Tarifautonomie
I. Wirtschaftlich
Abschnitt druckenDie T. als das in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsmäßig garantierte Recht von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, in Kollektivverträgen die Lohn- und Arbeitsbedingungen selbständig und insb. unabhängig von staatlicher Einflussnahme zu regeln, ist ein integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft.
1. Historische Entwicklung
Als sich im 18. Jh. im europäischen Zivilrecht zunehmend das Prinzip der Privatautonomie durchsetzte, war es das Ziel, das von der Aufklärungsphilosophie begründete Selbstverfügungsrecht des Menschen (Autonomie) auch im Wirtschafts- und Arbeitsleben zu verwirklichen. Im Zuge dessen wurde nicht nur die Gewerbefreiheit, sondern auch der freie Arbeitsvertrag eingeführt. Wegen der überlegenen Marktmacht der Arbeitgeber konnte aus Sicht der Arbeiter von der Freiheit des Arbeitsvertrages aber gar keine Rede sein. Vielmehr konnten die Prinzipale und Fabrikherren die Lohn- und Arbeitsbedingungen weitgehend diktieren.
Koalitions- und Streikverbote hinderten die Gesellen und Arbeiter zunächst daran, dieser strukturellen Überlegenheit ihrer Lohnherren durch einen gewerkschaftlichen Zusammenschluss etwas entgegenzusetzen. Das änderte sich erst, seit ab den 1860er Jahren die Koalitionsverbote in den deutschen Ländern nach und nach aufgehoben wurden. Vorreiter der Gewerkschaftsbewegung und insb. der Tarifvertragsidee waren dabei nicht die Industriearbeiter, sondern die Handwerksgesellen, die aus traditionellen Gewerben stammten, gut ausgebildet waren, über ein ausgeprägtes Standesbewusstsein und auch über gewisse Erfahrungen mit berufsverbandlichen Zusammenschlüssen verfügten. Namentlich das Buchdruckgewerbe entwickelte sich zur Pionierbranche des Tarifvertragswesens; bereits 1873 wurde hier der erste reichseinheitliche Tarifvertrag geschlossen. In anderen Branchen gab es zunächst nur wenige Nachahmer. Zwar erhöhte sich die Zahl der gültigen Tarifverträge im Deutschen Reich von 300 im Jahr 1900 auf rund 11 000 im Jahr 1913, aber auch diese Entwicklung beschränkte sich auf wenige Branchen des Handwerks und der Leicht- und Fertigwarenindustrie. Das hatte mehrere Gründe:
a) Erstens waren v. a. die Arbeitgeber in den industriellen Branchen (Industrie) meist nicht bereit, die Gewerkschaften als Verhandlungspartner zu akzeptieren.
b) Zweitens war die Tarifvertragsidee auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung nicht unumstritten, denn sie unterlief den marxistischen Klassenkampfgedanken (Klassenkampf).
c) Drittens fehlte den Tarifverträgen lange Zeit die rechtliche Anerkennung; noch 1905 wertete das Reichsgericht sie als unverbindliche Abreden.
Erst in der Weimarer Republik erfuhr die T. mit der am 23.12.1918 erlassenen TVVO die rechtliche Anerkennung. Eine wirkliche Tarifpartnerschaft entwickelte sich in der Weimarer Zeit allerdings nicht. Das hatte nicht nur mit der schwierigen wirtschaftlichen Gesamtsituation zu tun, sondern auch damit, dass bereits die Demobilmachungsverordnungen von 1919 und dann die Schlichtungsverordnung von 1923 das in der TVVO verankerte paritätische Schlichtungswesen unterliefen und die staatliche Zwangsschlichtung einführten. Die staatlichen Zwangsschlichtungen entfalteten im wirtschaftlich-sozialen Bereich ähnlich verheerende Wirkungen wie die präsidialen Notverordnungen im politischen Raum.
Erst in der Bundesrepublik entwickelten sich auf der Grundlage des TVG vom 9.4.1949 eine nachhaltige Tarifvertragspraxis und eine wirkliche Tarifpartnerschaft.
2. Volkswirtschaftliche und soziale Bedeutung
Die T. erfüllt, wie das Arbeitsrecht insgesamt, v. a. eine Schutzfunktion für die abhängig Beschäftigten. Dieser Schutz ist erforderlich wegen des strukturellen Ungleichgewichts, das typischerweise zwischen den Parteien des Arbeitsvertrages besteht. Der Arbeitgeber ist i. d. R. die wirtschaftlich stärkere und die mit überlegenen Informationen ausgestattete Partei. Das Koalitionsrecht der Arbeitnehmer und das Recht der Gewerkschaften, für ihre Mitglieder kollektivvertragliche Regelungen von Lohn- und Arbeitsbedingungen zu vereinbaren und auch mit Arbeitskampfmitteln (Arbeitskampf) zu erstreiten, soll diese überlegene Macht der Arbeitgeberseite ausgleichen.
Dieses Prinzip der T. entspricht der Sozialen Marktwirtschaft. Ein wesentliches Grundelement der nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD etablierten Sozialen Marktwirtschaft ist das Konzept, mittels staatlicher Ordnungspolitik dafür zu sorgen, dass der marktliche Wettbewerb fair abläuft; Walter Eucken, der Kopf der insoweit maßgeblichen Freiburger Schule spricht von „Leistungswettbewerb“ (Eucken 2004: 247). Damit meint er v. a. ordnungspolitische Vorkehrungen gegen den Missbrauch von wirtschaftlicher Macht. Genau das ist der Ansatz der T., und W. Eucken erkennt das auch grundsätzlich an, indem er feststellt: „Im Rahmen einer Wettbewerbswirtschaft können die Gewerkschaften Institutionen eines wirklichen Ausgleiches sein“ (Eucken 2004: 322).
Ungeachtet dessen wird von manchen Ökonomen argumentiert, die T. bewirke eine Kartellierung des Arbeitsmarktes und sei schon allein deshalb mit einer Wettbewerbsordnung nicht vereinbar. Eine solche Argumentation aber übersieht die fundamentalen Unterschiede zwischen Gütermärkten und dem Arbeitsmarkt und blendet insb. das Machtproblem aus. Zwar ist es zutreffend, Tarifverträgen eine Kartellfunktion zuzusprechen, aber anders als Kartelle auf Gütermärkten führen sie nicht zur Vermachtung eines ansonsten freien Wettbewerbsmarktes. Vielmehr dient die T. dazu, gegen die strukturell bestehende Übermacht der Arbeitgeber eine adäquate Gegenmacht auf Arbeitnehmerseite zu ermöglichen. Franz Böhm hat bereits 1933 auf diesen entscheidenden Unterschied hingewiesen und betont, das Koalitionsrecht der abhängig Beschäftigten sei die „Grundlage der machtgleichen Aussprache über den Preis und die Bedingungen der Arbeit“ (Böhm 1933: 32).
Eine spezielle Form des Kartellvorwurfs liegt in der Behauptung, die T. erzeuge ein Insider-Outsider-Problem. Die Insider des Arbeitsmarktes, also diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, profitierten davon, dass die Gewerkschaften durch ihre Koalitionsmacht Tariflöhne durchsetzen könnten, die über den markträumenden Gleichgewichtslöhnen lägen. Das Nachsehen hätten die Outsider, die Arbeitslosen. Allerdings ist es auf vielen Märkten schwierig, den Gleichgewichtspreis zu bestimmen. Unabhängig davon ist mit Blick auf den Arbeitsmarkt auch das anomale Angebotsverhalten zu berücksichtigen, also der Umstand, dass bei sinkenden Löhnen das Arbeitsangebot steigt. Es stellt sich deshalb die Frage, mit welchen ordnungspolitischen Mitteln ein Lohnverfall zu verhindern ist. In diese Richtung wirken das Arbeitsrecht insgesamt und insb. auch die T., weil Tariflöhne ebenso wie gesetzliche Mindestlöhne einen Unterbietungswettbewerb zwischen Arbeitnehmern verhindern. Außerdem unterstellt die Insider-Outsider-Behauptung, dass die Gewerkschaften einseitig die Interessen ihrer arbeitsplatzbesitzenden Mitglieder verträten und die Belange der Arbeitslosen außer Acht ließen. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Gewerkschaftsmitglieder selbst der potenziellen Gefahr des Arbeitsplatzverlustes ausgesetzt sind, erscheint diese Unterstellung allerdings wirklichkeitsfremd. Auch die Tarifpraxis belegt, dass Beschäftigungssicherung ein wesentliches Ziel gewerkschaftlicher Tarifpolitik ist.
Neben der Schutzfunktion für Arbeitnehmer erfüllt die T. noch weitere Funktionen, die zumindest teilweise auch im Interesse der Arbeitgeberseite liegen. So gibt es eine Ordnungsfunktion, indem Flächentarifverträge eine Typisierung der Arbeitsverträge und eine Standardisierung von Löhnen und Arbeitszeiten bewirken. Das senkt nicht nur die Transaktionskosten beim Abschluss der individuellen Arbeitsverträge, sondern sorgt auch für eine weitgehende Vereinheitlichung der Arbeitskosten in ganzen Branchen. Das schützt einerseits die Arbeitnehmer vor einem Unterbietungswettbewerb bei den Löhnen, aber auch die Unternehmen vor unfairem Verhalten von Wettbewerbern. Dieser Schutz vor „Schmutzkonkurrenz“ war historisch ein wesentlicher Beweggrund für Unternehmer, sich auf Tarifverträge einzulassen. Zudem bieten Tarifverträge während ihrer Laufzeit Planungssicherheit für die Unternehmen hinsichtlich der Arbeitskosten.
Das Tarifvertragssystem erfüllt des Weiteren eine Verteilungsfunktion. Tarifverträge legen verschiedene Lohn- und Gehaltsgruppen fest und bestimmen so die Einkommensverteilung innerhalb der Belegschaft. Gesamtgesellschaftlich bewirkt die T. eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Sozialprodukt. Diese Leistungen stehen im engen Zusammenhang mit der Friedensfunktion, die sich nicht nur auf die Friedenspflicht während der Laufzeit der Tarifverträge bezieht, sondern auch darauf, dass ein intaktes Tarifsystem die beste Gewähr dafür bietet, dass Konflikte zwischen den Tarifparteien in geordneten, moderaten Bahnen entschieden werden. Historisch betrachtet ist „die rechtliche Institutionalisierung des Tarifkonflikts […] zur Grundlage einer reformistischen Politik geworden, die eine sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts herbeigeführt hat“ (Habermas 1981, Bd. 2: 510).
3. Wandlungsprozesse
Die stetigen Veränderungsprozesse in der Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft bedingen es, dass die T. einem fortwährenden institutionellen Anpassungsdruck und Gestaltwandel unterliegt. So führt eine durch die Globalisierung und den wirtschaftlichen Aufstieg von Ländern wie China gesteigerte Wettbewerbsdynamik dazu, dass für Unternehmen in Hochlohnländern der Kostendruck steigt. Weil in diesem Umfeld auch betriebliche Standortverlagerungen in Länder mit geringeren Lohn- und Arbeitskosten zum Tableau unternehmerischer Optionen gehören, verkleinern sich die Handlungsspielräume der Gewerkschaften signifikant. Gegenüber den traditionellen Zielen gewerkschaftlicher Tarifpolitik – neben Lohnerhöhungen v. a. Arbeitszeitverkürzungen – hat durch diese Entwicklung das Ziel der Beschäftigungssicherung noch an Bedeutung gewonnen. Hier liegt auch der wesentliche Grund für eine zunehmende Dezentralisierung bzw. Verbetrieblichung der Tarifpolitik. Die seit den 2000er Jahren üblich gewordene Vereinbarung von Tarifkorridoren (z. B. variable Wochenarbeitszeiten) und Öffnungsklauseln soll die Möglichkeit eröffnen, der spezifischen Marktsituation von Betrieben besser Rechnung zu tragen. Dadurch bekommen die Betriebsparteien zunehmende Verantwortung in dem ursprünglich allein den Tarifparteien vorbehaltenen Bereich der Regelung von Löhnen, Arbeitszeiten und sonstigen tariflichen Arbeitsbedingungen.
Auch der wirtschaftliche Strukturwandel mit dem Rückgang industrieller Strukturen und dem Anwachsen des Dienstleistungsbereichs betrifft die T. Die Industriearbeiter sind traditionell gewerkschaftsnah. Im Dienstleistungssektor mit seinen meist kleinbetrieblichen Strukturen ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad hingegen deutlich geringer, und viele Unternehmen in diesem Bereich gehören keinem Arbeitgeberverband an. Das führt dazu, dass die T. in manchen Branchen ihre Funktionen, insb. die Schutzfunktion für die Arbeitnehmer, nicht mehr ausreichend erfüllen kann. Um in solchen Fällen gegen die strukturelle Überlegenheit der Arbeitgeberseite angemessene Lohn- und Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer sicherzustellen, werden andere arbeitspolitische Instrumente eingesetzt.
Ein solches Instrument ist die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, für die allerdings in Deutschland – anders als etwa in Frankreich – vergleichsweise hohe Hürden bestehen. Auch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland 2015 stellte eine arbeitspolitische Reaktion auf die zunehmenden Lücken in der Tariflandschaft dar. Sowohl an dem Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung als auch an jenem zur turnusmäßigen Festlegung der Mindestlohnhöhe sind die Tarifpartner beteiligt. Das ist aus ordnungspolitischer Sicht deshalb unerlässlich, weil ein Ziel solcher arbeitspolitischen Maßnahmen immer auch die Restabilisierung der T. sein sollte und ein schleichender Übergang zu einem System staatlicher Lohnsetzung unbedingt zu vermeiden ist.
Es steht zu erwarten, dass die zunehmende Digitalisierung der Wirtschafts- und Arbeitswelt das System der T. vor weitere Herausforderungen stellen wird. Sollten neue Arbeitsformen wie etwa das Crowdworking sich ausbreiten, so wird sich die Frage stellen, inwieweit auch die in diesem Bereich Beschäftigten in den Genuss tarifvertraglicher und sonstiger arbeitsrechtlicher Schutzstandards gelangen können.
Literatur
W. Müller-Jentsch: Tarifautonomie. Über die Ordnung des Arbeitsmarktes durch Tarifverträge, 2018 • W. Franz: Arbeitsmarktökonomik, 82013 • A. Küppers: Gerechtigkeit in der modernen Arbeitsgesellschaft und Tarifautonomie, 2008 • N. Goldschmidt: Die Tarifautonomie in der Sozialen Marktwirtschaft, 2005 • W. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 72004 • G. Kleinhenz: Tarifautonomie, Lohnpolitik und Beschäftigung, in: A. Rauscher (Hg.): Arbeitsgesellschaft im Umbruch, 2002, 45–59 • J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., 1981 • F. Böhm: Kartelle und Koalitionsfreiheit, 1933.
Empfohlene Zitierweise
A. Küppers: Tarifautonomie, I. Wirtschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Tarifautonomie (abgerufen: 21.11.2024)
II. Rechtlich
Abschnitt drucken1. Historische Entwicklung und heutige Gewährleistung
a) Die T., verstanden als das Recht der Koalitionen, eigenverantwortlich die Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen – insb. durch Tarifverträge – zu gestalten, nahm ihren Ausgang in der prekären Situation der Arbeitnehmerschaft im 19. Jh. Gleichsam im Wege der Selbsthilfe kam es zum Abschluss erster Tarifverträge (Buchdruckertarif von 1873). Die normative Anerkennung dieser Entwicklungen vollzog sich erst später, nämlich kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Gestalt der TVVO (1918). Die verfassungsrechtliche Verankerung der T. erfolgte bald darauf durch Art. 165 WRV. Nach der Zerschlagung der T. im Nationalsozialismus bedurfte es einer Rückbesinnung auf das zuvor Erreichte. Schon 1949 trat das TVG als bis heute geltende rechtliche Grundlage des Tarifvertragssystems in Kraft.
b) Die verfassungsrechtliche Verbürgung der Koalitionsfreiheit und mit ihr der T. findet sich seit Inkrafttreten des GG in Art. 9 Abs. 3 GG. Man entnimmt dieser Bestimmung nicht nur ein Individualgrundrecht, sondern zugleich das kollektive Recht der Koalitionen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weitgehend autonom zu regeln. Der Tarifgedanke ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmerschaft beim Abschluss von individuellen Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. (BVerfG 11.7.2017–1 BvR 1571/15 – u. a. NJW 2017, 2523 Rn. 146). Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet damit eine „Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens, bei der der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung weit zurückgenommen und die Bestimmung über die regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrags grundsätzlich den Koalitionen überlassen hat“ (BVerfG 24.5.1977–2 BvL 11/74 – NJW 1977, 2255, 2256). Dahinter steht die Verfassungserwartung, auf diese Weise die Gemeinschaft sozial zu befrieden und einen Interessenausgleich durch die unmittelbar Betroffenen zu befördern. Die T. gewährleistet mithin eine Regelungsprärogative der Koalitionen, nicht jedoch ein Regelungsmonopol. Auch der Staat trägt weiterhin eine Verantwortung für das Gemeinwohl, die er unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (Verhältnismäßigkeit) unter möglichster Schonung der Regelungskompetenz der Koalitionen wahrzunehmen hat.
c) Die T. ist indes nicht nur durch das GG gewährleistet. Entsprechende Verbürgungen finden sich auch in Art. 11 EMRK und Art. 28 EuGRC.
2. Inhalt und Reichweite
a) Die sachliche Reichweite der T. ergibt sich aus Art. 9 Abs. 3 GG. Im Vordergrund steht das den Koalitionen eingeräumte Recht, in einem ihnen vom Staat freigelassenen Raum das Arbeitsleben durch den Abschluss von Tarifverträgen mit dem sozialen Gegenspieler zu ordnen. Insofern handelt es sich zuvorderst um ein Freiheitsrecht. Um es ausüben zu können, bedarf es der Bereitstellung eines funktionsfähigen Tarifvertragssystems, das die Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien schützt und ihnen die rechtliche Anerkennung vermittelt. Dieser Aufgabe ist der Gesetzgeber mit dem Erlass des TVG nachgekommen. Dieses überantwortet den Tarifvertragsparteien ein weites Feld regelungsfähiger Arbeitsbedingungen (vgl. § 1 TVG). Den Rechtsnormen des Tarifvertrages kommt nach § 4 Abs. 1 TVG eine unmittelbare und zwingende Wirkung zu. § 77 Abs. 3 BetrVG sichert zudem die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien gegenüber konkurrierenden Betriebsvereinbarungen ab.
b) In personeller Hinsicht knüpft Art. 9 Abs. 3 GG an die Koalitionseigenschaft an. Davon zu unterscheiden ist die sogenannte Tariffähigkeit. Diese kommt nach § 1 Abs. 1 TVG nicht nur Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern, sondern auch dem einzelnen Arbeitgeber zu. Neben diese Erweiterung des Kreises der tariffähigen Parteien treten nach ständiger Rechtsprechung des BAG weitere einschränkende Voraussetzungen für die Tariffähigkeit von Gewerkschaften. Insb. wird hier eine hinreichende soziale Mächtigkeit und eine gewisse Leistungsfähigkeit der Organisation verlangt (BAG 28.3.2006–1 ABR 58/04 – NZA 2006, 1112). Das BVerfG sieht hierin eine verfassungsrechtlich gebotene Begrenzung der T. (BVerfG 20.10.1981–1 BvR 404/78 – NJW 1982, 815). Eine andere Frage geht dahin, wie weit die den Tarifvertragsparteien überantwortete Rechtssetzungskompetenz in personeller Hinsicht reicht. Als Ausprägung der kollektiven Betätigungsfreiheit der Koalitionen ist die Normsetzungskompetenz grundsätzlich auf die jeweils eigenen Mitglieder beschränkt. Nur ihnen gegenüber sind die Koalitionen legitimiert (Grundsatz der mitgliedschaftlichen Legitimation). Die Erstreckung der Normwirkung auf nicht oder anders Organisierte kraft staatlich-demokratischer Anordnung (z. B. Allgemeinverbindlicherklärung) ist stets ein bes. rechtfertigungsbedürftiger Akt.
Die Verfassungsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG gilt auch im kirchlichen Bereich. Auch kirchliche Einrichtungen oder entsprechende Arbeitgeberverbände können daher mit einer Gewerkschaft Tarifverträge abschließen, in denen Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen mit normativer Wirkung geregelt werden. Im Bereich der Diakonie wird davon bisweilen auch Gebrauch gemacht. Im Übrigen haben sich die beiden christlichen Kirchen für den sogenannten Dritten Weg entschieden. Im Rahmen dieses alternativen Wegs werden – orientiert an dem Leitgedanken der Dienstgemeinschaft – die Arbeitsbedingungen durch Kommissionen vereinbart, die paritätisch von Vertretern der kirchlichen Einrichtungen und der Mitarbeiter besetzt sind. Im Streitfall kommt es – unter Ausschluss des Arbeitskampfes – zu einem Schlichtungsverfahren. Dieses kirchliche Regelungsmodell darf nach Ansicht des BAG (20.11.2012–1 AZR 179/11 – NZA 2013, 448) die Koalitionsfreiheit und das Konzept der T. nur insoweit verdrängen, als es für die Wahrung ihres Leitbildes von der Dienstgemeinschaft erforderlich ist und das angestrebte Ziel eines fairen, sachgerechten und verbindlichen Interessenausgleichs tatsächlich und in kohärenter Weise erreicht (Kirchliches Arbeitsrecht).
3. Grenzen
Eine Begrenzung der T. gibt bereits Art. 9 Abs. 3 GG vor. In gegenständlicher Hinsicht erstreckt sich die T. auf die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, nicht hingegen auf über diesen Wirkungskreis hinausgreifende Regelungen. Insb. muss die Individualsphäre der Arbeitnehmer kollektivfrei bleiben. Die Grenzen der T. werden im Übrigen nicht durch einen einheitlichen oder homogenen rechtlichen Gesichtspunkt erschöpft, sondern durch mehrere Aspekte vorgezeichnet und geprägt. Allgemein lässt sich sagen, dass tarifvertragliche Regelungen stets im Einklang mit höherrangigem Recht stehen müssen. Dazu gehören Normen des vorrangigen EU-Rechts (Europarecht), etwa das Gebot der Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen (Art. 157 AEUV), aber auch das Verfassungsrecht. Die Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte ist heute nahezu unbestritten, wenngleich über Herleitung und Reichweite der Grundrechtsbindung noch kein Konsens erzielt werden konnte. Sieht man im Abschluss von Tarifverträgen einen Akt kollektiv ausgeübter Privatautonomie, spricht viel für eine lediglich mittelbare, im Schutzgebotsgedanken verankerte Drittwirkung. Auch das einfache Gesetzesrecht setzt den Tarifvertragsparteien inhaltliche Grenzen. So darf das gesetzliche Arbeitnehmerschutzrecht (Kündigungsrecht, Arbeitszeitrecht, Mindestlohn, Antidiskriminierungsrecht etc.) in Tarifverträgen grundsätzlich nicht zum Nachteil der Arbeitnehmer unterschritten werden. Begrenzte Ausnahmen statuiert der Gesetzgeber mitunter selbst, indem er eine gesetzliche Regelung für tarifdispositiv erklärt. Sehr umstritten ist, ob die Tarifvertragsparteien bei der Normsetzung an das Gemeinwohl gebunden sind. Eine rechtlich verpflichtende Vorgabe wäre letztlich eine fragwürdige Einschränkung der T., so dass wohl eher von einer politischen als einer rechtlichen Natur dieses Gebots auszugehen ist.
Die verfassungsrechtliche Garantie der T. gebietet eine Beschränkung der inhaltlichen Kontrolle von Tarifverträgen auf die Übereinstimmung mit den oben genannten höherrangigen Rechtsquellen. Eine Zweckmäßigkeitskontrolle verbietet sich ebenso wie eine engmaschige AGB-rechtliche Angemessenheitskontrolle (vgl. § 310 Abs. 1 S. 1 BGB). Sowohl für die Entscheidungsfindung als auch für das Verhandlungsergebnis als solches gilt das Verbot der Tarifzensur.
4. Ausgestaltung, Einschränkungen und Eingriffe
Art. 9 Abs. 3 GG statuiert eine staatliche Verpflichtung zur Bereitstellung eines funktionsfähigen Tarifvertragssystems. Dieses bedarf der gesetzlichen Ausgestaltung. Das BVerfG räumt dem Gesetzgeber bei Ausgestaltung und Fortentwicklung des Tarifvertragssystems einen erheblichen Gestaltungsspielraum ein. Insb. umfasst die Gewährleistung der T. nicht die bes. Ausprägung, die das Tarifvertragssystem in dem zur Zeit des Inkrafttretens des GG geltenden TVG erhalten hat. Den Kern der Ausgestaltungsgesetzgebung stellt das TVG dar. Dieses enthält durchaus auch einschränkende Regelungen, etwa im Hinblick auf die materiellen Anforderungen an die Tariffähigkeit.
Während es bei der Ausgestaltung um Organisation und Zuständigkeit für eine Eigenregelung durch die Tarifvertragsparteien geht und dabei einem Verfassungsauftrag entsprochen wird, können Legislativakte auch Eingriffsqualität erlangen. Die Abgrenzung zur (einschränkenden) Ausgestaltung ist schwierig. Ein Eingriff liegt nahe, wenn der Gesetzgeber den Geltungsanspruch einer tarifautonomen Regelung relativiert oder außer Kraft setzt. So hat das BVerfG eine gesetzliche Regelung zur Befristung von Arbeitsverhältnissen im Hochschulbereich als Eingriff in die T. qualifiziert (BVerfG 24.04.1996–1 BvR 712/86 – NZA 1996, 1157). Eine Beeinträchtigung mit der Wirkung eines Eingriffs sah das BVerfG zuletzt auch in der Anordnung einer Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall nach § 4a Abs. 2 S. 2 TVG (BVerfG 11.7.2017–1 BvR 1571/15 – u. a. NZA 2017, 915). Ein Eingriff in die T. unterliegt höheren Rechtfertigungsanforderungen als eine bloße Einschränkung im Rahmen des Ausgestaltungsauftrags. Bei einem Eingriff bedarf es einer Rechtfertigung durch ein Rechtsgut von Verfassungsrang und einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung, wobei es v. a. auf die Sachnähe der Koalitionen zum Regelungsgegenstand ankommt.
Literatur
H. Wiedemann: Tarifvertragsgesetz, 82019 • M. Löwisch/V. Rieble: Tarifvertragsgesetz, 22017 • W. Däubler: Tarifvertragsgesetz, 42016 • A. Junker: Die Gewährleistung der Tarifautonomie im europäischen Recht, in: ZfA 46/2 (2015), 267–286 • K. Bepler: Stärkung der Tarifautonomie – Welche Maßnahmen empfehlen sich?, in: NZA 31/16 (2014), 891–894 • T. Lobinger: Stärkung oder Verstaatlichung der Tarifautonomie?, in: JZ 69/17 (2014), 810–821 • R. Waltermann, Entwicklungslinie der Tarifautonomie, in: RdA 67/2 (2014), 86–93 • M. Jacobs u. a.: Tarifvertragsrecht, 22013 • R. Rebhahn: Die Zukunft der Kollektivautonomie in Europa – Tarifautonomie im Rechtsvergleich, in: EuZA 3/1 (2010), 62–87 • F. Maschmann: Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, 2007 • F. Bayreuther: Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005 • E. Picker: Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 2000 • R. Waltermann: Zu den Grundlagen der Tarifautonomie, in: ZfA 31/1 (2000), 53–86 • F. Gamillscheg: Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, 1997 • H. Konzen: Die Tarifautonomie zwischen Akzeptanz und Kritik, in: NZA 12/19 (1995), 913–920 • F. J. Säcker/H. Oetker: Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, 1992 • K. Biedenkopf: Grenzen der Tarifautonomie, 1964.
Empfohlene Zitierweise
M. Stoffels: Tarifautonomie, II. Rechtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Tarifautonomie (abgerufen: 21.11.2024)