Freizeit

Der Begriff F. tauchte ursprünglich im Mittelalter auf, allerdings mit völlig anderer Bedeutung. Freyzeit meinte damals „Marktfriedenszeit“ und stellte Händler und Käufer, die zu Märkten und Messen reisten, unter besonderen Schutz. Wurden sie überfallen, mussten die Täter mit dem doppelten Strafmaß rechnen. Im 18. Jh. wurde der Begriff „F.“ für kirchliche Bildungszeiten (v. a. zur inneren Einkehr der Jugend) verwendet. Im heutigen Verständnis kam der F.-Begriff Mitte des 19. Jh. auf und wurde um 1880 erstmals in einem Lexikon definiert. Seither wird F. als Gegensatz zur (Erwerbs-)Arbeit verstanden, bevor sich in den letzten Jahrzehnten F. als eigenständige Sphäre etabliert hat, die nicht nur als Gegensatz zu Arbeit verstanden wird, sondern eine eigene Logik entfaltet.

1. Begriffliches

Grundsätzlich lassen sich negative von positiven F.-Definitionen unterscheiden. Die negativen Definitionen nehmen ein Zeitbudget von z. B. 24 Stunden oder 365 Tagen und ziehen davon alle mehr oder minder festgelegten Zeitmengen ab und nennen die Restzeit F., also eine Residualkategorie, die durch Rechenoperationen objektiv erscheint. Positive F.-Definitionen fragen nach dem Sinn der jeweiligen Zeitmenge und kommen dann zu eher subjektiven Entwürfen wie „F. als Zeit selbstbestimmten Handelns“ oder als „Zeit, um die eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse zur Entfaltung zu bringen“, in bes. anspruchsvollen Versionen wird auch das antike Muße-Ideal bemüht, welches in Europa vom aufkommenden Bürgertum (Bürger, Bürgertum) des 18. Jh. wiederentdeckt wurde und seither zu einer ideologischen Befrachtung der F.-Problematik führt (Muße strebt nach höherer Entwicklung, F. ist oft nur Erholung oder Zeitverbringung ohne höheren Sinn). Andere F.-Definitionen orientieren sich an der Erwerbsarbeit. Bis vor wenigen Jahrzehnten überwogen Vorstellungen, nach denen F. entweder als Gegensatz zur Arbeit oder vielfach als Fortsetzung der Erwerbsarbeit mit anderen Mitteln anzusehen sei. So wurde F. als notwendig für die physische und gesellschaftliche Reproduktion der Arbeitskraft begriffen und zugleich wurde festgestellt, dass sich Erfahrungen aus der Arbeit in die F. hinein verlagerten. Solche Definitionen verlieren aber ihre Kraft, weil Erwerbsarbeit rückläufig ist. So sind in vielen europäischen Ländern weniger als zwei Fünftel der Bevölkerung überhaupt noch erwerbstätig und für jene, die einer Erwerbsarbeit nachgehen können, schrumpft wegen verlängerter Bildungs- und Rentenzeiten die Erwerbsphase auf etwa 30 Jahre (im 19. Jh. 50 Jahre). Arbeitslosigkeit, Krankheiten, Behinderungen, aber auch Armut und Reichtum halten immer mehr Menschen von Erwerbsarbeit fern und das Beschäftigungssystem benötigt in Zukunft immer weniger Menschen. Daher lösen sich jüngere F.-Definitionen vom Arbeitsbezug. So wurde F. als Freisein von zentralen Rollenzwängen definiert, wobei solche Zwänge neben dem Beruf v. a. aus Eltern- oder Staatsbürger-Rollen resultieren, für Kinder und Jugendliche kommen Bildungsaufgaben und für alle die notwendigen Aufgaben wie Schlafen, Essen, Hygiene, Information, Fortpflanzung etc. hinzu. So setzt sich heute ein F.-Begriff durch, der sich nicht mehr zentral an Arbeit oder Rollenzwängen ausrichtet, sondern Zeit als wichtige Dimension in den Mittelpunkt rückt. Zeit ist nicht länger starr, sondern flüssig geworden, wenn z. B. klare Abgrenzungen zwischen Tag und Nacht durchlässig werden, wenn auch zwischen Werktagen und Wochenenden strikte Trennungen wegfallen oder wenn nach der verdichteten und beschleunigten Arbeit Phasen der Zeitlosigkeit gesucht werden (Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft.).

2. Historische Entwicklungen

In der griechischen und römischen Antike entfaltete sich das Ideal der Muße, die nicht als Gegensatz zur Arbeit begriffen wurde, sondern als Zeit der persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne einer politischen Befähigung galt. Muße war positiv konnotiert, während Arbeit negativ belegt war. Im Griechischen bedeutete scholé Muße, während die Negation ascholía für Arbeit der freien Menschen stand und der Begriff pónos die Last der Unfreien meinte. Bei den Römern stand der Begriff otium für Muße, die Verneinung negotium stand für Arbeit. In beiden Fällen gilt die Muße als anzustrebendes Ideal. Die Verwendung der Zeit fand oft in der Öffentlichkeit statt: Theater, Wettkämpfe, Musik, öffentliche Darbietung von Politik und Gerichtsbarkeit, Bäder und Kneipen.

Mit dem Niedergang der Antike geriet ein solches Verständnis in Vergessenheit, weil sich in Europa unter dem Einfluss des Christentums Arbeit als zentraler Lebenssinn durchsetzte (Protestantische Ethik, Calvinismus). Mit dem Kolonialismus wurde solches Verständnis auch in viele andere Teile der Welt gebracht, die zuvor andere kulturelle Vorstellungen pflegten, in denen Arbeit nicht zwangsläufig im Mittelpunkt stand, sondern Zeit oft mit religiösen oder kulturellen Mustern belegt war. Teilweise haben sich solche Muster nach der Entkolonialisierung bis heute erhalten oder neu entwickeln können.

Im Mittelalter verbrachten gesellschaftliche Unterschichten ihre knappe freie Zeit mit Ballspielen, Singen, Tanzen, Feiern meistens im Freien, da die künstliche Beleuchtung der Wohnungen schwierig war. Das aufkommende Bürgertum genoss vermehrt Literatur, Theater, Musik und Spiele und traf sich oft in den Einrichtungen einer räsonierenden Öffentlichkeit (z. B. Clubs, Kaffeehäuser). Der Adel stellte sich hingegen in der repräsentativen Öffentlichkeit durch Turniere, Feste, Kriege oder Darbietungen gegenüber einer weitgehend illiteraten Öffentlichkeit dar. Nachdem in manchen Regionen Europas mehr als 100 Feiertage (zusammen mit den Sonntagen und gelegentlich auch Samstagen waren in manchen Landstrichen fast 200 Tage arbeitsfrei) abgeschafft wurden, konnte die Industriearbeit bis etwa 1880 kontinuierlich ausgeweitet werden und betrug in vielen Branchen bis zu 16 Stunden am Tag und das sieben Tage die Woche und 365 Tage im Jahr, bis der Mensch irgendwann starb. Seit Mitte des 19. Jh. wurde in Europa die Kinderarbeit reduziert, wenige Jahrzehnte später auch die Frauenarbeit und nach 1880 auch die Arbeitszeit der Männer.

Durch Klassenkämpfe und staatliche Sozialpolitik wurde die wöchentliche Arbeitszeit von mehr als 100 Stunden (um 1870) auf durchschnittlich 48 Stunden (1919) reduziert. Erste Urlaubsansprüche wurden fixiert: Beamte (1873), Angestellte (1895), Arbeiter (1919). Durch staatliche Sozialpolitik wurde auch die Altersversorgung etabliert, die es ermöglichte, das Erwerbsleben mit dem 70. (später dem 65.) Lebensjahr zu beenden. Zugleich wurde mit dem Ausbau des Bildungswesens auch die Arbeit von Kindern und Jugendlichen reduziert. So ist die Phase zwischen 1880 und 1919 der Abschnitt, in dem die größte Reduzierung der Erwerbsarbeit durchgesetzt und die zügigste Ausweitung der arbeitsfreien Zeiten erreicht wurde. Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung setzte sich der Gedanke durch, dass die Arbeiter in ihrer F. mehr (politische) Bildung und damit Grundlagen zu ihrer weiteren Emanzipation erlangen könnten. Arbeitervereine organisierten Bildungs- und Reiseveranstaltungen, die mit dem Ersten Weltkrieg weitgehend zum Erliegen kamen. Die Politisierung der F. wurde in der Weimarer Republik angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krisen verschüttet, während eine kleine städtische Intelligenz die „Goldenen Zwanziger“ genoss, die unteren Gesellschaftsschichten aber oft um die bloße Existenz kämpften. Die nationalsozialistischen Machthaber (Nationalsozialismus) lösten die Gewerkschaften auf, überführten deren Vermögen in die DAF, die mit ihrer Organisation KdF weite Bereiche der F.-Verbringung veranstaltete und kontrollierte. F. wurde i. S. d. NS-Ideologie politisiert und diente v. a. der sozialen und politischen Kontrolle. Dennoch blieben vereinzelt Nischen, in denen v. a. Jüngere sich vom Regime distanzierten. Die totale Erfassung der F. im NS-Regime und später mit anders gearteten Prämissen in der DDR hat das Verhältnis zwischen Staat/ Politik und F. bis heute belastet.

Im 20. Jh. wuchs die arbeitsfreie Zeit v. a. durch Zunahme der Urlaubsansprüche, den partiellen Wegfall der Samstagsarbeit, die wesentlich längere Verweildauer im Bildungswesen, eine explosionsartige Ausweitung der nachberuflichen Lebensphase und vielfach auch lange Phasen von Erwerbslosigkeit. Heute arbeiten Beschäftigte im Leben nur 45 % der Arbeit eines Arbeiters um 1900. Allerdings wird damit erst wieder die Stundenzahl erreicht, die ein Handwerker im späten Mittelalter arbeitete, der wegen Feiertagen, Zunftordnungen und fehlender Beleuchtung nicht länger arbeiten durfte. So besehen ist stets die Frage zu stellen, welcher historische Bezugsrahmen gewählt wird, wenn eine Reduzierung der Arbeit konstatiert wird (1470 und heute: gleichbleibend; 1870 und heute: starke Abnahme). Mit der Abnahme von Erwerbsarbeit ist nicht zwingend eine Zunahme der F. verbunden, weil

a) vielfach längere Wege zur Arbeit, Staus, umfangreichere Vorbereitungen, Ausbildungen etc. erforderlich sind,

b) jenseits der Erwerbsarbeit durch Haus-, Pflege-, Beziehungs- oder Organisationsarbeit größere Zeitmengen verschlungen werden,

c) das Verständnis von F. differiert und

d) durch die starke Differenzierung innerhalb der Gesellschaft neue Formen der Ungleichheit auch in der Zeitmenge und -nutzung bestehen.

3. Zeitregime

Zeitregime moderner Gesellschaften unterliegen deutlichem Wandel: Externe Taktgeber wie Helligkeit/Dunkelheit, Jahreszeiten, Arbeitsbeginn/-ende, Schulzeit, Mahlzeiten etc. verlieren ihre jahrhundertelange Prägekraft; Zeitgestaltung wird mehr den Individuen übertragen, die eigene Arrangements treffen können. Der Staat verzichtet oft auf gestaltende Maßnahmen (z. B. Öffnungszeiten, Arbeitszeiten, Jugendschutz), versucht aber durch Infrastrukturen, Ferienzeiten, Umweltbestimmungen etc. die Qualität der F. zu verbessern und die Umwelt vor den Schäden durch F. und Tourismus zu schützen, was nur partiell gelingen kann. Die ökologischen Kosten von F. und Tourismus sind schwer zu beziffern, greifen aber z. B. durch Landschaftsverbrauch, Straßen- und Luftverkehr, Bautätigkeit, Wasserverschmutzung, Lärm, Abfall etc. erheblich in die Umweltbilanz ein. Zunehmende F. bedeutet auch mehr Umweltbelastung im globalen Rahmen.

Zeitkulturen variieren zwischen vielen Teilen der Welt, werden aber mit der Globalisierung immer ähnlicher. Religionen, Traditionen, gesellschaftliche Werte und Normen, aber auch ökonomische und politische Systeme prägen Zeitkulturen, in denen z. B. festgelegt ist, welche Zeiten aus religiösen Gründen heilig sind, welchen Stellenwert Arbeit für welche Gesellschaftsgruppen hat, ob Muße-Ideale bestehen oder Müßiggang verpönt ist, ob Zeit in- oder außerhalb von Familien verbracht wird etc. Bes. deutlich: In Japan hat Arbeit einen hohen Stellenwert, die Zugehörigkeit zum Betrieb wird oft über familiäre Kontakte erreicht und aus Angst vor Arbeitsplatzverlust wird oft auf die ohnehin niedrigen Urlaubsansprüche verzichtet und werktäglich länger gearbeitet als in Mitteleuropa. Gleiches gilt für die USA, wo nach dem liberalen Wirtschaftsverständnis der Staat nur wenige Vorgaben macht und eher schwache Gewerkschaften nur niedrige Urlaubsansprüche durchsetzen konnten und viele Beschäftigte wegen prekärer Arbeitsverhältnisse mehrere Jobs ausüben. In Mittel- und Nordeuropa haben sich im korporatistischen Wirtschaftssystem höhere Urlaubsansprüche und geregelte Arbeitszeiten durchgesetzt. In allen drei genannten Regionen zeigen sich allerdings in neuerer Zeit gegenteilige Tendenzen, weil Erwerbsarbeit knapp und unsicher wird, weil sich aber auch viele neue Arbeitsformen mit flexiblen Beschäftigungszeiten ergeben. Der Wunsch nach erlebnisreicher F. dürfte sich unter dem Einfluß medialer Globalisierung überall durchsetzen.

4. Zukunft der Freizeit

Ob sich eine globale F.-Gesellschaft entwickeln wird, bleibt fraglich. Im 21. Jh. wird der Anteil von F. und Tourismus am Wirtschaftssystem steigen, weil nicht nur die direkten Ausgaben für Unterhaltung, Reisen, Sport etc. zunehmen, sondern weil auch die indirekten Ausgaben z. B. für Autos, Medien, Wohnen etc. anwachsen werden. Wellness, Gesundheit, Mobilität, Entdeckungslust oder Freiheit sind Ideen, die weltweit breite Schichten der Bevölkerung erreichen und zu verändertem F.-Verhalten führen werden. In Asien, Osteuropa, Russland, aber auch in weiten Teilen Europas, Amerikas, Australiens und Neuseelands werden expansive F.-Märkte entstehen. Ärmere Regionen werden nur wenig profitieren. Auch die ärmeren Menschen in den vermeintlich reichen Gesellschaften Europas werden selbst in der F. weiter benachteiligt bleiben. Neue Ungleichheiten entstehen, viele werden vom Zeitwohlstand nicht profitieren können und unter Zeitnot leiden. Und wo F. Profit abwirft, werden oft die ökologischen Folgen übersehen.

In Zukunft wird F. noch mehr individualisiert werden, weil Zeithaben und -geben in einer Welt rascher und globalisierter Veränderungen für den Einzelnen immer mehr Gewicht erlangt. Immer mehr Menschen haben weltweite Kontakte und nutzen in der F. nicht nur durch Reisen, sondern auch durch allerlei Netzwerke Kontakte über den engen regionalen Rahmen hinaus. Zukünftig wird F. noch mehr als bisher technologisiert. Die fortlaufende Kommerzialisierung von F. kommt am deutlichsten in Events jeglicher Provenienz zum Ausdruck, seien es sportliche oder musikalische Großveranstaltungen oder andere Formen von Inszenierungen. Moderne Gesellschaften sind eben auch Erlebnisgesellschaften, weil immer mehr Handlungen als Erlebnis etikettiert werden – ob Einkauf, Kirchgang oder Spaziergang, alles lässt sich mit Erlebnisqualitäten verbinden. Hier ist v. a. das Nachtleben stark ausgeweitet worden, das vermutlich den Alkoholumsatz und den Substanzmittelkonsum begünstigt. Bes. stark dürfte F. in der Zukunft mit Virtualisierung und Inszenierung verbunden sein, weil sich v. a. durch Computer neue künstliche Welten jenseits der Realität schaffen lassen, indem selbst Reisen in Cyberwelten stattfinden können.