Hegemonie

1. Begriff

H. (von altgriechisch hēgemonía, Heerführung) ist die Vorherrschaft eines Staates über andere Staaten. Sie kann auf militärischer, wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Überlegenheit beruhen, wobei die Beherrschungsfelder einzeln oder auch in Kombination vorhanden sein können. Zum Wesen der H. zählt, dass die hegemonial beherrschten Staaten auf den jeweiligen Beherrschungsfeldern in ihren Entfaltung- und Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Der Begriff H. beschreibt dabei die politische Überordnungs-Struktur wertungsfrei in dem Sinne, dass damit noch keine Aussage zu ihrer Legalität oder Legitimität getroffen ist. Hegemonialstrukturen können mit Einwilligung der untergeordneten Staaten oder auch gegen deren Willen zur Entstehung gelangen. Der Begriff verhält sich deshalb auch nicht zu der Frage, ob und in welcher Weise die Vorherrschaft eines Staates über andere Staaten rechtlich verankert ist. Auch im Staatenbund und im Bundesstaat können hegemoniale Strukturen etabliert sein. Im Staatenbund kann die Hegemonialstellung eines Staates vertraglich vereinbart sein, wie das Beispiel Preußens und Österreichs im Deutschen Bund (1815–1866) zeigt. Für den Bundesstaat illustriert das Beispiel Preußens im Deutschen Reich (1871–1918) die verfassungsrechtlich verankerte Hegemonialstellung eines Gliedstaates über die anderen Gliedstaaten.

In einem erweiterten, von Antonio Gramsci begründeten, allerdings nicht allgemein anerkannten Begriffsverständnisses wird H. auch verstanden als Vorherrschaft von Institutionen, Organisationen oder gesellschaftlichen Gruppierungen innerhalb von Staaten.

2. Historische Erscheinungsformen

Seit der Antike ist die Geschichte eine Geschichte der Hegemonialstrukturen. Athen, Sparta und Theben konkurrierten um die Vorherrschaft unter den griechischen Stadtstaaten. Das römische Reich kannte eine Reihe von abgestuften Beherrschungsmechanismen, die gegenüber militärisch unterworfenen Gebieten zur Anwendung gebracht wurden. Das mittelalterliche Lehenswesen lässt sich als eine Vorform hegemonialer Strukturen begreifen. Dem Kaisertum und dem Reich fehlten aber die Attribute moderner Staatlichkeit, sodass der Begriff der H. nicht ohne weiteres auf diese Epoche angewandt werden kann. Mit der Herausbildung der neuzeitlichen Staatenwelt im 16. Jh. entstanden sogleich manifeste Hegemonialstrukturen, in denen sich Spanien (1519–1648), Frankreich (1648–1715) und England (1805–1914) abwechselten. Gründete die Englische H. maßgeblich auf einer Seeherrschaft, die länger als ein Jh. unangefochten blieb, musste sie ihren Überlegenheitsanspruch in anderen Hinsichten seit dem Untergang Napoleons im Rahmen des sogenannten europäischen Konzerts mit anderen Staaten – Österreich, Preußen und Russland – teilen. Die USA, die nach dem Ersten Weltkrieg dem Völkerbund ferngeblieben waren, haben erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Position einer Hegemonialmacht erworben. Allerdings war ihre militärisch-wirtschaftlich-kulturelle Führungsrolle bis zum Jahr 1990 beschränkt auf die westliche Staatenwelt, während im Osten mit der UdSSR eine zweite Hegemonialmacht entstand. H. und Gleichgewicht (Gleichgewichtspolitik) schlossen sich in dieser Phase nicht aus. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die jeweiligen H.n geradezu eine Voraussetzung für das Mächtegleichgewicht zwischen Ost und West bildeten. Heute, nach der Beendigung des ideologisch unterfütterten Ost-West-Konflikts befinden sich die Hegemonialstrukturen im Umbruch. Während Russland versucht, nach dem Zerfall der UdSSR und dem Auseinanderfallen des Warschauer Paktes die alte Vormachtstellung zu rekonstruieren (Georgien, Ukraine) und neue Einflusszonen zu etablieren (Syrien), scheint sich die USA auf der Suche nach einer neuen (Führungs-)Rolle zu befinden, wobei ihr kultureller Führungsanspruch in der islamischen Welt, ihr politisch-militärischer Führungsanspruch im Nahen Osten und ihr wirtschaftlicher Führungsanspruch in Asien auf Widerstand und Ablehnung stößt.

3. Politische und rechtliche Bedeutung

H. ist kein Ordnungsprinzip, besitzt aber eine Ordnungsfunktion. Als normatives Ordnungsprinzip lässt sich H. schon wegen des völkerrechtlichen Grundsatzes der souveränen Gleichheit aller Staaten nicht deuten. Wegen dieses Grundsatzes kann H. in rechtmäßiger Weise nur im Konsens der Staaten hergestellt werden. Wird ein solcher Konsens erreicht, entfaltet H. aber durchaus eine Ordnungsfunktion. Ein Beispiel bilden die Vereinten Nationen, in denen die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich) eine hegemoniale Sonderrolle innehaben. Die internationale Staatengemeinschaft hat sich den ständigen Mitgliedern in der Erwartung freiwillig untergeordnet, dass nur im Konsens dieser (Atom-)Mächte die Aufgabe der Friedenssicherung wirkungsvoll wahrgenommen werden kann. Einseitig aufgezwungene H. ist demgegenüber völkerrechtswidrig. Sie verstößt gegen das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht, ggf. auch gegen das Interventionsverbot oder gegen das Gewaltverbot. Solche Phänomene einseitig aufgezwungener H. lassen sich auch als imperialistische Herrschaftsformen (Imperialismus) bezeichnen, die den Übergang zu einer vollständigen Fremdherrschaft bilden können. Beispiele sind die Interventionen der UdSSR in Ungarn (1956), in der Tschechoslowakei (1968) und in Afghanistan (1979).

H. bedarf zu ihrer Legalität und Legitimität immer eines rechtlich gesicherten Konsenses zwischen Hegemonialmacht und H.-Unterworfenem. Die faktische Position als Großmacht oder Supermacht und die damit einhergehende Hegemonialstellung alleine vermittelt keinen Rechtstitel zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und keinen Rechtstitel zur Anwendung militärischer Gewalt.