Korporatismus

K., Korporativismus und Neo-K. bezeichnen die Beteiligung organisierter Gruppen an politischen Entscheidungen und deren Umsetzung. Gemeint sind berufsständische Formen (Berufsständische Ordnung) politischer Repräsentation und Selbstverwaltung, die Einbindung von Interessenverbänden in die Politikgestaltung und die Übertragung öffentlicher Aufgaben an private Verbandsakteure. Deren Gemeinsamkeit liegt in der herausragenden Stellung sozialer Verbände (Korporationen) und der ihnen zugedachten Rolle bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. K. ist ein Gegenentwurf zum territorialen Repräsentationsprinzip und der Mehrheitsregel im Parteienparlamentarismus, zur Vorstellung ungeteilter innerer Souveränität des Staates und zum Wettbewerbsmodell einer pluralistischen Organisationsgesellschaft (Pluralismus). Die Forschung unterscheidet den autoritären Staatskorporatismus vom „liberalen“ oder „sozietalen“ Neo-K., wie er in der politischen Praxis liberal-demokratischer Systeme anzutreffen ist. Dort bildet er neben dem Parteienparlamentarismus ein eigenständiges Subsystem gesellschaftlicher Interessenvermittlung und Politikgestaltung.

1. Ideengeschichtlicher Hintergrund

Der K.-Begriff geht auf mittelalterliche Ordnungsvorstellungen einer von berufsständischen Korporationen dominierten politischen Ökonomie zurück. Darin erfüllen Handwerkszünfte und Kaufmannsgilden ökonomische, soziale, kulturelle, religiöse und ordnungspolitische Funktionen, die sie für ihre Mitglieder und das Gemeinwesen wahrnehmen: die Festlegung von Qualitätsstandards, Preisen und Löhnen, Bildungs- und Arbeitsnormen, die Versorgung von Hinterbliebenen, der Betrieb karitativer Einrichtungen sowie die Vertretung in Gemeinderäten, Ständeversammlungen, Gerichten und Stadtmilizen.

Nach seinem Niedergang im Spätmittelalter fand der K. im Zuge fortschreitender Liberalisierung und Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) neue Aufmerksamkeit. Das korporatistische Denken in der Philosophie des Idealismus und der politischen Romantik (Johann Gottlieb Fichte, Adam Müller, Georg Wilhelm Friedrich Hegel) wendet sich gegen die Idee einer ordnungsstiftenden „unsichtbaren Hand“ des Marktes (Adam Smith). Es möchte dem Verfall von Solidargemeinschaften, drohender Vereinzelung und sozialer Entwurzelung entgegenwirken. So unterschiedlichen Denkansätze wie die Hegelsche Staatsphilosophie, die Katholische Soziallehre, der Gildensozialismus und Organisierte Kapitalismus bis hin zu autoritären und faschistischen Herrschaftsideologien (Faschismus) kreisen um das Problem der Verzahnung einer Gesellschaft der Individuen mit der zur Befriedung ihrer Beziehungen eingerichteten Regierungsgewalt. Sie soll im K. nicht durch politische Parteien, sondern durch semi-autonome Institutionen subsidiärer Gemeinschaftsbildung – Korporationen – erreicht werden, auf denen der Staat in je unterschiedlicher Ausprägung als Verkörperung des allgemeinen Interesses aufbaut.

V. a. die Katholische Soziallehre und die Enzykliken „Rerum novarum“ (1891) und „Quadragesimo anno“ (1931) enthalten korporatistisches Gedankengut (Sozialenzykliken). Sie propagieren eine organische, von Solidarität und Subsidiarität geprägte Rekonstruktion der Industriegesellschaft. Ihre Vorläufer sind konservative Sozialphilosophien des 19. Jh., die „katholische Gilden“ anstreben, „in denen das Interesse eines Berufsstandes dem privaten Interesse vorangeht, wo der Gegensatz von Kapital und Arbeit einer Sozialordnung von Schutz und Sorge weicht, die im christlichen Geist ausgeübt und frei akzeptiert wird. […] Es ist immer derselbe Gedanke: den Wettbewerb einschränken, gemeinsame Interessen verbinden, dem Arbeitgeber Schutzpflichten auferlegen, die Arbeit und die Lage der Arbeitenden verbessern“ (de Mun 1847, zit. n. Moon 1921: 99).

Angesichts starker kommunistischer und faschistischer Bewegungen warnt „Quadragesimo anno“ vor Gefahren für die Freiheit und Würde des Menschen (Menschenwürde), die von einem hemmungslosen Kapitalismus und totalitären Kommunismus ausgehen. Andererseits finden sich korporatistische Ordnungsvorstellungen gerade auch in faschistischen und autoritären Regimen der Zwischen- und Nachkriegszeit. Als politische Ideologie wird der K. von liberaler Seite abgelehnt, weil er Kollektive zu Eckpfeilern der Politik und der Wirtschaft erhebe und zugleich die individuelle Repräsentation, bürgerliche Freiheiten, freie Konkurrenz und die parlamentarische Demokratie schwäche. Auch Sozialisten und Kommunisten bekämpften den K. als eine bes. perfide Variante kapitalistischer Klassenherrschaft, welche die politische Linke beseitigen und die Arbeiterschaft mit Zuckerbrot und Peitsche kontrollieren wolle.

Unter den säkularen K.-Konzepten der Moderne sind die Soziologie von Émile Durkheim, der Gildensozialismus und seine Vorläufer im französischen Syndikalismus, im britische Owenismus und der von Otto Friedrich von Gierke begründeten Genossenschaftstheorie zu nennen (Genossenschaften). Gemeinsam geht es ihnen um die Assoziation von Gruppen zum Zweck der Sozialintegration und Einhegung der Marktkräfte. Im Unterschied zu staatstheoretischen Ordnungsideen lenken sie den Blick v. a. auf Solidarressourcen innerhalb sozialer Gruppen.

Als Sonderformen des K. gelten das auf Zwangsmitgliedschaft beruhende und auf ökonomische Funktionen zugeschnittene Kammerwesen sowie der in Deutschland das Verhältnis von Staat und Glaubensgemeinschaften bestimmende Religionskorporatismus.

2. Praxis und Voraussetzungen des Neokorporatismus

Die in den 1970er Jahren aufkommende Theorie des Neo-K. behandelt Produzentenverbände und deren Konzertierung mit staatlicher Politik im liberal-demokratischen Wohlfahrtskapitalismus. Hier geht es um das politische Steuerungspotential einer zwischen Regierungen, Gewerkschaften und Industrieverbänden in Institutionen der Sozialpartnerschaft ausgehandelten Wirtschafts– und Sozialpolitik.

Da autonome Verbände von Kapital und Arbeit der staatlichen Politik „unumgehbare Daten“ (Böckenförde 1976: 462) setzen, erscheint deren wechselseitige Abstimmung vorteilhaft. Dies galt bes. in den 1970er Jahren zur Hochzeit des Keynesianismus und der konjunkturpolitischen Globalsteuerung. Sozialpartnerschaftliche Strukturen in Österreich, Schweden, den Niederlanden, der deutschen Konzertierten Aktion oder der norwegischen Kombinert oppgjør zielten auf eine der Gesamtwirtschaft zuträglichen Abstimmung der Lohn- und Einkommenspolitik tarifautonomer Verbände (Tarifautonomie) mit der Steuer- und Ausgabenpolitik des Staates. Ein Dreierbündnis (Tripartismus) von Staat und Produzentenverbänden trug auch zur Bewältigung des ökonomischen Strukturwandels z. B. der Stahl- und Kohlenkrise sowie des Aufbau-Ost im Zuge der deutschen Vereinigung bei. Es wurde zu Zeiten hoher Arbeitslosigkeit in den 1990er Jahre in verschiedenen Ländern mit wechselndem Erfolg wiederbelebt. Während z. B. die Niederlande mit ihrem konsensdemokratischen „Poldermodell“ beschäftigungspolitisch erfolgreich waren, scheiterten in Deutschland Versuche einer verhandelten Reform von Arbeitsmarktinstitutionen und des Wohlfahrtsstaates im Rahmen eines korporatistischen Bündnisses für Arbeit mehrfach.

Theorie und Empirie des Neo-K. konzentrieren sich auf Probleme des Interessenausgleichs in Verhandlungsnetzwerken, voran das Problem der Intermediarität von Verbandseliten. Sie sollen die Interessen ihrer Mitgliedschaft kompetitiv vertreten und zugleich den Forderungen ihrer Verhandlungspartner kooperativ entgegenkommen. Dabei entsteht zwischen ihrem Vertretungs- und Verhandlungsmandat ein Spannungsverhältnis, das neokorporatistische Austauschbeziehungen verletzlich macht und deren Unbeständigkeit und Erosion erklärt. Um es zu stabilisieren, bedarf es einer gefestigten Organisationsgesellschaft, in der sich Interessengruppen freiwillig zu körperschaftlich verfassten, hierarchisch geführten Mitgliederverbänden zusammenschließen, die der Staat als einheitliche Ansprechpartner anerkennt. Dadurch werden sie nach außen (ver)handlungsfähig. Binnenorganisatorisch erhöht ihr quasi-öffentlicher Status die Organisationsbereitschaft und Gefolgschaft der Mitglieder. Dies befähigt wiederum die Verbandsführung, ausgehandelte Kompromisse intern durchzusetzen. Insofern ist korporatistische Verbändepolitik ein Gegenentwurf zu pluralistischen Interessenwettbewerb und lobbyistischer Einflusspolitik (Lobby). Da sie im Schatten staatlicher Hierarchie gewissermaßen unter Aufsicht stattfindet, differiert sie – ungeachtet starker Verbandsmacht – von pressure politics, die in einem freien Kräftemessen von außen auf politische Entscheider einwirkt.

3. Zusammenfassung und Kritik

K. ist keine Sonderform der Artikulation und Durchsetzung organisierter Interessen. „Vielmehr ist er eine institutionalisierte Form der Politikgestaltung, in der große Interessenverbände miteinander und mit Regierungs- und Verwaltungsakteuren nicht nur bei der Artikulation oder ‚Vermittlung‘ von Interessen vernetzt sind, sondern – in ihren entwickelten Formen – an der Herstellung politisch verbindlicher Entscheidungen und deren Umsetzung mitwirken. Gerade wegen der engen wechselseitigen Durchdringung von Staatsbürokratien und großen Interessenorganisationen erscheint das traditionelle Konzept der ‚Interessenvertretung‘ für ein theoretisches Verständnis des K. unangemessen. Vielmehr handelt es sich um ein integriertes System der ‚gesellschaftlichen Führung‘ ([Amitai] Etzioni), das – v. a. in der Vielfalt des westeuropäischen ‚Neokorporatismus‘ – eine ernsthafte Herausforderung für den traditionellen institutionellen und organisatorischen Rahmen der liberalen Demokratie darstellt“ (Lehmbruch 2003: 71).

Worin besteht diese Herausforderung? Die neue K.-Debatte entstand im Zuge der Ausweitung von Staatsaufgaben. Der Parteienwettbewerb, parlamentarische Beratung und Expertisen konnten den wachsenden Konsens- und Informationsbedürfnissen einer aktiven, gestalterischen Politik ebensowenig nachkommen wie eine legal programmierte Verwaltung. Korporatistische Interaktionsformen erschienen in dieser Situation geeignet, drängende kollektive Probleme zu lösen und dafür Unterstützung zu finden. Alternativ böte sich ein Rückbau der Staatstätigkeit an, wie es mit der neo-liberalen Wende der 1980er Jahre versucht wurde, oder die Verlagerung von Entscheidungsmacht und Verwaltungskompetenzen auf autonome, von fachlicher Expertise geleitete Kommissionen und Behörden: ein technokratischer Weg, der in den Folgejahrzehnten ebenfalls beschritten wurde. Zugleich läßt sich eine Rückkehr zum Interessenpluralismus und die Entstehung neuer Beteiligungsformen sowie zivilgesellschaftliche Aktivierung (Zivilgesellschaft) feststellen. Ob der K. „tot“ ist oder nur ein „Chamäleon“, das sich immer wieder mit neuem Anstrich zeigt, ist Gegenstand von Kontroversen in der neueren K.-Forschung.