Zeitgeschichte

1. Das Wort und die Sache

Als Sonderbezeichnung für die jüngste Vergangenheit wurde das in der Barockdichtung entstandene Wort Z. erst im 19. Jh. gebräuchlich. Dabei bewahrte es die doppelte Bedeutung von Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie) als vergangenes Geschehen (res gestae) und dessen Darstellung (historia). Anders als die Entsprechungen im französischen und englischen Sprachraum (histoire contemporaine, contemporary history) fehlt im deutschen Kompositum Z. der ausdrückliche Bezug auf die Zeitgenossenschaft. Die Sache selbst ist so alt wie die Geschichtsschreibung: Herodot war großenteils, Thukydides gänzlich „Zeithistoriker“. Bis ins 18. Jh. hinein blieb historia sui temporis die überwiegende Form des Geschichtsdenkens, sofern die Weltgeschichte nicht im Spiegel christlicher Heilsgeschichte betrachtet wurde. Als sich im Historismus des 19. Jh. die moderne Geschichtswissenschaft herausbildete, rückte Z. jedoch an den Rand der Fachhistorie. Die jüngste Vergangenheit galt wegen fehlender Distanz und archivalischer Sperrfristen nicht als vollauf wissenschaftswürdig. Der Terminus Z. verbreitete sich daher stärker im Journalismus und in der Tagesschriftstellerei. Die Verankerung der Z. als historische Teildisziplin datiert in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern erst auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

2. Teildisziplin der Geschichtswissenschaft

Wichtige Impulse gab das 1949/50 als gemeinsame Einrichtung des Bundes und der Länder gegründete Münchner Institut für Zeitgeschichte (bis 1952 unter dem Namen Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Zeit), das mit den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ eine auch international beachtete Fachzeitschrift herausgab. Als Antwort auf antisemitische Vorfälle (Antisemitismus) um 1960 richteten westdeutsche Universitäten vermehrt Lehrstühle für Z. ein. Der starke Ausbau des Hochschulwesens förderte eine Institutionalisierungswelle, mit der sich die zeitgeschichtliche Forschung fest im Kanon der historischen Wissenschaften etablierte. Nach der deutschen Einigung entstand mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (1996) ein weiteres außeruniversitäres Großinstitut. Wie in der Bundesrepublik lässt sich auch in anderen Ländern ein Aufstieg der Z. zur „Hauptachse der Nationalhistoriographie“ (Raphael 2003: 248) beobachten. In der zunehmend vernetzten Welt verstärkte sich jedoch auch der Trend zur Internationalisierung der Fachkommunikation und der Forschungspraxis. Dafür bietet die Holocaust-Forschung ein hervorstechendes Beispiel.

Gegen den Einwand mangelnder Distanz machte die Teildisziplin Z. geltend, dass weniger der zeitliche Abstand als vielmehr die wissenschaftliche Methodik (u. a. Quellenkritik, Überprüfbarkeit, Standpunktreflexion, Forschung als Prozess mit wechselseitiger Kontrolle) hinreichende Distanz schafft. Das Hemmnis staatlicher Aktensperrfristen verlor nicht nur dadurch an Bedeutung, dass bereits kurz nach dem Ende des NS-Regimes (wie später auch nach dem Ende der DDR) große Massen staatlicher Akten zugänglich wurden. Vielmehr ist der reiche Zustrom anderer, je nach Fragestellung sogar wichtigerer Quellenarten (Massenmedien, sozialstatistische Daten, Meinungsumfragen usw.) prinzipiell hervorzuheben. Zu den Vorzügen der Teildisziplin Z. gehört somit auch die Möglichkeit des Brückenschlags zu den gegenwartsnah arbeitenden Sozialwissenschaften. Deren Ergebnisse und Theorien können wichtige Hilfsmittel sein; die Konstitutionsbedingungen und zeitgenössischen Wirkungen ihrer Wissensproduktion werden jedoch auch ihrerseits zum Gegenstand zeithistorischer Analyse. Zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft spielt die „Juristische Zeitgeschichte“ (Stolleis 1993) eine vermittelnde Rolle.

Zu den Besonderheiten der Teildisziplin Z. gehört Zeitgenossenschaft im doppelten Sinne: Zum einen verfügt sie mit der Möglichkeit der Zeitzeugenbefragung über eine Quellengattung eigener Art, gegen deren naive Nutzung sich die Methodologie der Oral History herausgebildet hat. Zum anderen haben Zeithistoriker die untersuchte Zeit in Teilen auch selbst erlebt. Dies kann Befangenheit bewirken, aber auch von heuristischem Vorteil sein. Eine weitere Besonderheit liegt in der „Unabgeschlossenheit“ der gegenwartsnahen Vergangenheit, deren historischer Ort noch nicht im Licht langfristiger Folgen erkannt werden kann. Daher wird dafür plädiert, von der weiter gefassten Z. eine „Gegenwartsgeschichte“ abzuheben, in der zeitgenössische Handlungsnormen und historische Deutungsmaßstäbe noch nicht auseinandergetreten sind, so dass die Einordnung „beständig zäsurensuchender Reorganisation unterliegt“ (Sabrow 2012: 16).

3. Zeitliche Grenzen

An die Erfahrung historischer Umbrüche gebunden, weist die Abgrenzung von Z. nationale Unterschiede auf. In den USA wird die jüngste Vergangenheit zumeist ohne kategoriale Scheidung der Modern History zugerechnet, was auf die Dominanz von Kontinuitätsvorstellungen verweist. In Großbritannien überwiegt ein pragmatisches Verständnis, wonach Contemporary History sich auf das 20. Jh. bezieht oder auf „post-1945“ begrenzt ist; in früheren Sichtweisen hatten 1832 (Parlamentsreform) oder 1890 (u. a. „neuer Imperialismus“) den Beginn markiert. Im kollektiven Gedächtnis Frankreichs ist die Revolution von 1789 so präsent, dass Histoire contemporaine an dieser Epochenzäsur (Epoche) festhält. Für die jüngste Vergangenheit bürgerte sich seit den 1970er Jahren der Anschlussbegriff Histoire du temps présent ein. In der DDR bezog sich der Terminus Z. auf die Zeit nach 1945, war im Rahmen der marxistisch-leninistischen Geschichtsdoktrin jedoch wenig gebräuchlich.

Akademische Debatten um eine Profilierung der Z. wurden in der BRD bes. nachdrücklich geführt. Denn hier musste die zeitgeschichtliche Forschung ihren Status mühsamer gegen die Erben des Historismus erkämpfen als andernorts. Zudem beanspruchte und erlangte sie in der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch eine hervorgehobene Rolle bei der Fundierung der zweiten deutschen Demokratie. Einflussreich war ein programmatischer Aufsatz von Hans Rothfels, der die Z. als „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ (Rothfels 1953: 2) definierte. Dabei fixierte er die Zeit von 1917/18 (russische Revolution und weltpolitischer Eintritt der USA) bis 1945 als die Epoche der seinerzeit Mitlebenden und rückte im Hinblick auf die deutsche Geschichte die Weimarer Republik und das NS-Regime in den Mittelpunkt. Diese Zeitspanne bildete lange den Kernbereich der westdeutschen Z.s-Forschung – mit der Nebenfolge, dass sich kaum ein Zeithistoriker an der großen „Fischer-Kontroverse“ (ab 1961) über Deutschlands Schuldanteil am Ersten Weltkrieg beteiligte. In den 1980er Jahren setzte die auf Archivquellen gestützte (zuvor großenteils von Politikwissenschaftlern betriebene) Erforschung der Zeit nach 1945 ein, so dass sich die Unterscheidung zwischen „älterer“ und „neuerer“ Z. einbürgerte. Es folgte der Vorschlag, mit der weltpolitischen Epochenzäsur 1989/90 die „neueste“ Z. beginnen zu lassen.

In einer Gegenbewegung zu solchen Einteilungen wie auch zum Voranschreiten der Forschungspraxis in Dekaden (die 50er, 60er, 70er Jahre usw.) treten neuerdings übergreifende Sichtweisen nach vorn, die das 20. Jh. als Ganzes in den Blick nehmen. Damit geht die Tendenz einher, die Zeit der Z. je nach dem Gegenstand, um den es geht, variabel auszudehnen, auch sehr langfristig, wenn es sich um Basisprozesse handelt, z. B. die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Raphael 1996). Dabei leitet der Grundsatz, „dass es Problembezüge sind, welche die Zeithorizonte bestimmen und nicht umgekehrt“ (Doering-Manteuffel/Raphael 2016: 10). Dies erinnert an eine Erwägung von Geoffrey Barraclough, wonach „Contemporary history begins when the problems which are actual in the world today first take visible shape“ (Barraclough 1964: 12). Die methodische Herausforderung liegt dann darin, bei aller Pluralität der zeitlichen Rückbezüge das verbindend Gemeinsame einer historischen Periode zu entdecken. Insgesamt zeigt der Diskurs über den zeitlichen Rahmen der Z. ein Spannungsfeld zwischen zwei Grundpositionen, deren eine auf die fließende Grenze der Zeit der Mitlebenden abhebt, während die andere problembezogene Abgrenzungskriterien bevorzugt.

4. Schwerpunkte und neuere Perspektiven der Zeitgeschichtsforschung

Bei der Erforschung der Geschichte der Weimarer Republik und der NS-Zeit, später auch der Bonner Republik, dominierte lange der Blick auf Politik und Staat. In den späten 1970er Jahren traten sozialhistorische Ansätze (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) hinzu, in den 1980ern auch Fragen der Alltags- und Erfahrungsgeschichte, die dazu beitrugen, Zusammenhänge zwischen den Epochen vor und nach 1945 zu erkennen. Zeitweilig sehr einflussreich war die inzwischen vielfach relativierte Sonderweg-These, mit der Vertreter der „Historischen Sozialwissenschaft“ in den 1970er und 1980er Jahren auf dem Feld der Z. Fuß fassten: Von Modernisierungstheorien angelsächsischer Prägung angeregt und auf die Annahme eines westlichen Normalmodells von Modernisierung gestützt, erklärten sie den deutschen Weg vom Kaiserreich bis 1933 mit gesellschaftlicher und politischer Rückständigkeit.

Die Aufarbeitung der NS-Zeit war und ist ein Großthema der Z.s-Forschung. Lag der Akzent zunächst auf dem Scheitern der Demokratie, der NS-Machteroberung und Herrschaftsstabilisierung, so rückte später die Radikalisierungsdynamik und Vernichtungspolitik im Krieg in den Mittelpunkt. Anders als die anfangs weithin dominierende Totalitarismustheorie (Totalitarismus) betonen neuere Forschungen stärker die Bedeutung gesellschaftlicher Selbstmobilisierung mit enger Verflechtung von Herrschaft und Gesellschaft. Der 1986 entbrannte „Historikerstreit“ war ein politischer Streit um die deutsche Identität nach dem Holocaust, während die empirische Erforschung der Massenverbrechen (v. a. in den besetzten Ostgebieten) erst in den 1990er Jahren an Intensität gewann. Neben fachinternen Entwicklungen ist ein Boom von Auftragsforschungen hervorzuheben: Firmen und Banken ließen ihre NS-Vergangenheit nach 1990 im Zuge von Entschädigungsdebatten untersuchen; seit 2005 berief eine rasch wachsende Zahl von Ministerien und anderen staatlichen Institutionen Historikerkommissionen zur Erforschung ihrer Geschichte in der NS-Zeit bzw. ihres Umgangs damit nach 1945. In NS-bezogenen Straf- und Rückerstattungsverfahren spielten Zeithistoriker häufig eine Expertenrolle. Im Streit um Rückgabe- bzw. Entschädigungsforderungen der Hohenzollern, der 2019 öffentlich eskalierte, machte sich eine für die Freiheit der Wissenschaft bedenkliche Umkehr bemerkbar: Mehrere Zeithistoriker wurden nun ihrerseits juristisch belangt.

In der bundesdeutschen Geschichte überwog lange die Frage nach Phasen und Formen der Überwindung historischer Erblasten – mit Leitbegriffen wie Modernisierung, Liberalisierung und Westernisierung. Mit der Wende von 1989/90 gewann die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte ruckartig an Bedeutung, wobei das Untersuchungskonzept einer „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ (Kleßmann 2005: 31) viel Anklang fand. Neuerdings macht sich ein tiefgreifender Perspektivenwechsel bemerkbar: Es geht nicht mehr primär um die Nachgeschichte vergangener, sondern um die Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen. So führte der Blick auf Umbrüche in Wirtschaft und Gesellschaft seit den 1970er Jahren, verstärkt durch die 2008 einsetzende Wirtschafts- und Finanzkrise, zum konzeptionellen Format der „Problemerzeugungsgeschichte“. In Anbetracht der Wucht grenzüberschreitender Basisprozesse (darunter Kommunikationsrevolution, Migration, Finanzkapitalismus, neuerdings die Corona-Krise) macht sich die Forschung vermehrt transnationale, europäische und globale Perspektiven zu eigen. Die Digitalisierung wird nicht nur als Untersuchungsgegenstand, sondern auch als Herausforderung für neue methodische Zugriffe ins Auge gefasst. Obgleich die Z.s-Forschung eher zu den Nachzüglern des Cultural Turn zählte, haben kulturhistorische Betrachtungsweisen das thematische und methodische Spektrum in jüngster Zeit bes. stark ausgeweitet. Vielfältige Spezialisierungen haben freilich auch dazu geführt, dass über einen „wechselseitigen Wahrnehmungsverlust“ (Bösch/Danyel 2012: 13) auf den Arbeitsfeldern der Zeithistoriker geklagt wird.

5. Im Spannungsfeld der Erinnerungskultur

Die jüngste Vergangenheit steht mehr als andere historische Epochen in einem Spannungsfeld konkurrierender Zugriffe, die zu Deutungskonflikten führen können. Neben die Erinnerungsmilieus von „Mitlebenden“ tritt das weite Feld der öffentlichen Erinnerungskultur, das von offizieller Geschichtspolitik (z. B. im Umgang mit Gedenktagen und historischen Orten) über Museen und Gedenkstätten bis zur breitenwirksamen Vermittlung zeithistorischen Wissens in Kino, Fernsehen und anderen Medien reicht. Z. als Wissenschaft unterscheidet sich von diesen Zugangsweisen, die jeweils eigenen Regeln und Routinen folgen. Daher versteht sie sich überwiegend als fachliche Beobachterin und kritisches Korrektiv. Der Leitbegriff Public History verstärkt jedoch neuerdings die Bemühungen, akademische und öffentliche Geschichte miteinander zu verschränken.