Rechtspositivismus

1. Begriff und Spielarten

Für den R. ist die Gesatztheit (positivus = gesetzt, gesatzt) und nicht die Übereinstimmung mit inhaltlichen Werten das ausschlaggebende Kriterium von Recht. Um als geltendes Recht anerkannt werden zu können, muss eine Norm in einem bestimmten institutionellen Arrangement von Menschen erzeugt worden sein (Positivierungsnachweis, pedigree test).

Die Gesatztheit kann als notwendige und hinreichende Bedingung lediglich auf die Geltung bezogen sein (Geltungs-R.) oder aber weitergehend auf die Rechtfertigung und den Rechtsgehorsam (Rechtfertigungs- und Rechtsgehorsams-R., auch Legalismus) erstreckt werden. Über den Geltungs-R. hinaus geht auch die Vorstellung, dass sich Rechtsanwendung im Zur-Sprache-Bringen des geltenden Rechts erschöpft (Anwendungs- oder Gesetzes-R.). In einem stärker genealogisch denn axiologisch geprägten Verwandtschaftsverhältnis steht der R. zu zwei nicht-juridischen Positivismen, nämlich dem wissenschaftlichen Positivismus (Auguste Comte, John Stuart Mill, Ernst Mach) und dem logischen Positivismus des Wiener Kreises (auch logischer Empirismus; Rudolf Carnap, Moritz Schlick). Die schwer zu durchschauende Vielfalt von (Rechts-)Positivismus-Varianten ist ein Grund für häufig auftretende Verwechslungen, Missverständnisse und Fehlzuschreibungen.

2. Naturrecht und (Geltungs-)Rechtspositivismus

Der R. hat sich im Kontrast zur Naturrechtslehre (Naturrecht) gebildet; als solche ist er eine der beiden für modernes Rechtsdenken charakteristischen juridischen Weltanschauungen. Dabei stand und steht der Geltungs-R. im Vordergrund. Charakteristisch für diesen ist die Unterscheidung von Geltung („Legalität“, Zugehörigkeit zu einer Rechtsordnung) von Rechtfertigung(sfähigkeit) („Legitimität“ oder auch Moralität). Die – rechtsimmanente – Geltung einer Rechtsnorm ist nicht bedingt durch ihre – rechtstranszendente – Rechtfertigung. Kennzeichnend für den R. sind das Beharren auf der Unterscheidung von Recht und Moral sowie die Betonung des Gegensatzes von lex lata (geltendes Recht) und lex ferenda (rechtspolitisch angestrebtes, noch nicht geltendes Recht).

Die beiden wichtigsten Varianten des Geltungs-R. sind der soziologische (faktizistische) und der normativistische R.: Während ersterer soziale Fakten zum Geltungsgrund erhebt, sind diese für letzteren mit Rücksicht auf die wechselseitige Unableitbarkeit von Sein und Sollen lediglich eine notwendige Bedingung, aber nicht der Grund der Geltung. Die beiden bedeutendsten Theorien des R. – jene von Hans Kelsen und Herbert Lionel Adolphus Hart – sind (unterschiedlich reine) Spielarten eines normativistischen, ideologiekritisch unterlegten Geltungs-R. Sie entstammen zwei rechtskulturell distinkten Diskursen um den R., die erst in jüngster Zeit stärkere Berührungspunkte aufweisen, indes nicht ohne weiteres ineinander übersetzt werden können.

3. Der kontinentaleuropäische Rechtspositivismus

Im Gefolge der Historischen Rechtsschule und einhergehend mit der Herausbildung der Rechtsdogmatik (Dogmatik) wurde der Gesetzes-R. als antimetaphysisches rechtsphilosophisches Konzept begründet (Karl Magnus Bergbohm). Dessen machttheoretisches Fundament wie dessen tendenzielle Ineinssetzung von Recht und Gesetz (alles Recht ist im Gesetz beschlossen) wurden nicht nur von der Freirechtsschule angegriffen, sondern erfuhren ihre nachhaltigste Widerlegung durch die Reine Rechtslehre (H. Kelsen, Adolf Julius Merkl, Alfred Verdroß), die einen „konsequenten R.“ anstrebt. Diese vermittelt insofern zwischen der herkömmlichen Naturrechtslehre und dem traditionellen R., als sie Normativismus und Positivismus zu einer neuen Einheit fügt: Sie beharrt einerseits darauf, dass nur Normen anderen Normen Geltung vermitteln können; andererseits aber dienen die geltungsvermittelnden Normen als Deutungsschema realen menschlichen Verhaltens – in aller Regel Willensakte –, setzen diese(s) also notwendigerweise voraus. In der Koinzidenz von Normativismus und Positivismus ist die Eigengesetzlichkeit des Rechts verbürgt. Geltung ist danach eine relative, da innersystemische Eigenschaft: die Zugehörigkeit zur betreffenden Rechtsordnung. Als solche bestimmt allein das positive Recht Form und Inhalt von positivem Recht. Eine rechtsordnungstranszendierende Normletztbegründung, wie sie naturrechtliche Ansätze propagieren, kann es danach nicht geben. Die Geltung der die Rechtsordnung begründenden (historisch ersten) Verfassung kann ihrerseits nicht festgestellt, sondern nur mehr angenommen bzw. vorausgesetzt werden (Lehre von der Grundnorm).

Im Weimarer Richtungs- und Methodenstreit sah sich H. Kelsens R. einer stark antipositivistischen, überwiegend auch republikkritisch ausgerichteten Grundstimmung (Heinrich Triepel, Erich Kaufmann, Rudolf Smend, Carl Schmitt, Hermann Heller) gegenüber. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes stand die unmittelbare Nachkriegszeit im Zeichen einer Renaissance des Naturrechts- und des Wertdenkens. Der R. hatte weder in Rechtspraxis noch -wissenschaft eine Stimme – H. Kelsen befand sich im US-amerikanischen Exil und seine Wiener Schule war zerschlagen. Der R. figurierte nur mehr als Paria des rechtsphilosophischen und -praktischen Diskurses. Gustav Radbruch formulierte die für die junge Republik schuldbefreiend wirkende „Positivismuslegende“, der zufolge der R. den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht habe gegen den Nationalsozialismus. Auch das BVerfG machte anfangs Front gegen einen „Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus“ (BVerfGE 3,225 [232] – 1953).

Erst seit den späten 1960er Jahren finden auch wieder rechtspositivistische Ansätze Gehör. Ab den 1980er Jahren schließlich internationalisiert sich der rechtswissenschaftliche Diskurs und machen sich die Einflüsse des angloamerikanischen Diskurses (S. 4) bemerkbar. Freilich gibt es den als solchen deklarierten Naturrechtslehre-R.-Streit nicht mehr; die Auseinandersetzung mit dem R. wird vielmehr in rechtsdogmatischer und -methodischer Gestalt ausgetragen, etwa beim Für und Wider der Prinzipientheorie (Ronald Dworkin, Robert Alexy). Gleichwohl können nach wie vor Sollbruchstellen zwischen Positivisten und Nichtpositivisten ausgemacht werden; als Lackmus-Test mag die – exklusiv von Nichtpositivisten befürwortete – Figur des Verfassungswandels dienen, wonach sich der Gehalt der Verfassung ändern könne, ohne dass das verfassungsgesetzlich vorgeschriebene Änderungsverfahren durchlaufen wird.

4. Der anglo-amerikanische Rechtspositivismus

Zurückgehend auf Jeremy Bentham und John Austin bricht sich der Legal Positivism in einer durch den Legal Realism und die Sociological Jurisprudence geprägten Rechtskultur erst in den späten 1950ern Bahn. Mit H. L. A. Hart wird der in der Tradition der analytischen Philosophie stehende Legal Positivism zu einer der führenden rechtsphilosophischen Strömungen in der Anglosphäre. H. L. A. Hart entwickelt sein „Concept of Law“ ausgehend von einer Kritik der Imperativentheorie J. Austins, der zufolge das Rechtssystem aus sanktionsbewehrten Befehlen des Souveräns bestehe: Diese, von H. L. A. Hart „primary rules“ (Hart 2012: 91) genannten Ge-, Verbote, Erlaubnisse müssten, um ein Rechtssystem zu konstituieren, um „secondary rules“ (Hart 2012: 94), also Regeln über Regeln, ergänzt werden, die Auskunft gäben über die Zugehörigkeit einer „primary rule“ zum System („rule of recognition“ [Hart 2012: 94]), über deren Erzeugung, Änderung und Abschaffung („rules of change“ [Hart 2012: 95]) sowie über deren Anwendung im Einzelfall („rules of adjudication“ [Hart 2012: 97]). Im Kontrast zu H. Kelsen sieht H. L. A. Hart die Existenz (nicht: Geltung) des Rechtssystems als solches als „matter of fact“ (Hart 2012: 110), als eine bestehende soziale Praxis an.

Neben naturrechtlicher Kritik (Lon Fuller, John Finnis) ist es insb. R. Dworkin, der den Legal Positivism H. L. A. Harts attackiert: Dem Ungenügen des Regel-zentrierten Positivismus hält R. Dworkin sein Modell von Prinzipien entgegen, deren Geltung nicht einem positivistischen pedigree test à la „rule of recognition“ unterworfen sei. Auch innerhalb der rechtspositivistischen Strömung herrscht keineswegs Einigkeit, wie die Frage, ob und ggf. wie das Recht sich moralische Wertungen zu eigen machen kann, belegt: Inclusive Legal Positivism (H. L. A. Hart, Jules Coleman) und Exclusive Legal Positivism (Joseph Raz, Leslie Green) stehen sich hier gegenüber. So entspinnt sich in der Anglosphäre eine bis heute ebenso lebhafte wie kontroverse, ebenso variantenreiche wie unabgeschlossene Diskussion zwischen Vertretern und Gegnern eines Legal Positivism (sowie auch unter den Vertretern desselben).

5. Heutige Bedeutung

Die Auseinandersetzung zwischen Naturrechtlern (oder weitergehend: Nonpositivisten) und Rechtspositivisten scheint sich verändert, ja abgeschwächt zu haben. Das dürfte einerseits der Erkenntnis geschuldet sein, dass der (Geltungs-)R. lediglich Aussagen über die Geltung von Normen innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung trifft, hingegen zu allen weiteren Grundfragen des Rechts (wie dessen Legitimität, Moralität und Wirksamkeit, dem Rechtsgehorsam und so fort) absichtsvoll keinerlei Festlegungen enthält. Andererseits senken die zunehmende Positivierung, die Transformation zentraler moralischer Werte in höchstrangiges positives Recht (Grundrechte und Menschenrechte, Verfassungsstaat) und die rechtsdogmatische Behandlung von Rechtsfragen den Druck, im Streit zwischen Anhängern eines R. und eines Non-R. Stellung zu beziehen.

Unbeschadet dessen behalten die beiden Kernanliegen des (Geltungs-)R. ihre Aktualität: dass nämlich dem Anspruch säkular-ausdifferenzierter Rechtsordnungen, die Erzeugung und Änderung von Recht selbst und abschließend zu regeln, Rechnung getragen wird; und dass die Unterscheidung von lex lata und lex ferenda das zentrale Medium der Rechtskritik ist, so dass über gutes und schlechtes Recht unabhängig von der Geltungsfrage politisch und moralisch gestritten werden kann.