Staatslehre
S. oder Staatswissenschaft war seit dem Aufkommen des Begriffs „Staat“ in der frühen Neuzeit zunächst eine andere Bezeichnung für praktische Philosophie oder Staatsphilosophie, so etwa in Samuel Freiherr von Pufendorfs 1691 erschienener „Einleitung zur Sitten- und Stats-Lehre“, dann aber auch ein Sammelbegriff für die Kameralistik im Absolutismus. Johann Gottlieb Fichte schrieb 1820 eine „Staatslehre“, während Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ im selben Jahr mit dem Untertitel „Naturrecht und Staatswissenschaften im Grundrisse“ erschienen. Nach der Durchsetzung des sogenannten staatsrechtlichen Positivismus seit der Mitte des 19. Jh. einerseits, der methodischen Verselbständigung von Nationalökonomie (Klassische Nationalökonomie), Soziologie und Geschichtswissenschaft anderseits entstand dann in Deutschland um 1900 die Disziplin der „Allgemeinen S.“, die zu einer Verknüpfung staatsrechtlicher, historischer, soziologischer und philosophischer Forschung über die dynamische Veränderung von Staatlichkeit in dieser Zeit wurde. Herausragende Bedeutung unter den Vertretern der Allgemeinen S. hat Georg Jellinek erlangt, weil er mit der neukantianischen Zweiseitenlehre als letzter ein integrierendes theoretisches Modell für den inneren Zusammenhang der normativen und der empirischen Seite des Phänomens Staat anzubieten hatte. Daran fehlt es seither. Carl Schmitt, der die politische Moderne mit dem Ende der Monopolisierung des Politischen durch den Staat identifizierte, schrieb darum 1928 eine „Verfassungslehre“ und keine S. Mit ganz anderen theoretischen Mitteln betrieb auch die „Allgemeine Staatslehre“ Hans Kelsens (1925) die Kritik an einem dem Staatsrecht vorausliegenden Staatsbegriff. In der BRD wurden weite Teile der von der S. üblicherweise behandelten Themen (Staatsformen, Staatsaufgaben, Herrschaftssoziologie) rasch und erfolgreich von der Politikwissenschaft reklamiert. Als theoretisch innovatives Projekt sticht die gleichsam negative, weil um die fehlende Staatlichkeit der Bundesrepublik kreisende S. Ernst Forsthoffs (1971) heraus. Als Fach in den juristischen Curricula hat sich die Allgemeine S. bis heute vielerorts behauptet, auch wenn sie neuerdings zugunsten anderer Grundlagenfächer zurückgedrängt wird. Die seit den 1990er Jahren im Zeichen der Forderung nach mehr Interdisziplinarität betriebene Neugründung von Zeitschriften („Staatswissenschaften und Staatspraxis“, 1990–1998) sowie Instituten und Fakultäten (Berlin, Erfurt) hat die theoretische Anknüpfung an die Tradition der deutschen S. bewusst vermieden.
Literatur
C. Möllers: Staat als Argument, 22011 • G. F. Schuppert: Staatswissenschaft, 2003 • J. Kersten: Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000 • C. Schönberger: Der „Staat“ der Allgemeinen Staatslehre, in: O. Beaud/E. V. Heyen (Hg.): Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft?, 1999, 111–137 • M. Stolleis: Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992 • E. Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft, 1971 • C. Schmitt: Verfassungslehre, 1928 • H. Kelsen: Allgemeine Staatslehre, 1925 • G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 31914 • J. G. Fichte: Die Staatslehre, 1820 • G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1820 • S. von Pufendorf: Einleitung zur Sitten- und Stats-Lehre, 1691.
Empfohlene Zitierweise
F. Meinel: Staatslehre, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staatslehre (abgerufen: 21.11.2024)