits beim Scheitern des Verfassungsvertrags, wobei der Begriff „Verfassung“ statt integrativer desintegrative Wirkung entfaltete und deshalb zusammen mit allen Elementen des Verfassungskonzepts im Vertrag von Lissabon gestrichen wurde. Die mit der europäischen Integration notwendig verbundene Einschränkung eigener politischer Gestaltungsfreiheit war auch ein Argument der Befürworter des „Brexit“, und die Widerstände dagegen zeigen sich in der mangelnden Befolgung der auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützten Beschlüsse des Rates zur Bewältigung des Flüchtlingszustroms und von Urteilen des EuGH, der Nichtigkeitsklagen dagegen abgewiesen hat (EuGH C-643/15 – Slowakei/Rat; C-647/15 – Ungarn/Rat) sowie von Mahnungen der EU-Kommission zur Wahrung der durch Art. 2 EUV als „gemeinsam“ bezeichneten Werte hinsichtlich der gebotenen Unabhängigkeit von Gerichten. Die Erklärung von Rom sieht die EU „vor nie dagewesenen Herausforderungen auf globaler und nationaler Ebene: regionalen Konflikten, Terrorismus, wachsendem Migrationsdruck, Protektionismus sowie sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten“. In der Tat befindet sich die EU in einer „Polykrise“ (Juncker 2016: 4), beginnend mit der „Finanzkrise“ (Finanzmarktkrise), die zwar von außen (USA) ausgelöst wurde, die die Fehler der Konstruktion der EWWU und insb. die fehlende Einhaltung ihrer Voraussetzungen aber weniger verursacht als offenbart und die gemeinsame Währung eher zum „Spaltpilz“ als zum Integrationsfaktor machte, fortgesetzt mit der „Flüchtlingskrise“, auf die das ebenfalls mit Konstruktionsfehlern behaftete Dublin-System nicht vorbereitet sein konnte und die durch unabgestimmte, wenngleich gut gemeinte einseitige Maßnahmen verschärft wurde, schließlich der Konflikt über die angeblich gemeinsamen „Werte“ (Art. 2 EUV), zu deren Einhaltung Art. 7 EUV kein effektives Sanktionssystem bereithält. Mit den „sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten“ sind Kollateralfolgen des Binnenmarkts angesprochen, die z. B. durch Betriebsverlagerungen, aber auch generell durch die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten entstehen können, die ebenso wie andere Probleme der EWWU durch mangelnde Reformbereitschaft verursacht sind. Dass die Erklärung von Rom durch die Vertreterin Polens nur zögerlich unterzeichnet wurde, verdeutlicht die Grenzen der in ihr demonstrativ betonten Gemeinsamkeit („Unsere Union ist ungeteilt und unteilbar“). Dass sie nur noch von 27 Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde, ist eine Folge des angekündigten Austritts des Vereinigten Königreichs, womit Art. 50 EUV entgegen den Erwartungen bei seiner Einfügung, die nur deutlich machen sollte, dass die EU keine „Zwangsgemeinschaft ist“, aktiviert und damit eine, sollte der Austritt wie auch immer vollzogen werden, Schrumpfung der EU realisiert wurde. Die mühsame Bewältigung dieses Austritts selbst eines Mitgliedstaats, der weder der Eurozone noch dem Schengensystem angehört, zeigt aber auch, wie eng die Union mittlerweile verbunden ist, und die dokumentierten nachteiligen Folgen eines Austritts sollten das Bewusstsein für die Vorteile der Zugehörigkeit zu EU schärfen. Wer diese Vorteile genießen will, muss aber auch die damit verbundenen Lasten tragen, ein Zusammenhang, den der EuGH (Rs. 39/72, Rn. 24 – Kommission/Italien) bereits 1973 klargestellt hat.
9. Perspektiven
Die Frage nach der „Finalität“ der EU ist ein vielfältiges und wegen der unterschiedlichen Vorstellungen kontrovers diskutiertes Thema. Sieht man die Entwicklung der EU als offenen politischen Prozess, kann und soll auch die Frage letztlich offen bleiben. Letztlich liegt es am Willen der Mitgliedstaaten, auf denen die EU beruht, wohin sie sich entwickelt. Dies kann auch in differenzierter Form („Europa mehrerer Geschwindigkeiten“) erfolgen, ein Gedanke, der angesichts der Anzahl und ggf. des weiteren Anwachsens der Mitgliedstaaten (Beitrittsperspektive für weitere Balkanstaaten) und der offenbarten Divergenzen in letzter Zeit verstärkt aufgegriffen wurde. Ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten ist auch eines der Szenarien (Nr. 3: „Wer mehr will, tut mehr“), die die Kommission als Antwort auf die „Polykrise“ und als Konzept nach dem „Brexit“ in ihrem „Weißbuch zur Zukunft Europas – Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien“ [COM(2017)2025] vorgelegt hat. Nach einer Analyse der „Faktoren, die Europas Zukunft prägen“, werden als Szenarien ferner „Weiter wie bisher“ (Nr. 1), „Schwerpunkt Binnenmarkt“ (Nr. 2), „Weniger, aber effizienter“ (Nr. 4) und „Viel mehr gemeinsames Handeln“ (Nr. 5) vorgestellt. Es handelt sich dabei nicht um Vorschläge der Kommission, sondern um den Anstoß eines Reflexionsprozesses. „Weiter wie bisher“ eignet sich angesichts der kritischen Bestandsaufnahme natürlich nicht als Programm, wenngleich die Fortsetzung des „Durchwurstelns“ (muddling through) durchaus realistisch ist. Es muss aber mit wirklichen Reformen verknüpft werden. „Schwerpunkt Binnenmarkt“ sollte zwar dazu anregen, über das „immer enger“ nachzudenken, kann aber nicht außer Acht lassen, dass bereits die EWG kein rein ökonomisches Projekt war und dies die EU, deren Ziel jetzt ausdrücklich eine „soziale Marktwirtschaft“ ist (Art. 3 EUV), erst recht nicht sein kann. Ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten (Nr. 3) hatten wir bereits in der Sozialpolitik ohne das später nachrückende Vereinigte Königreich und haben wir in der Eurozone und im Schengenraum sowie im (bislang wenig genutzten) Verfahren gemäß Art. 20 EUV, Art. 326–334 AEUV, hinsichtlich der GASP Art. 42 Abs. 6, Art. 46 EUV. Dafür spricht, dass im engeren Kreis eine stärkere Integration ermöglicht wird, die den zunächst fernbleibenden Mitgliedstaaten zum späteren Beitritt offensteht. Problematisch ist aber die Aufspaltung der Union in verschiedene Kreise und deren erforderliche Koordinierung in einem Binnenmarkt. Angedacht werden auch neue Konzepte wie der jederzeit mögliche Austritt (z. B. nach einem Regierungswechsel mit deutlich anderer Politikausrichtung in dem betreffenden Mitgliedstaat) sowie der Ausschluss bei Nichterfüllung der eingegangenen besonderen Verpflichtungen (sei es wegen mangelndem politischem Willen oder mangelnder Leistungsfähigkeit). „Groß im Großen, klein im Kleinen“ (Nr. 4) will auf Kritik einerseits an manchen Aktivitäten der Kommission, die sich um „Kleinkram“ kümmere (allerdings auch angestoßen durch Lobbyisten aus den Mitgliedstaaten), andererseits an fehlenden Erfolgen im Bereich der GASP, der Flüchtlingspolitik und der Grenzkontrollen reagieren. Dabei darf nicht übersehen werden, dass für Letzteres die fehlende Einigkeit der Mitgliedstaaten verantwortlich ist und entweder die erforderliche Einstimmigkeit oder die Nichtbefolgung eines Mehrheitsbeschlusses die unionale Aktion verhindern. Eine Vertiefung der Integration (Nr. 5) stößt in wesentlichen Bereichen auf politische (unterschiedliche Vorstellungen in der GASP) Hindernisse, die auch mit verfassungsrechtlichen Grenzen (Aushöhlung des Budgetrechts nationaler Parlamente durch zwingende und durchgesetzte unionale Vorgaben) verbunden sein können. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat in seiner Erklärung zur Lage der Union 2017 einen „Fahrplan“ bis 2019 entwickelt (Szenario 6), der die Szenarien 1, 3, 4 und 5 kombiniert. Letztlich hängt die Realisierung vom Willen der Mitgliedstaaten ab, deren Zustimmung bereits auf der Basis bestehender Verträge im Rat als Mitgesetzgeber zusammen mit dem Europäischen Parlament erforderlich ist, ggf. mit qualifizierter Mehrheit und der Möglichkeit des Überstimmtwerdens und dem Problem der anschließenden Befolgung. Darüber hinausgehende grundlegende Reformen bedürften einer Vertragsänderung und damit neben der Einstimmigkeit der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften, d. h. der Zustimmung der nationalen Parlamente, ggf. (jedenfalls in Irland) der Billigung durch Referenden. Wie schwierig dieser Prozess sein kann, hat der Vertrag von Lissabon gezeigt.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
R. Streinz: Europäische Union (EU), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europ%C3%A4ische_Union_(EU) (abgerufen: 21.11.2024)