Selbstbestimmungsrecht
1. Begriffsvarianten
Das S. entfaltet sich in unterschiedlichen Bedeutungen.
a) Als individuelles S. bezeichnet man das allgemeine Freiheitsrecht des Einzelnen gegenüber dem Verfassungsstaat, wie es prototypisch Art. 4 der Französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 („La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi, l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres Membres de la Société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la Loi.“) anerkennt und Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich verbürgt. Im Verfassungsstaat wird damit die Freiheit des Individuums als dem Staat und seinem Recht vorausliegend und unbeschränkt konzipiert. Jede staatliche Beschränkung der individuellen Freiheit ist folglich rechtfertigungsbedürftig, und diese Rechtfertigung gelingt nur, wenn die Freiheitseinschränkung zur Wahrung der gleichen Freiheit aller anderen oder zur Verwirklichung des Gemeinwohls erforderlich ist.
Zum kirchlichen S. nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV s. Kirche und Staat.
b) Ein Recht auf kollektive Selbstbestimmung vermitteln die verfassunggebende Gewalt des Volkes und die Demokratie als Staats- und Regierungsform. An ihr haben die das Staatsvolk bildenden Staatsbürger in Gestalt der demokratischen Mitwirkungsfreiheit, namentlich ihres Wahlrechts, Anteil.
c) Mit Volkssouveränität ist auch bereits ein Aspekt des völkerrechtlichen S.s der Völker benannt, kraft dessen sie frei über ihren politischen Status entscheiden und in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung gestalten (Art. 1 Abs. 1 IPbpR, IPwskR).
2. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
2.1 Entstehungsgeschichte
Mitte des 19. Jh. als Begriff aufgekommen, hat das S. erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs als regulatives Prinzip in die internationale Politik Einzug gehalten. Während US-Präsident Thomas Woodrow Wilson es v. a. mit Volkssouveränität und Demokratie verband (vgl. die Kongressrede vom 11.2.1918), proklamierte die Leninsche und Stalinsche Doktrin und die anfängliche Praxis des bolschewistischen Russland „das Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung bis zur völligen Lostrennung und Bildung eines unabhängigen Staates“ (Deklaration vom 15.11.1917), das aber unter dem ideologischen Vorbehalt stand, dass es „nicht als Recht der Bourgeosie, sondern als Recht der werktätigen Massen der gegebenen Nation auf Selbstbestimmung“ auszulegen sei.
Die Territorialentscheidungen der Pariser Friedenskonferenz hat das Prinzip der Selbstbestimmung nicht maßgeblich bestimmt. Insgesamt dokumentiert die Staatenpraxis nach dem Ersten Weltkrieg, dass der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker sich (noch) nicht von einem politischen Programmsatz zu einem völkerrechtlichen Rechtstitel entwickelt hatte. Die vom Völkerbund mit der Erstattung eines Rechtsgutachtens zur sogenannten Aaland-Frage beauftragte internationale Juristenkommission vom 5.9.1920 kam in ihrem Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass der Grundsatz der Selbstbestimmung noch nicht zu einem Satz des positiven Völkerrechts erstarkt sei.
Der „Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker“ fand dann zwar nach dem Zweiten Weltkrieg als „Zielbestimmung“ in Art. 1 Nr. 2 und in Art. 55 Aufnahme in die UN-Charta, aber zunächst nur als ein rechtlich unverbindliches Ziel, noch nicht als Rechtsprinzip. Erst infolge einer im Jahre 1960 verabschiedeten Resolution der UN-Generalversammlung 1514 (XV) erstarkte der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker durch Konkretisierung von Träger und Inhalt im Kontext der Dekolonisierung (Kolonialismus) zu einem völkerrechtlichen Rechtstitel und wurde so zum S.
Obwohl außerhalb des Entkolonialisierungsprozesses bis heute über Inhaber und Inhalt des S.s der Völker keine Einigkeit und Klarheit besteht, gilt der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker heute nach allgemeiner Ansicht nicht bloß als politische Leitlinie, sondern als verpflichtendes Rechtsprinzip. Die Anerkennung des S.s in den jeweiligen Art. 1 der beiden UN-Pakte von 1966 (IPbpR und IPwskR) hat seiner universellen Geltung als Völkerrecht endgültig zum Durchbruch verholfen. In die sogenannte „Friendly Relations Declaration“ der UN-Generalversammlung 2625 (XXV) von 1970, die als deklaratorische Wiedergabe geltenden Völkergewohnheitsrechts (Gewohnheitsrecht) verstanden wird, ist es als fünfter „Grundsatz“ aufgenommen worden. Die Geltung des S.s als völkervertrags- und auch als völkergewohnheitsrechtliche Norm ist daher heute im Prinzip unbestritten; sie ist auch vom IGH in mehreren Entscheidungen anerkannt worden. Das S. wird sogar überwiegend als ius cogens eingestuft. Die Berufung auf das S. ist ubiquitär (s. zuletzt die Unabhängigkeitserklärung Kataloniens vom 27.10.2017).
2.2 Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker
Träger des S.s sind zunächst alle bereits staatlich organisierten Völker. Subjekt des S.s kann aber auch und gerade ein Volk sein, das seine Existenz unter Berufung auf das S. erst in eine politische Form bringen will. Hier stellt sich allerdings das Problem, anhand welcher Kriterien die Volkseigenschaft und damit die Rechtsträgerschaft zu bestimmen ist. Hier dürften objektive, einheitsstiftende Momente wie z. B. die räumliche Geschlossenheit des Siedlungsgebiets, gemeinsame Abstammung, Sprache, kulturelle Tradition, Religion und Geschichte von Relevanz sein, die um das subjektive Element eines notwendigen kollektiven Identitätsbewusstseins (Identität) zu ergänzen sind. Letztlich identifiziert sich ein Volk kraft seines S.s selbst, indem es politisches Selbstbewusstsein entwickelt und artikuliert. Das S. fordert prinzipiell die Akzeptanz eines manifestierten Selbstverständnisses einer Menschengruppe als „Volk“.
2.3 Der Gewährleistungsinhalt des Selbstbestimmungsrechts der Völker
2.3.1 Das äußere Selbstbestimmungsrecht
Thema des äußeren S.s ist der (inter-)nationale politische Status eines Volkes, d. h. seine eigene organisierte politische Existenz. Hier ist zwischen einem offensiven und einem defensiven S. zu unterscheiden: Ist ein Volk bereits staatlich organisiert, so gibt ihm sein S. einen Abwehranspruch gegen völkerrechtswidrige Beeinträchtigungen der territorialen Unversehrtheit und/oder Unabhängigkeit seines Staates durch Drittstaaten. Der inhaltlich gleichgerichtete Abwehranspruch des Staates aus dem Interventions- und Gewaltverbot selbst erhält dadurch ein zweites Zuordnungssubjekt. Eine offensive, auf Veränderung des (territorialen oder politischen) status quo zielende Stoßrichtung erhält das äußere S. dagegen dann, wenn ein noch nicht staatlich oder in anderer Weise politisch organisiertes Volk eine mehr oder weniger selbständige politische Existenz einfordert. Diese kann die Form eines unabhängigen (National-)Staates annehmen; denkbar sind aber auch unterhalb der Schwelle von Eigenstaatlichkeit im völkerrechtlichen Sinne angesiedelte Ansprüche von Völkern und Volksgruppen auf eine föderative (Auf-)Gliederung (Föderalismus) der einheitlichen Staatsgewalt (Staat), auf einen (unter Umständen international garantierten) Autonomiestatus oder (lokale bzw. personale) Selbstverwaltung. Diese Realisierungsvarianten eines äußeren S.s werden mitunter auch als „internes“ oder „kleines“ S. bezeichnet. Hier berührt sich das S. mit dem völkerrechtlichen Minderheitenschutz.
Zunehmend strengere Anforderungen werden an die demokratische Art und Weise der Ausübung des äußeren S.s gestellt, denen im Regelfall nur durch ein Referendum Rechnung getragen werden kann, das den Willen des betreffenden Volkes authentisch bekundet.
Außerhalb des kolonialen Kontextes verleiht das S. nach der Praxis der in den Vereinten Nationen weltweit organisierten Staatengemeinschaft nach wie vor grundsätzlich kein Sezessionsrecht; insofern geht die territoriale Souveränität der Staaten vor. Nach überwiegender Auffassung im völkerrechtlichen Schrifttum soll aber ausnahmsweise ein Recht auf Loslösung aus dem bisherigen Staatsverband bestehen, wenn Angehörige einer ethnischen Gruppe gerade wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit in einem Staat systematisch diskriminiert und verfolgt werden oder gar von einem Genozid (Völkermord) bedroht sind.
Das S. der Völker ist Abwehrrecht gegen Vernichtung, im Übrigen auch gegen Vertreibung (Flucht und Vertreibung); es wird damit mittelbar zu einem „Recht auf die Heimat“.
2.3.2 Das innere Selbstbestimmungsrecht
Das innere S. garantiert einem (Staats-)Volk, seine innere (Verfassungs-)Ordnung ohne Einmischung von außen selbst zu bestimmen. Es gewährleistet dem Staatsvolk die eigene, von dirigierender Einflussnahme dritter Mächte freie Entscheidung über die innere Organisation seines Staates, mithin Verfassungsautonomie. Diese innere Seite des S.s der Völker geht ideengeschichtlich auf die Französische Revolution zurück, in der sich das Prinzip der Volkssouveränität durchsetzte.
Das innere S. eines Volkes richtet sich gegen den eigenen Staat, für den es sich in äußerer Selbstbestimmung entschieden hat. Es steht daher dem jeweiligen Staatsvolk als alleinigem Rechtsträger zu.
So wie das äußere S. der Völker in seinen Rechtsfolgen teilweise mit dem Gewaltverbot korrespondiert, so deckt sich das innere S. in seinem Gehalt z. T. mit dem Interventionsverbot. Das Interventionsverbot stellt die innere politische Ordnung prinzipiell von fremdstaatlicher Einwirkung frei. Die innere Souveränität der Staaten schließt ihr Recht auf Selbstregierung ein. Hier berührt sich also die Staatssouveränität mit der durch das innere S. der Völker garantierten Volkssouveränität; sie erscheint gleichsam als der Zweck, zu dem Staatssouveränität gefordert wird. Hinter dem Schutz staatlicher Souveränität steht als völkerrechtliche Letztbegründung das S. der Völker und damit – verfassungstheoretisch gesprochen – das Prinzip der Volkssouveränität, das im (inneren) S. eine völkerrechtliche Anerkennung und Absicherung erlangt hat.
Das S. umfasst die Gewährleistung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, den demokratischen pouvoir constituant. Das S. der Völker erweist sich insofern als ein Ausfluss des demokratischen Prinzips der Regierung mit der Zustimmung der Regierten.
Das innere S. kann aber nicht einfach mit einem „Recht auf Demokratie“ gleichgesetzt werden. Es kann auch die Entscheidung gegen Demokratie nach westlichem Verständnis legitimieren, sofern die Herrschaft sich nur auf den Willen des Volkes i. S. d. Prinzips der Volkssouveränität zurückführen lässt. Das innere S. legt nicht fest, wer regieren soll (Herrschaft der demokratisch legitimierten Mehrheit, einer Elite oder eines Einzelnen). Vielmehr ist das Ergebnis dieses – gegen äußere Ingerenz abgeschirmten – Selbstbestimmungsprozesses notwendig offen und wird auch durch die vorausgesetzte Freiheit des Selbstbestimmungsvorgangs nicht, jedenfalls nicht vollständig, präjudiziert.
Anders als bei „bloß“ undemokratischen Verhältnissen ist das innere S. der Völker nach der Staatenpraxis verletzt, wenn in einem Staat eine rassistische Minderheit die Mehrheitsethnie von der Teilhabe an der politischen Macht ausschließt und so „Fremdherrschaft“ über die Bevölkerungsmehrheit ausübt. Nach der „Friendly Relations Declaration“ gebietet das S. der Völker eine Regierung, „welche die gesamte Bevölkerung des Gebietes ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt“. Daraus ergibt sich zugl., dass eine Regierung, die bestimmte politische Gruppen, soziale Schichten oder sprachlich/kulturell definierte Minderheiten, die keine eigene „Rasse“ bilden, von der Teilhabe an der Staatsgewalt ausschließt, was zwar unter Umständen gegen die Menschenrechte, nicht aber gegen das S. der Völker verstößt.
2.4 Das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht
Es betrifft insb. das Recht eines Volkes zur freien und eigennützigen Verfügung über seine Bodenschätze und anderen natürlichen Ressourcen. Davon unberührt bleiben alle Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen (Art. 1 Abs. 2 IPbpR, IPwskR). Selbstbestimmungswidrig wird eine ökonomische Lage erst dann, wenn der wirtschaftliche Einfluss fremder Staaten oder Unternehmen die politische Unabhängigkeit eines Landes aushöhlt.
2.5 Reaktionen auf Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts der Völker
Drittstaaten können auf Verletzungen des S.s durch andere Staaten mit Repressalien reagieren; dagegen sind ihnen militärische Gegenmaßnahmen verwehrt, auch wenn ein Volk von einem Staat gewaltsam an der Ausübung seines S.s gehindert wird. Nur der UN-Sicherheitsrat kann ggf. auch militärische Zwangsmaßnahmen ergreifen, sofern er in der Verletzung des inneren oder äußeren S.s zugleich eine Friedensbedrohung i. S. d. Art. 39 UN-Charta erblickt.
Literatur
B. Kempen/C. Hillgruber: Völkerrecht, 22012, §§ 48–52 • J. Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2010 • D. Thürer/T. Burri: Self-Determination (2008), in: MPEPIL, URL: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e873?prd=EPIL, (abger.: 17.2.2021) • A. Cassese: Self-Determination of Peoples – A Legal Reappraisal, 1995 • D. Murswiek: Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, in: Der Staat 23/4 (1984), 523–548.
Empfohlene Zitierweise
C. Hillgruber: Selbstbestimmungsrecht, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Selbstbestimmungsrecht (abgerufen: 21.11.2024)