Kollektivismus
Unter K. (von lateinisch colligere = zusammenbringen, sammeln) versteht man allgemein eine politische Theorie, der zufolge das Kollektiv die grundlegende Einheit gesellschaftlicher Autorität ist. Diese normative Position wird mitunter durch spezifische sozialontologische Annahmen untermauert, dabei wird der Begriff sowohl in der normativen politischen Theorie wie auch enger in der Sozialontologie kontrastiv zu dem Begriff des Individualismus verwandt. Ein normativer Individualismus besagt, dass die relevanten Träger von Ansprüchen einzig Individuen sind, ein sozialontologischer Individualismus, dass die einzigen in der sozialen Welt metaphysisch existierenden Entitäten Individuen sind – und nicht etwa „Rassen“, „Klassen“, „Nationen“ etc.
Ideengeschichtlich finden sich zwei Verwendungsweisen des Begriffs K., die sich jeweils in ihrem Verständnis der Bedeutung von „Kollektiv“ unterscheiden. Erstens dient der Begriff zur Charakterisierung einer politischen Theorie der Selbstorganisierung, in der das Kollektiv als Institution zwischen Staat und Individuum die Quelle politischer Autorität darstellt. Zweitens – und prominenter – dient er als Überbegriff für eine Reihe von Positionen, deren gemeinsamer Kern in der Annahme besteht, es gäbe kollektive Entitäten wie Staaten, Rassen oder Nationen, die Träger eigenständiger normativer Ansprüche wären und gegenüber ihren Mitgliedern die letzte politische Autorität hätten.
Schon immer von randständiger Bedeutung, spielt der Begriff des K. weder in der einen noch anderen Hinsicht in der aktuellen politischen Diskussion oder Gesellschaftstheorie eine wichtige Rolle. Eine größere Bedeutung kam ihm v. a. als polemischer Sammelbegriff zu, mit dem liberale und konservative Kritiker zur Zeit des Kalten Krieges Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus einen gemeinsamen philosophischen Kern unterstellten. In dieser Verwendung ist K. der Korrespondenzbegriff zu Totalitarismus. Der K. wird hier als normative Position verstanden, die fordert, dass die Individuen einzig dem Interesse des Ganzen dienen sollen, d. h. ihnen werden keine eigenständigen Ansprüche zugestanden. Die einzelne Varianten des K. ließen sich dadurch unterscheiden, was sie jeweils als Kollektivsubjekt auffassen: etwa das Volk, die Nation oder die Arbeiterklasse.
Als politischer Begriff wurde der K. auf dem Basler Kongreß der Internationalen 1869 von Michail Bakunin in die Debatte eingebracht und diente als Vorschlag, wie sich die Freiheit der Einzelnen mit den Bedürfnissen und Angelegenheiten der Gesellschaft vereinigen lassen. Kontrastiv wurde er erstens gegenüber der als autoritär empfundenen Strömung innerhalb der Internationale verwandt, die von Karl Marx vertreten wurde und die auf eine klare, funktionale und effektive parteiförmige Organisation der sozialistischen Arbeiterbewegung setzte. Zweitens war der Begriff des K. gegen den in der französischen Arbeiterbewegung verbreiteten Mutualismus gerichtet, der von Pierre-Joseph Proudhon zur Grundlage einer Sozialismustheorie ausgearbeitet wurde. Der Mutualismus oder Proudhonismus hatte als Kern die Idee, dass die einzige legitime Autorität in genossenschaftlichen Zusammenschlüssen besteht, die auf freiwilliger Grundlage gebildet werden und der wechselseitigen Wahrung von Interessen sowie der Absicherung gegen Unbill dienen. M. Bakunin zielte mit dem Begriff des K. auf eine Position zwischen dem als autoritär und staatsfixiert empfundenen Marxismus und dem auf der spontanen Freiwilligkeit horizontaler Zusammenschlüssen von Kleinstproduzenten aufruhenden Mutualismus ab. M. Bakunins K. hingegen sah zwischen den Einzelnen und dem Staat die Entität des auf freiwilliger Basis konstituierten Kollektivs als die entscheidende Einheit an, in der sich Ansprüche politischer Autorität verankern lassen. Anschaulich werden die Unterschiede bei der Frage des Eigentums. Im Mutualismus verbleibt dieses als Kleinsteigentum im Privatbesitz, im Marxismus wird es in Staatseigentum überführt, im K. hingegen gelangt es in die Hand von Kollektiven, die in direkt-demokratischen Verfahren über dieses und seinen wirtschaftlichen Ertrag verfügen.
Als polemische Sammelbezeichnung mit anderer Bedeutung erlangte der Begriff des K. vor allem in den intellektuellen Auseinandersetzungen des 20. Jh. eine Relevanz. Hier diente er dazu, die philosophischen Wurzeln einer Politik aufzudecken, in der es keinen Bereich von Individualrechten gab, der dem politischen Zugriff entzogen war. Bes. Prominenz erlangte der Begriff durch die Schriften Karl Raimund Poppers, jedoch spielt der Gegensatz zwischen K. und Individualismus auch eine zentrale Rolle bei Autoren wie Isaiah Berlin oder Ludwig von Mises. In „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (2003) zeichnet K. R. Popper eine ideengeschichtliche Entwicklung des K. als eines Typs totalitären Denkens von Platon bis zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel und K. Marx nach. Der Begriff wird von K. R. Popper allgemein zur Kennzeichnung einer Lehre verwandt, „die die Bedeutung eines Kollektivs oder einer Gruppe […] der Bedeutung des Individuums gegenüber hervorhebt“ (Popper 2003: 409). Obwohl grundsätzlich graduell angelegt – Lehren können mehr und weniger kollektivistisch sein –, verwendet K. R. Popper den Begriff überwiegend im Sinne eines radikalen K. Diese absolutistische Form des K. besteht in die Ansicht, dass kein Individuum, das Teil des Kollektivs ist, Rechte gegenüber dem Kollektiv hat. Die liberalen Kritiker des K. behandeln diesen als umfängliche Weltanschauung, in der alle zentralen normativen Begriffe eine spezifische Interpretation erhalten. Sie kritisieren ein kollektivistisches Verständnis von Freiheit, das sich ausschließlich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergibt, in die man geboren wird und in der man gemeinsam aufwächst.
Bei K. R. Popper findet sich auch die These, dem normativen K. unterlägen spezifische sozialontologische Annahmen. Obwohl bei K. R. Popper und in der weiteren Literatur beide Problemstellungen oft vermengt werden, ist es sinnvoll den K. vom Holismus zu unterscheiden und entspr. die ihnen jeweils korrespondierenden Gegenbegriffe des Individualismus und Atomismus. In der Sozialontologie bezeichnet der K. eine Doktrin, der zufolge Individuen in ihren (psychologischen) Eigenschaften und ihrem Handeln direkt durch die Eigenschaften sozialer Entitäten, von denen sie ein Teil sind, bestimmt werden. Dabei wird diesen sozialen Entitäten (bspw. Rasse, Klasse, Nation) eine unabhängige und eigenständige Existenz zugeschrieben. Der Holismus hingegen behandelt nicht die Beziehung eines unabhängig gedachten Ganzen zu dessen Teilen, sondern die Beziehung der einzelnen Teile untereinander. Angenommen wird, dass die einzelnen Teile eines Ganzen wechselseitig voneinander beeinflusst werden, und nur aufgrund der Beziehung zu anderen Teilen bestimmte Eigenschaften aufweisen. Etwa haben Menschen nur aufgrund ihrer Beziehungen zu anderen die Fähigkeit zu sprechen und deswegen in bestimmter Weise zu denken. Als prominente Beispiele eines sozialontologischen K. lässt sich die in der hegelianischen Tradition zu findende Annahme anführen, der Staat müsse als eigenständiger, unabhängig von Herrschern und Beherrschten existierender Akteur verstanden werden, der diese in ihrem Handeln wesentlich prägt und ihnen Zwänge auferlegt. Auch findet er sich in den verschiedenen nationalistischen Ideologien des 19. Jh. und 20. Jh. die Annahme eines „Volks-“ oder „Nationalgeists“, der zufolge die Individuen in ihren charakterlichen Eigenschaften durch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk oder einer Nation determiniert sind. Unter gänzlich anderen Vorzeichen fand die kollektivistische Perspektive in Folge der Überlegungen Émile Durkheims auch in der Soziologie breite Aufnahme. Zur Erklärung verschiedener sozialer Phänomene schrieb É. Durkheim sozialen Regularitäten oder Strukturen eigenständige und das Handeln der ihnen unterliegenden Individuen determinierende Existenz zu.
Literatur
I. Berlin: Freiheit: Vier Versuche, 2006 • K. R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, in: ders.: Gesammelte Werke, Bde. 5 und 6, 2003 • D. von der Pfordten: Normativer Individualismus versus normativer Kollektivismus in der Politischen Philosophie der Neuzeit, in: ZphF 54/4 (2000), 491–513 • É. Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, 1984 • L. van Mises: Im Namen des Staates oder Die Gefahren des Kollektivismus, 1978.
Empfohlene Zitierweise
P. Schink: Kollektivismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kollektivismus (abgerufen: 21.11.2024)