Triage

1. Begriff und Geschichte

Das Verfahren der T. (französisch: le triage, deutsch: Auswahl, Sortierung, Sichtung) wurde für Entscheidungssituationen in der Kriegs- und Katastrophenmedizin entwickelt, in denen bei einem Massenanfall von Patienten die verfügbaren personellen und/oder materiellen medizinischen Behandlungskapazitäten quantitativ und/oder qualitativ nicht für alle Behandlungsbedürftigen ausreichen. In solch einer Situation ist zu entscheiden, bei welchen Patienten eine medizinische Behandlung begonnen bzw. unterlassen oder nur eingeschränkt durchgeführt wird. Die konsequente Einführung des Konzepts der T. verbindet sich insb. mit dem Generalchirurgen von Napoleon I., Dominique Jean Larrey. Ansätze zur Einstufung verschiedener Schweregrade von Verwundungen auf dem Schlachtfeld finden sich bereits ab dem 16. Jh. Mit der T. wurden zwei hauptsächliche Zielsetzungen verfolgt: Erstens die Einführung eines Ordnungsprinzips in der unübersichtlichen Situation des Massenanfalls von Verletzten und damit eine zielgerichtete Strukturierung der medizinischen Bemühungen; zweitens die größtmögliche Reduzierung der unmittelbaren Verluste an Menschenleben und des Ausmaßes von Verletzungsfolgen, womit sich nicht zuletzt das Ziel verband, die militärische Einsatzfähigkeit verletzter Soldaten zu erhalten bzw. baldmöglichst wiederherzustellen. Regeln für die T. wurden in der Folge insb. auch für zivile Katastrophenszenarien entwickelt.

2. Ziele und Struktur

Zielparameter bei heutigen T.-Entscheidungen ist das Überleben möglichst vieler Betroffener aufgrund einer medizinischen Behandlung in einer Situation nicht ausreichender Ressourcen. Unter Überleben wird dabei i. d. R. ein mittel- bis langfristiges Überleben des Patienten ohne eine fortgesetzte Anwendung solcher medizinischer Maßnahmen, die aktuell zur Lebenserhaltung notwendig sind, verstanden. Die meisten der heutigen Konzepte der T. sehen eine Einteilung der Betroffenen in vier Gruppen (Kategorien I–IV) mit abnehmender Priorität für eine medizinische Behandlung vor:

I Vorrang erfahren schwer betroffene Patienten, die ohne Behandlung sicher oder sehr wahrscheinlich nicht überleben, bei Behandlung jedoch eine gute Prognose haben und daher von der Behandlung bes. profitieren.

II In zweiter Linie werden Patienten behandelt, deren Chance, die Erkrankung bzw. Verletzung zu überleben, auch ohne Behandlung nicht gering ist, durch eine Behandlung aber deutlich gesteigert wird.

III Nicht behandelt werden leicht betroffene Patienten mit guter Prognose auch ohne Behandlung.

IV Nicht bzw. ausschließlich palliativ behandelt werden – jedenfalls bis zur Entspannung der Lage – diejenigen Schwerbetroffenen, für deren Überleben auch bei Behandlung eine schlechte Prognose besteht.

Eine eigene fünfte Kategorie (Ex) erfasst bereits vor Ort verstorbene Patienten. Im realen Katastrophenfall werden Patienten einer der genannten Kategorien (I–IV, Ex) zugeordnet und mit einer Farbcodierung (im deutschsprachigen Raum: rot, gelb, grün, blau, schwarz) oder mit Ziffern oder Abkürzungen gekennzeichnet. T.-Entscheidungen können dabei in verschiedenen Stadien einer Katastrophensituation zur Anwendung kommen, so z. B. bei der initialen Bergungssichtung (Pre-T., Vorsichtung), die einer schnellen Übersicht über die Reihenfolge der aus dem unmittelbaren Katastrophenbereich zu bergenden Patienten dient, bei der darauf folgenden Behandlungssichtung, die eine differenziertere Untersuchung und Versorgung z. B. auf einem Verbandplatz ermöglicht, und bei der Transportsichtung, die der Festlegung einer medizinisch begründeten Reihenfolge des Transports von Verletzten in weiterversorgende Institutionen, z. B. Krankenhäuser oder Lazarette, dient. Neben einer Vielzahl von Schemata und Kriterien zur Durchführung einer T. bei erwachsenen Patienten wurden auch T.-Modelle eigens für Kinder entwickelt.

3. Entscheidungssituation und Anwendungsumfang

T.-Entscheidungen verfolgen einen maximal effizienten Einsatz nicht ausreichender Ressourcen mit dem Ziel, die Überlebenswahrscheinlichkeit möglichst vieler Behandlungsbedürftiger zu bewirken. In Bezug auf beide Parameter sind bei solchen Entscheidungen mehrere Aspekte zu berücksichtigen. So stellt die Entscheidung nicht auf die absolute Überlebenswahrscheinlichkeit ab, sondern auf den durch die medizinische Behandlung zu erzielenden Wahrscheinlichkeitszuwachs; andernfalls müssten leichter Erkrankte begünstigt werden, die bereits ohne Behandlung eine hinreichende Überlebensprognose haben, mit einer medizinischen Behandlung jedoch sicher überleben (Kategorie II). Ferner stellt die T.-Einteilung eines Patienten in eine Behandlungsgruppe eine bloß relative Festlegung dar, die immer im Vergleich mit der Entwicklung des Gesundheitszustands der anderen vorhandenen Hilfsbedürftigen und zudem unter Berücksichtigung neu eintreffender und ggf. vorrangig zu behandelnder Patienten getroffen wird und daher ständiger Anpassung bedarf. Zudem unterliegt der Behandlungsbedarf der bereits kategorisierten Patienten einer Dynamik, indem sich ihr klinischer Zustand zum Besseren oder Schlechteren ändern kann, was ihre kontinuierliche Beobachtung und ggf. ihre Zuordnung zu einer anderen Dringlichkeitsgruppe erfordert. Aber auch die Ressourcenlage kann sich ändern, etwa indem weitere Hilfspersonen und Materialien eintreffen oder eingeplante Ressourcen ausfallen. Die Rangordnungsbildung bei der T. ist daher ein in hohem Maße dynamischer und kontinuierlicher Prozess. Die Situation eines akuten Behandlungsbedarfs konkurrierender Patienten bei nicht ausreichenden Ressourcen erfordert überdies, die vorhandenen Mittel zeitgleich auf die Patienten vor Ort zu verteilen (aufbrauchende Allokation); antizipierte und aktuell nicht anwesende Patienten mit besserer Überlebenschance sind bei einer T.-Entscheidung nicht zu berücksichtigen, und die ohnehin nicht ausreichenden Behandlungskapazitäten können für solche Patienten, auch wenn sie zu erwarten sind, nicht freigehalten werden.

Entscheidungssituationen unter den Bedingungen eingeschränkter Ressourcen werden auch unter den Begriffen der Priorisierung bzw. Posteriorisierung von Patienten(gruppen), der Allokation verfügbarer Ressourcen oder der Rationierung behandelt. Entscheidungsregeln nach dem Modus der T. sind insb. einer zeitlich und örtlich begrenzten Katastrophen- oder Notfallsituation vorbehalten. Mit der Überleitung der Patienten aus dem Katastrophenbereich in die geregelten Strukturen und ausreichenden Ressourcen des Gesundheitssystems ist die Notwendigkeit einer T.-Entscheidung i. d. R. nicht mehr gegeben. Gleichwohl wird unter dem Begriff der Rationierung (nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Rationalisierung, der das Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven zur Effizienz- und Produktivitätssteigerung im Rahmen der Leistungserbringung des Gesundheitssystems bezeichnet) diskutiert, inwieweit den Patienten in bestimmten Bereichen des Gesundheitssystems, z. B. der Organtransplantation oder der Intensivmedizin, medizinisch notwendige Leistungen aus Mangel an Ressourcen (zunehmend) vorenthalten und nach Regeln zugeteilt werden müssen, die denen der T. ähneln oder entsprechen. Jenseits von Katastrophenszenarien kann die Situation eines relativen oder absoluten Mangels auch im Bereich der regulären Gesundheitsversorgung auf der Makroebene durch politische oder ökonomische Entscheidungen über die vorzuhaltenden Ressourcen hervorgerufen werden und auf der Mikroebene der konkreten Arzt-Patient-Beziehung zu T.-Entscheidungen zwingen. Auch in den Notaufnahmen meist in urbanen Ballungsräumen gelegener Krankenhäuser kann ein hohes Aufkommen von Patienten mit unterschiedlich schweren Erkrankungen dazu nötigen, die Behandlungsfolge nach Regeln zu entschieden, die denen der T. ähneln. Überdies kann ein Gesundheitssystem mit im Normalfall ausreichenden Ressourcen durch plötzliche und stark erhöhte Anforderungen über seine Leistungsgrenzen gelangen, wie die Pandemie mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 im Jahr 2020 in vielen Ländern mit hochentwickelten Gesundheitssystemen gezeigt hat; auch in solchen Situationen können Entscheidungen nach den Regeln der T. erforderlich werden.

4. Ethische Aspekte

Nicht eindeutig geklärt ist die ethische Begründung der T. und ihrer Entscheidungsregeln (Entscheidung). Letztere zielen auf die Rettung einer maximalen Anzahl von Leben bzw. auf die Minimierung von Verlusten durch einen möglichst effizienten Einsatz von Ressourcen. Nach Ansicht zahlreicher Autoren stellen sie in erster Linie auf übergeordnete Kollektiv- und Gemeinwohlinteressen ab und folgen damit einer utilitaristischen Logik (Utilitarismus). Vor diesem Hintergrund wird kritisiert, dass die T. im Widerspruch zur Verpflichtung auf das Wohl des individuellen Patienten und zur Verpflichtung zum Nicht-Schaden steht, die in der hippokratischen Medizin den Orientierungsmaßstab für ärztliches Handeln darstellen; ebenfalls wird kritisch beurteilt, dass die T. die Autonomie des Patienten als ein weiteres zentrales Prinzip der modernen Medizinethik nicht hinreichend berücksichtigt. Die Kritik nimmt aber auch das utilitaristische Begründungsmodell selbst in den Blick, insofern bei der T. nicht klar ist, welche Kriterien für die Entscheidung i. S. d. Gemeinwohlinteresses herangezogen werden sollen: etwa die Anzahl der geretteten Leben unabhängig von ihrer weiteren Lebensaussicht, die Gesamtzahl möglicher geretteter Lebensjahre, die Anzahl von qualitätsadjustierten Lebensjahren (quality-adjusted life years, QALYs), die Bedeutung des behandelten Individuums für das Gemeinwohl etc.

Eine andere Auffassung macht geltend, dass die T. in erster Linie kein utilitaristisch begründetes Entscheidungsmodell, sondern vielmehr ein Gerechtigkeitsmodell (Gerechtigkeit) darstellt, das weniger auf den effizienten Einsatz von beschränkten Ressourcen als primär auf ihren gerechten Einsatz abstellt, auch wenn beide Kriterien unter den gegebenen Voraussetzungen zu gleichen Entscheidungen führen. So nimmt die T. im Unterschied zu anderen Auswahlverfahren, wie z. B. dem Losverfahren oder einer Priorisierung von Patienten nach willkürverdächtigen Kriterien, auch die Kriterien des individuellen Patientenwohls und des Nicht-Schadens für alle in Frage stehende Patienten in den Blick. Überdies versucht die T., im Unterschied etwa zur Behandlung nach der zeitlichen Reihenfolge des Eintreffens (Prinzip des first come – first served, auch als „Windhund-Prinzip“ bezeichnet), unter Berücksichtigung der Kriterien des Patientenwohls und des Nicht-Schadens einen möglichst schonenden Ausgleich zu schaffen. I. V. m. einer statusindifferenten Gleichbehandlung aller Patienten sowie einem fairen und jeweils dem individuellen Patienten angepassten Einsatz von Ressourcen orientiert sich die T. damit an Gerechtigkeitsgrundsätzen, deren Berücksichtigung einer stringenten Anwendung utilitaristischer Regeln nicht entspricht.

Die Frage nach der ethischen Begründung hat auch Bedeutung für die Reichweite der Anwendung der T.-Regeln: Die überindividuelle Perspektive der T.-Entscheidung am Katastrophenort erfordert eine ständige Reevaluierung jedes Patienten im Hinblick auf seine Rangfolge im Kollektiv aller Behandlungsbedürftigen. Übertragen auf eine nachfolgende Behandlungssituation unter nicht ausreichenden Ressourcen im Krankenhaus könnte eine ständige Reevaluierung dort Behandelter unter dem Kriterium des Gemeinwohlinteresses eine wiederholte Änderung ihrer Kategorisierung und damit ihrer Therapie erfordern, was bereits aus praktischen Gründen kaum durchführbar und im Hinblick auf einen effizienten Einsatz von Ressourcen wenig sinnvoll erscheint. Insb. unter dem Eindruck der hohen Anzahl von intensivmedizinisch behandlungsbedürftigen Patienten mit schweren Formen der Sars-CoV-2-Infektionserkrankung Covid-19 im Jahr 2020 wird gleichwohl die Frage kontrovers diskutiert, ob sich bei Patienten, bei denen nach einer initialen T.-Entscheidung eine intensivmedizinische Behandlung begonnen wurde (ex ante-Entscheidung), eine klinische Entscheidung nach dem Modus der T. auch auf die Frage nach der Fortführung einer bereits begonnenen intensivmedizinischen Behandlung beziehen kann und die Behandlung abgebrochen werden darf, wenn konkurrierende andere Patienten mit besserer Prognose vorhanden sind (ex post-Entscheidung). Eine solche Entscheidung ist mit der Garantenstellung des behandelnden Arztes, der ausschließlich an die Kriterien des Patientenwillens bzw. des Patientenwohls sowie der medizinischen Indikation zur Fortführung der Behandlung bei dem betroffenen Patienten gebunden ist, offensichtlich nicht vereinbar. Weitere Kontroversen beziehen sich darauf, inwieweit personenbezogene Eigenschaften wie z. B. das Lebensalter oder bestehende körperliche oder mentale Behinderungen über die Feststellung der individuellen medizinischen Indikation hinaus als eigenständige Beurteilungskriterien in den Entscheidungsprozess über den Beginn oder die Fortführung einer Behandlung eingehen dürfen bzw. müssen.