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− | G. gehört als „Teil menschlicher Sozialität“ in welcher Form auch immer „zum Erfahrungsinventar vermutlich aller Menschen zu jeder Zeit“ (Gudehus/Christ 2013: VII). Völlig gewaltfreie Gesellschaften sind eher die Ausnahme. Auch wenn sie manchmal (und irrtümlich) als animalisch bezeichnet wird, ist die von Menschen individuell oder kollektiv ausgeübte und erlittene G. (hier im Sinne von <I>violentia</I>, violence als illegale G., nicht von <I>potestas</I>, <I>power</I> als legale G.) typisch menschlich. Dies gilt sowohl für (Macht-)Aktionen physischer G. als auch für Zusammenhänge | + | G. gehört als „Teil menschlicher Sozialität“ in welcher Form auch immer „zum Erfahrungsinventar vermutlich aller Menschen zu jeder Zeit“ (Gudehus/Christ 2013: VII). Völlig gewaltfreie Gesellschaften sind eher die Ausnahme. Auch wenn sie manchmal (und irrtümlich) als animalisch bezeichnet wird, ist die von Menschen individuell oder kollektiv ausgeübte und erlittene G. (hier im Sinne von <I>violentia</I>, violence als illegale G., nicht von <I>potestas</I>, <I>power</I> als legale G.) typisch menschlich. Dies gilt sowohl für (Macht-)Aktionen physischer G. als auch für Zusammenhänge sogenannter struktureller G., die Johan Galtung in den 1970er Jahren als „vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist“ (Galtung 1975: 12), definiert und weder Helden noch (zurechenbare) Täter, sondern nur Opfer kennt. Typisch menschlich sind auch die Konzepte der kulturellen G. (nach J. Galtung) und der symbolischen G. (nach Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron), die auf die Entlarvung von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensystemen zielen, die bis in „das Innerste der Körper“ (Bourdieu 2005: 73) die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) nähren und damit ideologisch faktische Machtverhältnisse verschleiern. Bei aller Verschiedenheit von engen und weiten Begriffen der G. ist ihnen doch der Bezug zum Körper als Träger „grundlegender menschlicher Bedürfnisse“ (Galtung 1975: 12) gemeinsam. Auch die weiten Begriffsbildungen sind aus der Ausgangs- und Kernbedeutung von G., die auf den Körper zielt, abgeleitet. Dies gilt letztlich auch für den Begriff der psychischen und der verbalen G., wenn etwa Verbindungen, Verschiebungen und Substituierungen – etwa die Ersetzung von körperlicher G. durch Liebesentzug oder Ausgrenzungen, Beleidigungen, Demütigungen, Erniedrigungen – thematisiert werden (z. B. Mobbing, Verletzung des Schamgefühls). |
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− | Obwohl G. so alt ist wie die Menschheit und die Grenzen von Gesellschaften, Kulturen und Religionen überschreitet, ist sie in ihren Erscheinungs- und Verteilungsweisen vielfältig und kontextgebunden, ursächlich nicht immer erklärbar, häufig nicht – weder zweckmittelrational, wertrational, traditional noch affektuell – verstehbar und auch nicht immer funktional (z. B. zum dauerhaften Macht-, Prominenz-, Prestige- und Statusgewinn). G. ist deshalb leicht dämonisierbar (und heroisierbar). Sie kann sich intentional gegen Sachen, Tiere und Mitmenschen richten, auch gegen sich selbst. G. kann individuelle oder kollektive Akteure bzw. Träger haben, je nach Kontext als legitim oder illegitim gelten, als legal oder illegal. G. kann integrativ oder desintegrativ wirken, formell – institutionalisiert – oder informell – spontan, situativ, ungeplant – in allen Daseinsbereichen in Erscheinung treten, in den Sphären der Politik, der Wirtschaft, der Religion, der Kunst, der Straße genauso wie in den Intimsphären des privaten Lebens, z. B. als häusliche G. oder als Vergewaltigung in der Ehe; auf der Mikroebene von Interaktions- und Gruppenprozessen (treten, schlagen, foltern, töten); auf der Makroebene ganzer Gesellschaften mit der Tendenz zur „Veralltäglichung von Gewalt“ (Waldmann 1997), z. B. als Blutrache, | + | Obwohl G. so alt ist wie die Menschheit und die Grenzen von Gesellschaften, Kulturen und Religionen überschreitet, ist sie in ihren Erscheinungs- und Verteilungsweisen vielfältig und kontextgebunden, ursächlich nicht immer erklärbar, häufig nicht – weder zweckmittelrational, wertrational, traditional noch affektuell – verstehbar und auch nicht immer funktional (z. B. zum dauerhaften Macht-, Prominenz-, Prestige- und Statusgewinn). G. ist deshalb leicht dämonisierbar (und heroisierbar). Sie kann sich intentional gegen Sachen, Tiere und Mitmenschen richten, auch gegen sich selbst. G. kann individuelle oder kollektive Akteure bzw. Träger haben, je nach Kontext als legitim oder illegitim gelten, als legal oder illegal. G. kann integrativ oder desintegrativ wirken, formell – institutionalisiert – oder informell – spontan, situativ, ungeplant – in allen Daseinsbereichen in Erscheinung treten, in den Sphären der Politik, der Wirtschaft, der Religion, der Kunst, der Straße genauso wie in den Intimsphären des privaten Lebens, z. B. als häusliche G. oder als Vergewaltigung in der Ehe; auf der Mikroebene von Interaktions- und Gruppenprozessen (treten, schlagen, foltern, töten); auf der Makroebene ganzer Gesellschaften mit der Tendenz zur „Veralltäglichung von Gewalt“ (Waldmann 1997), z. B. als Blutrache, [[Rassismus]], [[Antisemitismus]], Holodomor, [[Bürgerkrieg]], und zwischen Gesellschaften (heiße und kalte [[Krieg|Kriege]], auch als Cyberkriege); auf der Mesoebene von körperbezogenen Organisationen wie Kinderheimen und Pflegeheimen und auch nicht-körperbezogenen Organisationen, etwa als sogenannter „workplace violence“ (Hoffmann 2011). Gewaltnah sind „brachiale Organisationen“ (Etzioni 1978: 96 ff.), d. h. solche „Zwangsorganisationen“ (Kühl 2013), deren Kontrollmechanismen zur Verhinderung der Exit-Option im Kern durch G.-Androhung und G.-Ausübung bestimmt sind (Gefängnisse, Zuchtanstalten, Strafkolonien, Straflager, Arbeitslager, Vernichtungs- bzw. [[Konzentrationslager]]); mehr oder weniger organisierte sogenannte „Gewaltgemeinschaften“ (Speitkamp 2013), wie sie sich z. B. als Räuberbanden, Söldnergruppen, Freischärler, marodierende Haufen, Jugendgangs, Hooligans, „Kameradschaften“ oder „Terrorzellen“ konkretisieren; G.-Handlungen bzw. G.-Netzwerke, die über das Internet repräsentiert und aktiviert werden, aber auch als informationstechnologische Infrastruktur von Terrororganisationen dienen; „[[Organisierte Kriminalität|kriminelle Organisationen]]“ (Paul/Schwalb 2012), die, wie z. B. die italienische Mafia, die chinesischen Triaden, die japanische Yakuza, zur Bereitstellung illegaler Waren und (sexueller) Dienstleistungen miteinander konkurrieren und ohne staatliche Institutionen des Rechts, neben diesen oder sogar gegen sie operieren ([[Kriminalität]]). G. kann als direkte sinnliche Erfahrung, als indirektes, verbreitungsmedialisiertes bzw. digital vermitteltes Erleben, öffentlich oder verborgen sein. Zunehmend wird das Internet zum Schauplatz von fiktiven und faktischen G.-Taten. Immer wird durch G. Schmerz und Leid bewirkt, in Kauf genommen, wenn nicht intendiert: die Verwundung und Verletzung – letztlich Vernichtung – des Körpers und der Seele. |
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<h2 class ="headline-w-margin">4. Entgrenzung und Typen</h2> | <h2 class ="headline-w-margin">4. Entgrenzung und Typen</h2> | ||
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− | Die anthropologische These von der Entgrenzung der menschlichen G.-Verhältnisse redet keinesfalls einer Tendenz zur Ausweitung oder Extremisierung der G.-Praxis im heutigen Zusammenleben demokratischer Rechts- und Wohlfahrtsstaaten das Wort. So zeigt sich, dass bestimmte G.-Arten einerseits und bestimmte G.-Situationen andererseits auch unterschiedliche Begrenzungen erfahren haben. Denn der Entgrenzung des menschlichen G.-Verhältnisses steht auch „eine spezifisch humane Chance der Eingrenzung, der Einfriedung von Gewalt“ (Popitz 1986: 87), gegenüber. Jan Philipp Reemtsma unterscheidet drei Typen von G.-Akten: 1. Lozierende G., die nicht auf diesen Körper selbst gerichtet ist, sondern etwas anderes erreichen soll (z. B. Erpressung von Lösegeld). Man könnte sie – wie auch die blockierende G. (z. B. jemandem den Mund zukleben) – als Unterfall instrumenteller G. sehen, in der die Machtaktion nur ein Mittel zu einem anderen Zweck jenseits des Körpers ist. 2. Raptive G., wenn es um die Nutzung des Körpers eines anderen – gegen dessen Willen – geht (z. B. medizinische Experimente, Vergewaltigung, pädophiler Sex, wie er auch im Raum der Kirche und kirchlicher Einrichtungen skandalisiert wurde). 3. Autotelische G.: Sie hat die Verletzung, ja Zerstörung des Körpers des anderen selbst zum Ziel, berauscht sich daran und erschöpft sich darin. Bereits unsere abendländische Literatur beginne „mit der Schilderung eines Exzesses autotelischer Gewalt: Es reicht Achill nicht, Hektor zu töten, er will dessen Körper zerstören. Rom [– genauer Vespasian bzw. dann Domitian –] hat an dem öffentlichen Entzücken an Inszenierungen autotelischer Gewalt ein Gebäude errichtet […]: das Kolosseum“ (Reemtsma 2008: 14). In diesem G.-Raum (nach dem Konzept von Jörg Baberowski und Gabriele Metzler) wurde fast vier Jh. lang zerfleischt, gekämpft und gestorben. Norbert Elias hat gezeigt, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft „die Grausamkeitsentladung […] nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus[schloss]. Sie war nicht gesellschaftlich verfemt. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude“ (Elias, Bd. 1, 1977: 268). Auch die Hinrichtungsrituale der Frühen Neuzeit waren Demonstrationen autotelischer G., die | + | Die anthropologische These von der Entgrenzung der menschlichen G.-Verhältnisse redet keinesfalls einer Tendenz zur Ausweitung oder Extremisierung der G.-Praxis im heutigen Zusammenleben demokratischer Rechts- und Wohlfahrtsstaaten das Wort. So zeigt sich, dass bestimmte G.-Arten einerseits und bestimmte G.-Situationen andererseits auch unterschiedliche Begrenzungen erfahren haben. Denn der Entgrenzung des menschlichen G.-Verhältnisses steht auch „eine spezifisch humane Chance der Eingrenzung, der Einfriedung von Gewalt“ (Popitz 1986: 87), gegenüber. Jan Philipp Reemtsma unterscheidet drei Typen von G.-Akten: 1. Lozierende G., die nicht auf diesen Körper selbst gerichtet ist, sondern etwas anderes erreichen soll (z. B. Erpressung von Lösegeld). Man könnte sie – wie auch die blockierende G. (z. B. jemandem den Mund zukleben) – als Unterfall instrumenteller G. sehen, in der die Machtaktion nur ein Mittel zu einem anderen Zweck jenseits des Körpers ist. 2. Raptive G., wenn es um die Nutzung des Körpers eines anderen – gegen dessen Willen – geht (z. B. medizinische Experimente, Vergewaltigung, pädophiler Sex, wie er auch im Raum der Kirche und kirchlicher Einrichtungen skandalisiert wurde). 3. Autotelische G.: Sie hat die Verletzung, ja Zerstörung des Körpers des anderen selbst zum Ziel, berauscht sich daran und erschöpft sich darin. Bereits unsere abendländische Literatur beginne „mit der Schilderung eines Exzesses autotelischer Gewalt: Es reicht Achill nicht, Hektor zu töten, er will dessen Körper zerstören. Rom [– genauer Vespasian bzw. dann Domitian –] hat an dem öffentlichen Entzücken an Inszenierungen autotelischer Gewalt ein Gebäude errichtet […]: das Kolosseum“ (Reemtsma 2008: 14). In diesem G.-Raum (nach dem Konzept von Jörg Baberowski und Gabriele Metzler) wurde fast vier Jh. lang zerfleischt, gekämpft und gestorben. Norbert Elias hat gezeigt, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft „die Grausamkeitsentladung […] nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus[schloss]. Sie war nicht gesellschaftlich verfemt. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude“ (Elias, Bd. 1, 1977: 268). Auch die Hinrichtungsrituale der Frühen Neuzeit waren Demonstrationen autotelischer G., die zugleich beweisen sollten, dass der Souverän das kann und darf: einen Körper verbrennen, ihn rädern und ausweiden. Bis zum Ende des 18. Jh. haben wir Berichte über solche öffentlichen Hinrichtungsrituale, die Michel Foucault „Theater der Hölle“ (Foucault 1977: 61) nennt. Heute ist hierzulande autotelische G. „so erfolgreich geächtet, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen können, und wo wir nicht umhinkommen, sie dennoch zu sehen, sie nur als pathologische Monstrosität“ definieren (Reemtsma 2008: 14). Häufig werde sie in den Massenmedien auch als „sinnlose G.“ bezeichnet. Wo autotelische G. nicht mehr als Sanktion oder Demonstration von staatlicher [[Macht]] daherkommt, wird sie kriminalisiert und psychopathologisiert. Gleichwohl zeigt sie sich noch in einigen jugendlichen Milieus, denen es darum geht, das Machtgefühl über den am Boden Liegenden auszukosten und die eigene Ohnmachts-, Demütigungs- und Missachtungserfahrung, nicht zuletzt in der Familie, auszugleichen. Selbst erlebte Misshandlungen und Missachtungen des Bedürfnisses nach Anerkennung wurden in vielen Studien als gewaltförderliche Machtquellen in Erziehungskontexten identifiziert. Wie Erwachsene mit der größeren Abhängigkeit von Kindern und Jugendlichen umgehen, ist folgenreich für deren Entwicklungschancen. Als weiteres Phänomen in anomischen Lagen von Jugendlichen können vielfältige Formen von „Erlebnisgewalt“ (Ebertz 1997) genannt werden, auch Formen geselliger und digital-spielerischer G. |
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− | Auch lozierende bzw. instrumentelle wie raptive Formen von G. sind in der modernen Gesellschaft weitgehend kriminalisiert und gelten als legal allenfalls noch in der staatlichen Verbrechensbekämpfung oder in zwischenstaatlichen G.-Taten. Deren Verringerung ist – abgesehen von Ausnahmen wie der EU, die sich als Friedensmacht versteht, die aus der extremen G.-Geschichte des 20. Jh. gelernt hat – allerdings nur „schwerlich festzustellen“ (Gleichmann 2006: 319). Internationale Spannungen führen einerseits zur Ausbreitung differenzierter – asymmetrischer – Formen realisierter G.-Drohung, die in der Politikwissenschaft unter dem Stichwort „Neue Kriege“ (Münkler 2002) debattiert werden, andererseits auch zur wachsenden Angst, im eigenen Land Opfer eines Terroranschlags ( | + | Auch lozierende bzw. instrumentelle wie raptive Formen von G. sind in der modernen Gesellschaft weitgehend kriminalisiert und gelten als legal allenfalls noch in der staatlichen Verbrechensbekämpfung oder in zwischenstaatlichen G.-Taten. Deren Verringerung ist – abgesehen von Ausnahmen wie der EU, die sich als Friedensmacht versteht, die aus der extremen G.-Geschichte des 20. Jh. gelernt hat – allerdings nur „schwerlich festzustellen“ (Gleichmann 2006: 319). Internationale Spannungen führen einerseits zur Ausbreitung differenzierter – asymmetrischer – Formen realisierter G.-Drohung, die in der Politikwissenschaft unter dem Stichwort „Neue Kriege“ (Münkler 2002) debattiert werden, andererseits auch zur wachsenden Angst, im eigenen Land Opfer eines Terroranschlags ([[Terrorismus]]) zu werden. Zum Erfahrungsraum des „wohl bedeutsamste[n] zivilisatorische[n] Fortschritt[s] der Menschheitsgeschichte“ (Reemtsma 2008: 14), gehört die – freilich niemals abgeschlossene und stets prekäre – innerstaatliche Monopolisierung der physischen G. G. wird damit unter erhöhten Legitimationsdruck gestellt, ja geächtet. Sie wird – zumindest in der dominanten Kultur rechtsstaatlicher demokratischer Gesellschaften – nur noch für legitim erachtet, wo sie vor schlimmerer G. schützen soll. Dieser erhöhte Legitimationsdruck gilt auch für die Träger der „gewaltbewältigenden Gewalt“ (Popitz 1986: 91) des Staates selbst, der enge Grenzen auferlegt werden. Indem z. B. die [[Todesstrafe]] abgeschafft, die lebenslängliche Freiheitsstrafe für Kapitalverbrechen auf 15 Jahre reduziert, der G.- bzw. Waffengebrauch der [[Polizei]] selbst unter Ausnahmebedingungen gestellt und die „Wehrdienstverweigerung“ ermöglicht wurde, ist das staatliche [[Gewaltmonopol|G.-Monopol]] systematisch beschränkt worden. Mit einem deutlichen „Zug zur Milde“ (Haferkamp 1990: 12) im deutschen [[Strafrecht]] hat sich auch das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ (Weber 1972: 29) sukzessive einer selbstzivilisierenden Entwicklung unterworfen, im Effekt freilich auch die entwaffneten Bürgerinnen und Bürger gezwungen, zu lernen und die nachwachsenden Generationen zu lehren, ihre Konflikte gewaltfrei, zumindest ohne Einsatz physischer G., zu lösen. All dies erklärt die gewachsene Sensibilität für G.-Fragen, das blanke Entsetzen und die Skandalisierbarkeit, wenn irgendwelche Formen von G. ins Zusammenleben einbrechen. G.-Freiheit ist zu einem Zentralwert moderner Staatsgesellschaften geworden. |
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− | M. Ebertz: Gewalt, Version | + | M. Ebertz: Gewalt, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Gewalt}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}}) |
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Aktuelle Version vom 30. Mai 2023, 14:02 Uhr
G. gehört als „Teil menschlicher Sozialität“ in welcher Form auch immer „zum Erfahrungsinventar vermutlich aller Menschen zu jeder Zeit“ (Gudehus/Christ 2013: VII). Völlig gewaltfreie Gesellschaften sind eher die Ausnahme. Auch wenn sie manchmal (und irrtümlich) als animalisch bezeichnet wird, ist die von Menschen individuell oder kollektiv ausgeübte und erlittene G. (hier im Sinne von violentia, violence als illegale G., nicht von potestas, power als legale G.) typisch menschlich. Dies gilt sowohl für (Macht-)Aktionen physischer G. als auch für Zusammenhänge sogenannter struktureller G., die Johan Galtung in den 1970er Jahren als „vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist“ (Galtung 1975: 12), definiert und weder Helden noch (zurechenbare) Täter, sondern nur Opfer kennt. Typisch menschlich sind auch die Konzepte der kulturellen G. (nach J. Galtung) und der symbolischen G. (nach Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron), die auf die Entlarvung von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensystemen zielen, die bis in „das Innerste der Körper“ (Bourdieu 2005: 73) die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) nähren und damit ideologisch faktische Machtverhältnisse verschleiern. Bei aller Verschiedenheit von engen und weiten Begriffen der G. ist ihnen doch der Bezug zum Körper als Träger „grundlegender menschlicher Bedürfnisse“ (Galtung 1975: 12) gemeinsam. Auch die weiten Begriffsbildungen sind aus der Ausgangs- und Kernbedeutung von G., die auf den Körper zielt, abgeleitet. Dies gilt letztlich auch für den Begriff der psychischen und der verbalen G., wenn etwa Verbindungen, Verschiebungen und Substituierungen – etwa die Ersetzung von körperlicher G. durch Liebesentzug oder Ausgrenzungen, Beleidigungen, Demütigungen, Erniedrigungen – thematisiert werden (z. B. Mobbing, Verletzung des Schamgefühls).
1. Sozialwissenschaftliche Gewaltforschung
Die gegenwärtig vorherrschende sozialwissenschaftliche G.-Forschung konzentriert sich auf das Konzept der physischen G., die stets auch ihre psychische Seite hat. Dabei stellt sie anthropologisch als „grundlegendes Charakteristikum die Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses“ (Popitz 1986: 73) heraus: zum einen die Tatsache, dass der Mensch nie gewaltsam handeln muss, aber immer gewaltsam handeln kann. Dem Menschen fehle eine angeborene G.-Hemmung. Entgrenzung meint zum anderen, dass die menschliche G. nicht auf bestimmte Motive – etwa Aggression – festgelegt ist. Der Vollstrecker der „nackten Gewaltsamkeit der Zwangsmittel“ des Staates etwa ist der „rationale homo politicus“ (Weber 1947: 546 f.). G. ist motivational nicht fixiert: „Gewaltakte können nüchtern und illusionslos vollzogen werden, etwa als routinemäßige Befolgung von Befehlen […] Lockender Gewinn, lockender Ruhm oder die lockende Bekehrung von Heiden sind nicht unbedingt aggressionsbestimmte Motive“ (Popitz 1986: 74). Entgrenzung der menschlichen G. bezieht sich schließlich auch auf G.-Imaginationen und darauf, dass die Adressaten von G.-Handlungen nicht festgelegt sind: „Menschen können gegen Fremde und gegen Vertraute, gegen Mitglieder anderer und eigener Gruppen, gegen Erwachsene und gegen Kinder gewalttätig werden“ (Popitz 1986: 74). Der Mensch ist ein Wesen, das prinzipiell jeden und jede töten kann: „Homo Necans“ (Burkert 1972) – nicht nur Tiere, sondern auch Menschen konnten Göttern geopfert werden.
2. Religionsgewalt
Damit ist nicht gesagt, dass Religionen der Schlüssel zum Verständnis von zwischenmenschlicher G. sind, obwohl kaum bezweifelbar ist, „dass es eine Verbindung von Religion und Gewalthandlungen gibt“, diese aber vermutlich „immer mit wirtschaftlichen, ethnischen, politischen oder rechtlichen Konflikten einhergeht“ (Kippenberg 2013: 67). Allerdings kann auch Religion qua Religion Quelle von G. sein, zumal sie hierfür Deutungsmuster – Narrative, Drehbücher, heroische Vorbilder – zur Verfügung stellt. Das Christentum, das als gewaltsam sanktionierte jüdische Erneuerungsbewegung begann, und ein G.-Symbol (Kreuz) als Identitätsmarker pflegt, begründet zwar – prominent im Gleichnis vom Unkraut im Weizen (Mt 13,24–30) – ein „Freibleiben von zwischenmenschlicher Religionsgewalt“ (Angenendt 2016: 39), hat aber im Verlauf seiner Geschichte selbst gegen dieses Tabu mehrfach verstoßen (G.-Mission, Kreuzzüge, Ketzertötung, Hexenprozesse), was andererseits religionsintern nie unkritisiert blieb. Während die Ostkirche keine kirchlich verordnete Ketzertötung kennt, kam der große theologische Tabubruch mit der Scholastik. Die ehedem tolerante Deutung der Ketzer schlug um: „Päpste und Theologen rechtfertigen die Ketzertötung. Spätestens Papst Innozenz IV. (gest. 1254) stimmte zu. Thomas von Aquin (gest. 1274) hielt in voller Kenntnis des Weizen/Unkraut-Gleichnisses dafür: „Hartnäckige Ketzer verdienen ‚nicht nur von der Kirche durch den Bann ausgeschieden, sondern auch durch den Tod von der Welt ausgeschlossen zu werden‘ […] Dieser Umschlag ist doppelt verwunderlich, einmal weil Thomas den Gewissensentscheid, auch den sachlich falschen, für verpflichtend hielt, zum anderen weil sich die Theologie jetzt trotz aller Vorwarnungen eine zweifelsfreie Aussonderung des Unkrauts anmaßte“ (Angenendt 2016: 40).
3. Reichweite
Obwohl G. so alt ist wie die Menschheit und die Grenzen von Gesellschaften, Kulturen und Religionen überschreitet, ist sie in ihren Erscheinungs- und Verteilungsweisen vielfältig und kontextgebunden, ursächlich nicht immer erklärbar, häufig nicht – weder zweckmittelrational, wertrational, traditional noch affektuell – verstehbar und auch nicht immer funktional (z. B. zum dauerhaften Macht-, Prominenz-, Prestige- und Statusgewinn). G. ist deshalb leicht dämonisierbar (und heroisierbar). Sie kann sich intentional gegen Sachen, Tiere und Mitmenschen richten, auch gegen sich selbst. G. kann individuelle oder kollektive Akteure bzw. Träger haben, je nach Kontext als legitim oder illegitim gelten, als legal oder illegal. G. kann integrativ oder desintegrativ wirken, formell – institutionalisiert – oder informell – spontan, situativ, ungeplant – in allen Daseinsbereichen in Erscheinung treten, in den Sphären der Politik, der Wirtschaft, der Religion, der Kunst, der Straße genauso wie in den Intimsphären des privaten Lebens, z. B. als häusliche G. oder als Vergewaltigung in der Ehe; auf der Mikroebene von Interaktions- und Gruppenprozessen (treten, schlagen, foltern, töten); auf der Makroebene ganzer Gesellschaften mit der Tendenz zur „Veralltäglichung von Gewalt“ (Waldmann 1997), z. B. als Blutrache, Rassismus, Antisemitismus, Holodomor, Bürgerkrieg, und zwischen Gesellschaften (heiße und kalte Kriege, auch als Cyberkriege); auf der Mesoebene von körperbezogenen Organisationen wie Kinderheimen und Pflegeheimen und auch nicht-körperbezogenen Organisationen, etwa als sogenannter „workplace violence“ (Hoffmann 2011). Gewaltnah sind „brachiale Organisationen“ (Etzioni 1978: 96 ff.), d. h. solche „Zwangsorganisationen“ (Kühl 2013), deren Kontrollmechanismen zur Verhinderung der Exit-Option im Kern durch G.-Androhung und G.-Ausübung bestimmt sind (Gefängnisse, Zuchtanstalten, Strafkolonien, Straflager, Arbeitslager, Vernichtungs- bzw. Konzentrationslager); mehr oder weniger organisierte sogenannte „Gewaltgemeinschaften“ (Speitkamp 2013), wie sie sich z. B. als Räuberbanden, Söldnergruppen, Freischärler, marodierende Haufen, Jugendgangs, Hooligans, „Kameradschaften“ oder „Terrorzellen“ konkretisieren; G.-Handlungen bzw. G.-Netzwerke, die über das Internet repräsentiert und aktiviert werden, aber auch als informationstechnologische Infrastruktur von Terrororganisationen dienen; „kriminelle Organisationen“ (Paul/Schwalb 2012), die, wie z. B. die italienische Mafia, die chinesischen Triaden, die japanische Yakuza, zur Bereitstellung illegaler Waren und (sexueller) Dienstleistungen miteinander konkurrieren und ohne staatliche Institutionen des Rechts, neben diesen oder sogar gegen sie operieren (Kriminalität). G. kann als direkte sinnliche Erfahrung, als indirektes, verbreitungsmedialisiertes bzw. digital vermitteltes Erleben, öffentlich oder verborgen sein. Zunehmend wird das Internet zum Schauplatz von fiktiven und faktischen G.-Taten. Immer wird durch G. Schmerz und Leid bewirkt, in Kauf genommen, wenn nicht intendiert: die Verwundung und Verletzung – letztlich Vernichtung – des Körpers und der Seele.
4. Entgrenzung und Typen
Die anthropologische These von der Entgrenzung der menschlichen G.-Verhältnisse redet keinesfalls einer Tendenz zur Ausweitung oder Extremisierung der G.-Praxis im heutigen Zusammenleben demokratischer Rechts- und Wohlfahrtsstaaten das Wort. So zeigt sich, dass bestimmte G.-Arten einerseits und bestimmte G.-Situationen andererseits auch unterschiedliche Begrenzungen erfahren haben. Denn der Entgrenzung des menschlichen G.-Verhältnisses steht auch „eine spezifisch humane Chance der Eingrenzung, der Einfriedung von Gewalt“ (Popitz 1986: 87), gegenüber. Jan Philipp Reemtsma unterscheidet drei Typen von G.-Akten: 1. Lozierende G., die nicht auf diesen Körper selbst gerichtet ist, sondern etwas anderes erreichen soll (z. B. Erpressung von Lösegeld). Man könnte sie – wie auch die blockierende G. (z. B. jemandem den Mund zukleben) – als Unterfall instrumenteller G. sehen, in der die Machtaktion nur ein Mittel zu einem anderen Zweck jenseits des Körpers ist. 2. Raptive G., wenn es um die Nutzung des Körpers eines anderen – gegen dessen Willen – geht (z. B. medizinische Experimente, Vergewaltigung, pädophiler Sex, wie er auch im Raum der Kirche und kirchlicher Einrichtungen skandalisiert wurde). 3. Autotelische G.: Sie hat die Verletzung, ja Zerstörung des Körpers des anderen selbst zum Ziel, berauscht sich daran und erschöpft sich darin. Bereits unsere abendländische Literatur beginne „mit der Schilderung eines Exzesses autotelischer Gewalt: Es reicht Achill nicht, Hektor zu töten, er will dessen Körper zerstören. Rom [– genauer Vespasian bzw. dann Domitian –] hat an dem öffentlichen Entzücken an Inszenierungen autotelischer Gewalt ein Gebäude errichtet […]: das Kolosseum“ (Reemtsma 2008: 14). In diesem G.-Raum (nach dem Konzept von Jörg Baberowski und Gabriele Metzler) wurde fast vier Jh. lang zerfleischt, gekämpft und gestorben. Norbert Elias hat gezeigt, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft „die Grausamkeitsentladung […] nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus[schloss]. Sie war nicht gesellschaftlich verfemt. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude“ (Elias, Bd. 1, 1977: 268). Auch die Hinrichtungsrituale der Frühen Neuzeit waren Demonstrationen autotelischer G., die zugleich beweisen sollten, dass der Souverän das kann und darf: einen Körper verbrennen, ihn rädern und ausweiden. Bis zum Ende des 18. Jh. haben wir Berichte über solche öffentlichen Hinrichtungsrituale, die Michel Foucault „Theater der Hölle“ (Foucault 1977: 61) nennt. Heute ist hierzulande autotelische G. „so erfolgreich geächtet, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen können, und wo wir nicht umhinkommen, sie dennoch zu sehen, sie nur als pathologische Monstrosität“ definieren (Reemtsma 2008: 14). Häufig werde sie in den Massenmedien auch als „sinnlose G.“ bezeichnet. Wo autotelische G. nicht mehr als Sanktion oder Demonstration von staatlicher Macht daherkommt, wird sie kriminalisiert und psychopathologisiert. Gleichwohl zeigt sie sich noch in einigen jugendlichen Milieus, denen es darum geht, das Machtgefühl über den am Boden Liegenden auszukosten und die eigene Ohnmachts-, Demütigungs- und Missachtungserfahrung, nicht zuletzt in der Familie, auszugleichen. Selbst erlebte Misshandlungen und Missachtungen des Bedürfnisses nach Anerkennung wurden in vielen Studien als gewaltförderliche Machtquellen in Erziehungskontexten identifiziert. Wie Erwachsene mit der größeren Abhängigkeit von Kindern und Jugendlichen umgehen, ist folgenreich für deren Entwicklungschancen. Als weiteres Phänomen in anomischen Lagen von Jugendlichen können vielfältige Formen von „Erlebnisgewalt“ (Ebertz 1997) genannt werden, auch Formen geselliger und digital-spielerischer G.
5. Begrenzung
Auch lozierende bzw. instrumentelle wie raptive Formen von G. sind in der modernen Gesellschaft weitgehend kriminalisiert und gelten als legal allenfalls noch in der staatlichen Verbrechensbekämpfung oder in zwischenstaatlichen G.-Taten. Deren Verringerung ist – abgesehen von Ausnahmen wie der EU, die sich als Friedensmacht versteht, die aus der extremen G.-Geschichte des 20. Jh. gelernt hat – allerdings nur „schwerlich festzustellen“ (Gleichmann 2006: 319). Internationale Spannungen führen einerseits zur Ausbreitung differenzierter – asymmetrischer – Formen realisierter G.-Drohung, die in der Politikwissenschaft unter dem Stichwort „Neue Kriege“ (Münkler 2002) debattiert werden, andererseits auch zur wachsenden Angst, im eigenen Land Opfer eines Terroranschlags (Terrorismus) zu werden. Zum Erfahrungsraum des „wohl bedeutsamste[n] zivilisatorische[n] Fortschritt[s] der Menschheitsgeschichte“ (Reemtsma 2008: 14), gehört die – freilich niemals abgeschlossene und stets prekäre – innerstaatliche Monopolisierung der physischen G. G. wird damit unter erhöhten Legitimationsdruck gestellt, ja geächtet. Sie wird – zumindest in der dominanten Kultur rechtsstaatlicher demokratischer Gesellschaften – nur noch für legitim erachtet, wo sie vor schlimmerer G. schützen soll. Dieser erhöhte Legitimationsdruck gilt auch für die Träger der „gewaltbewältigenden Gewalt“ (Popitz 1986: 91) des Staates selbst, der enge Grenzen auferlegt werden. Indem z. B. die Todesstrafe abgeschafft, die lebenslängliche Freiheitsstrafe für Kapitalverbrechen auf 15 Jahre reduziert, der G.- bzw. Waffengebrauch der Polizei selbst unter Ausnahmebedingungen gestellt und die „Wehrdienstverweigerung“ ermöglicht wurde, ist das staatliche G.-Monopol systematisch beschränkt worden. Mit einem deutlichen „Zug zur Milde“ (Haferkamp 1990: 12) im deutschen Strafrecht hat sich auch das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ (Weber 1972: 29) sukzessive einer selbstzivilisierenden Entwicklung unterworfen, im Effekt freilich auch die entwaffneten Bürgerinnen und Bürger gezwungen, zu lernen und die nachwachsenden Generationen zu lehren, ihre Konflikte gewaltfrei, zumindest ohne Einsatz physischer G., zu lösen. All dies erklärt die gewachsene Sensibilität für G.-Fragen, das blanke Entsetzen und die Skandalisierbarkeit, wenn irgendwelche Formen von G. ins Zusammenleben einbrechen. G.-Freiheit ist zu einem Zentralwert moderner Staatsgesellschaften geworden.
Auch ehemalige G.-Situationen haben eine Begrenzung erfahren. So sind Gefängnisse wahrscheinlichere Orte der G.-Ausübung, Fußballstadien oder Tiefgaragen oder Clubs der Hells Angels gewaltwahrscheinliche, Parlamente und Einkaufszentren in manchen Ländern gewaltfreie, in anderen Ländern gewaltwahrscheinlichere Kontexte. Weitgehend gewaltbegrenzte Orte dürften hierzulande Sakralgebäude, Verkehrswege und – trotz der Amokläufe der letzten Jahre – auch die Schulen und inzwischen sicher auch die meisten Familien geworden sein, seitdem das Züchtigungsrecht abgeschafft und es als Misshandlung gilt, wenn Lehrkräfte wie Eltern ihren pädagogischen Bemühungen mit dem Rohrstock oder der Rute Nachdruck verleihen suchen – Erziehungsinstrumente, die Ende der 1950er Jahre noch in 80 % der deutschen Familien galten. Zugenommen hat das terroristische Bedrohungsgefühl auf öffentlichen Plätzen mit großen Menschenansammlungen. Diese Angst vor (islamistischen) G.-Taten und Anschlägen ist insb. unter Frauen weit verbreitet. Die Meisten derer, die sich bedroht fühlen, ändern ihr Verhalten, indem sie bestimmte Orte oder Ereignisse meiden. Die Mehrheit ist allerdings „bemüht, das gewohnte Leben weiterzuführen und nicht aus Angst vor einem terroristischen Anschlag die eigenen Freiheitsspielräume aufzugeben“ (ROLAND Rechtsschutz-Versicherungs-AG 2017: 27).
6. Fragmentierung der Gewaltforschung
Die G.-Forschung ist in unterschiedliche Disziplinen fragmentiert und dabei fraktioniert. So stehen Pessimisten oder Realisten Optimisten gegenüber, die – auch im politisch-philosophischen Rückgriff auf Thomas Hobbes – von einer wachsenden Zivilisierung des Zusammenlebens durch das staatliche G.-Monopol und weitere gewaltlimitierende Effekte ausgehen. Z. B. ist „das ganze Werk von Norbert Elias […] zentriert um Probleme der längerfristigen Verringerung der menschlichen Gewalttat als Machtquelle“ (Gleichmann 2006: 328). Auf diesem Hintergrund lässt sich zeigen, dass auch „eine Erstquelle zwischenmenschlicher Religionsgewalt“ (Angenendt 2016: 39) erheblichen Legitimationsverlust erleidet. Dieser besteht darin, dass sich „die jeweilige Religionsgesellschaft vor dem Gotteszorn zu schützen sucht“ (Angenendt 2016: 39), der ihr zufolge auf Häresie, Apostasie und Pollution droht, indem sie „von sich aus den Frevler noch vor Ausbruch des Gotteszornes tötet“ (Angenendt 2016: 39). Hinzu kommt, dass die religiöse G.-Metaphorik, etwa im Blick auf die Jenseitsvorstellungen (Hölle, Fegefeuer), an Plausibilität verliert bzw. auf Ablehnung stößt.
Nicht zuletzt im Verweis auf moderne Barbareien in der G.-Geschichte des 20. Jh. (Adolf Hitler, Josef Stalin und Mao Zedong), auf die bloß rudimentären Tendenzen einer globalen Zentralisierung militärischer Macht, auf die weltweite Zunahme von Opfern zwischenstaatlicher G., auf die (in Deutschland) aktuell wachsende G.-Ausübung gegenüber Polizisten, Ärzten und Sozialarbeitern, auf das anwachsende Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung und – nicht zuletzt – auf die anthropologisch begründete Verletzungsfähigkeit und Verletzungsoffenheit des Menschen überhaupt gehen jene Pessimisten davon aus, dass keine Gesellschaft von sich sagen kann, dass sie der G., sogar maßloser G., somit „der Grausamkeit keinen Raum gibt“ (Trotha 2013: 221). Auch bezweifeln sie die zivilisationstheoretische Behauptung einer Weiterentwicklung zu einem globalen status civilis, „dass die Welt-Gewaltmonopolisierung in den Händen der USA der nächste Schritt im Prozess der Zivilisation“ (Tönnies 2009: 29) ist. Freilich müssen auch diese Pessimisten einräumen, dass sich Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart darin unterscheiden, wie viel Raum sie der G. geben, welcher Art und wo der Raum der G. ist, und welche Formen von G. in diesen Räumen praktiziert werden und – nicht zuletzt – dürfen. Die Optimisten müssen hingegen einräumen, dass der Aufbau eines legitimen Welt-G.-Monopols ein weiter Weg ist. Auch dabei wird der Satz Max Webers gelten, zumindest zu denken geben: „Gewalt und Bedrohung mit Gewalt gebiert […] nach einem unentrinnbaren Pragma alles Handelns unvermeidlich stets erneut Gewaltsamkeit“ (Weber 1947: 547).
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
M. Ebertz: Gewalt, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gewalt (abgerufen: 22.11.2024)