Moral: Unterschied zwischen den Versionen

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M. Fuchs: Moral, Version 11.11.2020, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Moral}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
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M. Fuchs: Moral, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Moral}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 15. August 2021, 11:50 Uhr

„M.“ kann in verschiedener Weise verwendet werden:

a) im Sinne eines belehrenden Fazits einer Erzählung,

b) als Auszeichnung einer entschlossenen Haltung einer Gruppe von Menschen, die trotz widriger Umstände und ungünstiger Zwischenresultate ihr Ziel weiterverfolgen,

c) als Bezeichnung von gruppen- oder gemeinschaftsbezogenen Verhaltensstandards, die jeweils ein zusammenhängendes Muster bilden und in der Referenzgruppe ein hohes Maß an Verbindlichkeit genießen,

d) und als Inbegriff dessen, was in menschlichen Gemeinschaften unbedingt gesollt ist.

Alle Bedeutungen leiten sich vom lateinischen Wort mos, moris (Gewohnheit, Sitte, Brauch) her, welches Cicero auch als Übersetzung für Ethos benutzt. Die dritte und die vierte Bedeutung sind es, die in der M.-Soziologie, der M.-Psychologie und in der M.-Philosophie thematisiert werden.

1. Soziologie der Moral

Für die Klassiker der Soziologie ist M. dasjenige Muster des Verhaltens, welches Gesellschaft und Individuum integriert. Ohne M. wäre gesellschaftliches Zusammenleben nicht möglich. Bereits in seinem frühen Werk „De la division du travail social. Étude sur l’organisation des sociétées supérieures“ (1893) fragt Émile Durkheim nach der bindenden Kraft moderner Gesellschaften. Weil diese durch zunehmende Individualisierung gekennzeichnet sind, wird der soziale Konnex wichtig. É. Durkheim begreift M., sein Schlüsselkonzept für diesen Konnex, als gesellschaftliche Tatsache, die er einer soziologischen Analyse unterzieht. An verschiedenen Stellen führt er aus, dass es die M. sei, die das Individuum aus sich herausziehe und es auf die es nährende soziale Umgebung verweise. Durch diese Öffnung wird das Individuum gestärkt, es wird zur Persönlichkeit. In seinen Vorlesungen zur „Physiologie du droit et des m&olig;urs“ (1896) unterscheidet er zwischen Regeln der universellen M. und partikulären Regeln, zu denen er die häusliche oder familiäre M., die berufliche M. und die staatsbürgerliche M. rechnet.

Auch Talcott Parsons betont die integrative Rolle der M., wobei er den affektiven Charakter moralischer Einstellungen hervorhebt. An dieses affektive Moment knüpft auch Niklas Luhmann an. Er wendet es so, dass die von É. Durkheim konstatierte integrative Funktion umgekehrt wird. V. a. in seinem Spätwerk verweist er auf die Nähe der moralischen Kommunikation zu Streit und Gewalt: „Wer moralisch kommuniziert und damit bekanntgibt, unter welchen Bedingungen er andere und sich selbst achten bzw. mißachten wird, setzt seine Selbstachtung ein- und aufs Spiel“ (Luhmann 1990: 26). N. Luhmann gibt nicht nur eine soziale Phänomenanalyse, er bietet auch ein Rezept. Er schlägt vor, auf einen übergeordneten binären Code, wie ihn die M. anbiete, zu verzichten, und die Gesellschaft ganz auf ihre Systemfunktionalitäten eingegrenzt zu lassen (Systemtheorie). Eine Integration durch M. ist nicht nur gefährlich, sie ist nach N. Luhmann auch verzichtbar. Die Kommunikation werde durch diesen Verzicht versachlicht. Ungeachtet dieses Einwurfs hat die Durkheim’sche Integrationsthese bis in die jüngere Soziologie gewirkt, wie in unterschiedlicher Weise die Arbeiten von Axel Honneth und Hans Joas zeigen. Gelegentlich wird in der Soziologie anstelle des Ausdrucks M. auch der Terminus Ethos verwendet. Eine deskriptiv verstandene M.-Soziologie wird sowohl der Bemühung um Begründungen im Feld der M., dem Streben nach begründungsgeleiteten normativen Konsensen und der Überzeugung, dass in bestimmten Fragen eher ein bleibender Dissens zu erwarten ist, Rechnung tragen müssen.

2. Psychologie der Moral

Geht es der Soziologie um die Funktion der M. in oder für die Gesellschaft, so untersucht die M.-Psychologie moralische Einstellungen und Haltungen beim Einzelnen. Bes. die sog.e Kognitive Entwicklungspsychologie hat über die Fachgrenzen hinaus nachhaltig gewirkt, insb. auf die Philosophie und auf die Didaktik. Zunächst versuchte Jean Piaget in einigen empirischen Studien zu zeigen, dass sich kognitive Vermögen altersbezogen entwickeln. Das Kleinkind hat dabei zunächst einen egozentrischen Standpunkt. Sein Sprechen ist monologisch und es ist nicht in der Lage, sich in die Wahrnehmung und Perspektive des anderen zu versetzen. Diese Phase wird überwunden durch die Dezentrierung. Das Kind lernt andere als den eigenen aktuellen Blickwinkel zu verstehen und sich nach und nach in die Perspektive von anderen hineinzudenken. In „Les jugements morales chez l’enfant“ (1932) wendet J. Piaget seine Überlegungen zur kognitiven Entwicklung auf die moralische Urteilsfähigkeit an, wobei er M. generell in der Achtung vor einem Regelsystem erkennt. Er beschreibt einen Übergang von einem heteronomen Konzept der Norm zu einem autonomen Konzept; in einer Übergangsphase wird die fremde Norm von der Autorität des Normgebers gelöst. Die M. der Repetition und des Gehorsams wandelt sich von einem Gehorsam gegenüber einer Autoritätsperson zum Gehorsam gegenüber einer Regel. Dies bedeutet eine gewisse Abstraktion und Verallgemeinerung. Erst die autonome M. ist für J. Piaget eine eigentliche M. Laurence Kohlberg hat diese Abfolge beginnend mit der Dissertation von 1958 fortentwickelt und zu einem Sechs-Stufen-Schema hin differenziert. L. Kohlberg unterscheidet drei Stadien, nämlich das präkonventionelle, das konventionelle und das postkonventionelle Stadium, die jeweils in zwei Stufen gegliedert sind.

J. Piaget und L. Kohlberg sind Klassiker der kognitiven Entwicklungspsychologie. In der Philosophie dienen sie manchmal auch dazu, eine bestimmte M.-Auffassung als überlegen, weil entwicklungspsychologisch weiter, dar- und hinzustellen. Die wohl berühmteste Kritik an diesem Schema kam von Carol Gilligan, einer langjährigen Mitarbeiterin von L. Kohlberg. Der fortschreitende Abstraktionsprozess, so stellte sie fest, stellt sich bei Frauen nicht so dar, wie bei Männern. In dem Buch „In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development“ (1982), vertrat sie die These, dass die Urteilsbildung bei Frauen stärker in den sozialen Kontext eingebunden ist als bei Männern. Stellt man das Ideal einer autonomen Urteilsbildung auf, dann, so C. Gilligan, entsprechen Männer dem Ideal eher. Folgt man hingegen einer ethics of care, so zeigt sich die Überlegenheit von Frauen. Beide Ansätze sind mit methodologischen, aber auch mit feministischen (Feminismus) und gendertheoretischen (Gender) Argumenten heftig kritisiert worden.

3. Philosophie der Moral

Die moralphilosophische Reflexion umfasst die Metaethik und die (normative) Ethik. Die Metaethik fragt nach dem Status der M. oder von moralischen Sätzen, wobei man zwischen einem ontologischen, erkenntnistheoretischen und sprachphänomenologischen Zugang unterscheiden kann. Gibt es moralische Tatsachen, haben wir einen kognitiven oder emotiven Zugang zur M., ist der Austausch von Gründen im moralischen Diskurs angemessen oder das Ergebnis einer Täuschung für den Status der M.: So lauten einige der erörterten Fragen. Zudem kann man metaethisch zwischen einem universalistischen (Universalismus) und einem partikularistischen (Partikularismus) M.-Verständnis unterscheiden. Soll man sich also zwischen den eingangs genannten Begriffsverwendungen drei und vier entscheiden oder kann eine M. im Plural neben einer M. im Singular genannt werden? Einige Philosophen sehen auch neben einer universalistisch und mit absoluter Verbindlichkeit gedachten M. den weiteren Bereich der Ethik, die nicht nur danach fragt, was wir einander schulden und was Forderung der Gerechtigkeit ist, sondern die in pluraler Weise Antworten auf die Frage nach dem gelingenden Leben und dem Glück des Einzelnen und der Gemeinschaften geben kann.

Weitgehend gebräuchlich ist aber jene Unterscheidung, nach der M. die gelebte Haltung bezeichnet, also die Ausrichtung des Einzelnen, der Gruppe und der Gesellschaft am Guten und an der Vermeidung des Bösen oder moralisch Schlechten, und Ethik die methodische Reflexion auf die M. oder die Moralen. Ethik als Rekonstruktion des moralisch Richtigen oder auch als Kritik der gelebten M. und als Konstruktion des moralisch Richtigen, setzt also nicht bei null an, sondern kann sich rekonstruktiv oder kritisch auf Empirisches beziehen. Die gelebte moralische Ausrichtung verfügt dabei selbst bereits über interne Urteilsmomente, so z. B., wenn Inkonsistenzen in der moralischen Haltung als Doppelmoral kritisiert werden. Die Ethik geht aber über solche Kritikinstanzen hinaus und bemüht sich um Systematisierungen. Sie wählt unterschiedliche Stilisierung des moralisch Richtigen, indem sie Entsprechungen zu Tugenden, Idealen, Regeln, Prinzipien, Pflichten oder Werten ausweist.