Strafe

Das Rechtsinstitut der S., das hier – in vorläufiger Arbeitsdefinition – als ein Übel, das als Reaktion auf ein Übel zugefügt wird zu definieren ist, kann Gegenstand verschiedener Betrachtungsweisen sein. Eine rechtshistorische Betrachtung zeichnet den Werdegang der S. nach, d. h. Vorformen, Entstehung und Abwandlungen bis hin zu ihrer heutigen Gestalt. Eine rechtspositivistische Perspektive beschreibt die Regelung der S. im positiven Recht. Eine rechtsethische Betrachtungsweise fragt nach ihrer Rechtfertigung (eine Diskussion, die unter dem Stichwort der Straftheorien geführt wird). Mit dieser Betrachtungsweise eng verflochten ist die rechtsontologische Frage nach dem Begriff der S. – die Verfeinerung der eingangs vorgeschlagenen Arbeitsdefinition.

1. Zur Rechtsgeschichte der Strafe

Rechtshistorisch ist das, was wir als S. bezeichnen, nur eine Momentaufnahme einer längeren Entwicklung, die verschiedene Phasen durchlief. Die traditionellen Darstellungen zur Strafrechtsgeschichte pflegen bei der Privatrache zu beginnen, also bei der vom Verletzten selbst oder durch dessen Verwandte („Sippe“) durchzusetzenden reaktiven Übelzufügung, die sich in Form der Blutrache bzw. Fehde manifestierte. Allmählich wurde dieses System abgelöst durch das sogenannte Kompositionensystem, das sich in einer Geldzahlung an das Opfer oder dessen Verwandte äußerte und sich deshalb vom Schadensersatz kaum unterschied. Allmählich kam es zu einer „Neutralisierung des Opfers“ (Hassemer 1990: 71) im Wege einer Verstaatlichung der Übelzufügung. Voraussetzung dieser Entwicklung war die Entstehung von Staaten bzw. staatsähnlichen Gebilden, d. h. Organisationsformen gesellschaftlichen Zusammenlebens, die das Gewaltmonopol über ein Territorium ausüben und einen Legitimitätsanspruch erheben. Mit dieser Verstaatlichung erhielt die S. einen vom Schadensersatz deutlich zu unterscheidenden Aspekt; im Vordergrund stand nicht mehr eine Leistung an den Geschädigten, sondern eine Leistung an den Staat oder der Verlust eines Rechts seitens des Täters, etwa des Rechts auf Leben, Leib oder Ehre, des Status als Rechtssubjekt (sogenannte Friedlosigkeit).

2. Die Strafe im positiven Recht

a) Aus der Perspektive des heutigen positiven Rechts (Rechtspositivismus) bedeutet die S. die vorrangige Rechtsfolge, die für die Begehung von sogenannten Straftaten (§ 12 StGB) vorgesehen ist. Die konkreten Erscheinungsformen der S. werden aufgelistet im Ersten Titel des Dritten Abschnitts des Allgemeinen Teils des deutschen StGB. Die erste von ihnen ist die Freiheits-S., die als zeitige oder lebenslängliche verhängt werden kann (§ 38 I StGB). Daneben tritt die Geld-S. (§ 40 ff. StGB), die im Fall der Uneinbringlichkeit in eine Freiheits-S. umgewandelt werden kann (sogenannte Ersatzfreiheits-S., § 43 StGB). Als sogenannte Neben-S. gilt das Fahrverbot (§ 44 StGB). Die S. ist nicht die einzige Rechtsfolge, die die Begehung von Straftaten auslöst; das Gesetz sieht noch sogenannte Maßregeln der Besserung und Sicherung vor, wozu die Sicherungsverwahrung, die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis gehören (§§ 66 ff., 68 ff., 69 ff.). Ihr distinktives Zeichen ist, dass sie keine Schuld, sondern eine Gefährlichkeit des Täters voraussetzen (das ist bei der S. anders) und damit keine vergangenheitsbezogene Reaktion auf ein Übel sind, also genauer betrachtet keine Sanktion verkörpern. Man spricht von einem zweispurigen System (Strafgesetzbuch).

b) Für alle als S. bezeichnete Sanktionen ist die Schuld des Täters unübersteigbare Schranke. Das folgt aus dem Schuldprinzip, dem nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG als Ausfluss der Menschenwürde Verfassungsrang zukommt (zuletzt BVerfGE 126,267 [413]; 140, 317 [341, 343]). Nur natürliche Personen können sich strafbar machen. S. zu verhängen ist Teil der „rechtsprechenden Gewalt“ i. S. v. Art. 92 GG und deshalb den Richtern anvertraut. S.n unterstehen zudem dem strengen Unbestimmtheits-, Rückwirkungs- und Analogieverbot des Art. 103 II GG; „streng“ ist diese Regelung, insofern sie, anders als etwa das allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot aus Art. 20 III GG, keiner Abwägung mit gegenläufigen Belangen (insb. einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege) zugänglich ist.

c) Zuwiderhandlungen geringeren Unrechtsgehalts weist die Rechtsordnung nicht dem Strafrecht, sondern dem Ordnungswidrigkeitenrecht (Ordnungswidrigkeiten) zu, dessen Grundstruktur vom Ordnungswidrigkeitengesetz v. 1968 (BGBl. I, 481) normiert ist. Die zentrale Sanktion des Ordnungswidrigkeitenrechts ist die Geldbuße, die sich von der Geld-S. vor allem dadurch unterscheidet, dass sie nicht durch das Maß der Schuld begrenzt ist, sondern gewinnabschöpfenden Charakter hat (§ 17 IV OWiG), dass sie gegen juristische Personen verhängt werden kann (§ 30 OWiG), dass eine exekutivistische Verhängung durch Verwaltungsakt, nämlich den Bußgeldbescheid möglich ist (§ 65 I OWiG) und insb. dass sie sich nicht in eine Ersatzfreiheits-S. umwandeln lässt (anders als die Geld-S., § 43 StGB).

3. Rechtfertigung der Strafe

Die rechtsphilosophische bzw. rechtsethische Reflexion über die S. ist in erster Linie die Reflexion über ihre Existenzberechtigung. Denn die S. ist als Übel rechtfertigungsbedürftig. Ein Übel aber, für das man keinen guten Grund angeben kann, ist abzuschaffen (dafür in der Tat die sogenannten Abolitionisten). Man unterscheidet traditionell die vergangenheitsorientierten sogenannten absoluten Theorien, die die S. als Selbstzweck betrachten, von den zukunftsorientierten sogenannten relativen Theorien, die die S. als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke ansehen.

a) Die wichtigste absolute Theorie ist die Vergeltungstheorie, die bei präziser Definition S. als Gebot der Gerechtigkeit versteht. Ungestrafte Schuld ist eine zu beseitigende Ungerechtigkeit. Man verbindet die Vergeltungstheorie insb. mit den großen Philosophen des deutschen Idealismus Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Heute sind es in Deutschland in erster Linie neoidealistisch orientierte Autoren, wie v. a. Michael Köhler, die als Vertreter einer Vergeltungstheorie hervorstechen.

b) Der vorrangige von den relativen Straftheorien verfolgte Zweck, zu dessen Erreichung die S. nur ein Mittel ist, ist die Prävention weiterer Straftaten. Entweder soll die Allgemeinheit von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten werden (Generalprävention) oder der zu Bestrafende selbst (Spezialprävention). Generalprävention erfolgt (negativ) durch Abschreckung oder (positiv) durch Normbekräftigung, Spezialprävention (negativ) durch Unschädlichmachung oder (positiv) durch Resozialisierung. In der modernen Diskussion scheint die Idee der positiven Generalprävention als Normbekräftigung zur herrschenden Ansicht zu avancieren; prominente Vertreter sind Winfried Hassemer und Günther Jakobs.

c) Nicht selten versucht man die starre Kluft zwischen absoluter und relativer Betrachtungsweise zu überwinden. In der Rechtsprechung überwiegt eine additive bzw. eklektizistische Vereinigungstheorie, die bei allen der genannten Gesichtspunkte Anleihen nimmt. Claus Roxin, Bernd Schünemann und Luís Greco vertreten dualistische Straftheorien, nach denen die S. durch die relative Zwecksetzung der Prävention begründet wird, durch die absolute Schranke der Schuld aber begrenzt wird. Tatjana Hörnle bemüht sich ergänzend um eine opferbezogene expressivistische Betrachtungsweise, die in der S. die formelle Bestätigung, dass dem Opfer Unrecht geschehen ist, erkennt. Michael Pawlik erblickt in der S. die Erfüllung einer Bürgerpflicht des Rechtsbrechers, zum Fortbestehen eines Zustands von Rechtlichkeit und Freiheit beizutragen.

4. Begriff der Strafe

Auch rechtsphilosophisch, aber eher rechtsontologisch als rechtsethisch ist die relativ wenig erforschte (obgleich logisch vorrangige) Frage nach dem Begriff der S. Gibt es qualitative Unterschiede zwischen dem, was wir als S. bezeichnen, und anderen Rechtsfolgen? Wenn ja, worin liegen sie?

a) Sowohl Vertreter relativer Straftheorien als auch rechtspositivistisch orientierte Autoren neigen dazu, die bes. Qualität der S. zu leugnen. Erstere, weil sie die S. als bloßes Mittel ansehen, letztere, weil sie im Willen des Gesetzgebers das einzig unbestreitbare Unterscheidungskriterium zwischen S. und Nicht-S. erblicken. Konkret heißt das, dass der Gesetzgeber nach einer Tötung jemanden lebenslänglich einsperren dürfte, ohne dies als S. bezeichnen zu müssen – ohne also sich vor dem Schuldprinzip rechtfertigen zu müssen, ohne dass es des Urteils eines Richters bedürfte (Art. 92 GG), sondern nur einer nachträglichen richterlichen Bestätigung (Art. 104 II 2 GG: „unverzüglich“). Mit anderen Worten: diese Autoren geraten in Schwierigkeiten, die ganze Summe der o. 2. b) für S.n vorgesehenen besonderen Sicherungen zu erklären (und treten nicht selten für ihre Relativierung ein).

b) Für Vertreter absoluter Straftheorien liegt die gegenteilige Antwort nahe. Auch derjenige, der die Frage nach dem Begriff der S. als logisch vorrangig betrachtet, und sich erst im Anschluss der Rechtfertigungsfrage zuwendet, wird nur schwer etwas anderes behaupten können. Damit entsteht zugleich die Frage, worin das der Strafe Eigentümliche zu erkennen ist. Die traditionelle Antwort, die sich zumindest bis auf Hugo Grotius zurückverfolgen lässt, erkennt in der S. ein körperlich bzw. sinnlich spürbares Übel. Insb. B. Schünemann spitzt diese Sichtweise zur These zu, die S. sei eine einen „Overkill“ (Schünemann 2016: 656) verkörpernde Sanktion, die in aller Regel das Maß der Vergeltung übersteigert. Die heute zunehmend vertretene Auffassung, die auch in der Rechtsprechung des BVerfG im Vordergrund steht (BVerfGE 123,267 [408]; 128,326 [376]), lenkt den Blick auf die kommunikative Dimension des Strafens: S. ist in erster Linie ein Unwerturteil, Ausdruck von sozialethischer Missbilligung. Einige Autoren schlagen auch hier Kombinationen vor; L. Greco möchte präzisierend das Übel der S. als Beschränkung von Rechten bestimmen, die den Betroffenen schlicht als Menschen zustehen (insb.: Leib, Leben, Freiheit, also „angeborene“ Rechte; nicht: Vermögen oder Ämter, also „erworbene“ Rechte), und die kommunikative Dimension schlicht als (vergangenheitsbezogene) Reaktion auf ein Fehlverhalten ansehen. Nach diesem Ansatz darf der Gesetzgeber, der eine Freiheitsentziehung als Reaktion anordnet, niemals auf die Verwendung des Etiketts S. verzichten.