Religion

  1. I. Religionswissenschaftliche Positionen
  2. II. Annäherungen der Philosophie
  3. III. Das Christentum als Religion
  4. IV. Soziologische Deutungen

I. Religionswissenschaftliche Positionen

Abschnitt drucken

Nichts ist in der R.s-Wissenschaft umstrittener als die Frage: „Was ist R.?“. Wie in kaum einer anderen Disziplin wird um die Beantwortung kontrovers gerungen, bes. seit den 1980er Jahren: eine Folge des theoretischen Diskurses, wonach eine wissenschaftliche Disziplin eine Bestimmung oder Abgrenzung ihres Gegenstandes brauche. Die Meinungsvielfalt reicht von der Befürwortung der Definition eines R.s-Begriffs bis zum Vorschlag, darauf ganz zu verzichten.

1. Die Suche nach einem allgemeinen Religionsbegriff

Mit einer Unbestimmbarkeit des R.s-Begriffs würde sich die R.s-Wissenschaft für Hartmut Zinser selbst marginalisieren und zu ihrer eigenen Abschaffung beitragen. Zudem würde dies eine „Aufweichung oder gar Aufhebung der Religionsfreiheit zur Folge haben“ (Zinser 2010: 38), d. h. dass nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche und politische Gründe für wissenschaftliches Nachdenken über den R.s-Begriff sprechen.

Die vielen Versuche zur Begriffsdefinition (die 48 von James Henry Leuba 1912 gesammelten Definitionen sind unterdessen auf ca. 100 angewachsen – und so gut wie jeder R.s-Wissenschaftler hat seine eigene) führen bisher zu keiner allgemeinen Akzeptanz. Ernst Feil hat die Begriffsgeschichte akribisch erforscht und dabei „eine deutliche und tiefgreifende Zäsur zw[ischen] dem antik-röm[ischen] und lange christl[ich] rezipierten Verständnis und der neuzeitlichen im prot[estantischen] Bereich entstandenen Konzeption“ festgestellt (Feil 2004: 273). Angesichts der Spannbreite schlägt er vor, „auf das Wort ‚Religion‘ wenn nicht ganz, so wenigstens im wissenschaftlichen Bereich zu verzichten“ (Feil 2012: 72). Zusätzlich führte der im Abendland entstandene R.s-Begriff manchmal zur Blindheit gegenüber außereuropäischen Formen von Religiosität, was einige R.s-Forscher (u. a. Wilfred Cantwell Smith, Friedrich Tenbruck) ebenso zur Befürwortung eines Begriffverzichts bewegt hat. Der europäische R.s-Begriff kann bis in die Renaissance hinein seine antik-römische und christliche Prägung nicht leugnen. Gleich ob wir ihn mit Nigidius Figulus von religere (anbinden), mit Cicero von relegere (wieder lesen, genau beachten), mit Laktanz und Augustinus von religare/religari (zurückbinden) oder mit anderen Autoren von res (Sache) und ligare (anbinden) ableiten, ist damit die „sorgfältige“, „skrupulöse“, „scheue Beachtung“ von Bräuchen und Regeln, d. h. v. a. Kultvorschriften und anderen Handlungsweisen „gegenüber den Göttern“ gemeint (Feil 2000: 18) – ebenso wie eine Religiositätsmorphologie mit Tempeln, Kultdienern und Gottesdiensten. Wenn die genannten Zeichen von Religiosität auf den ersten Blick fehlten wie etwa bei den als Halbnomaden lebenden Tupi-Indianern, glaubten die Europäer, dass es sich, Cicero zum Trotz, um Völker ohne R. handelte. Für eine Schamanenreligiosität, bei der Rauschkräuter und Visionen, Zauber und Tanz eine zentrale Rolle spielten, hatten die Europäer der Renaissance kein Wahrnehmungsmuster. Ähnliche Blindheit ist heute manchmal angesichts der sogenannten unsichtbaren Religion im „säkularen Zeitalter“ (Taylor 2007) zu konstatieren. Zudem haben das Studium der R.s-Geschichte und die Erfahrung der R.s.-Begegnung zur Einsicht geführt, dass ein abendländisch geprägter R.s-Begriff nicht ohne weiteres auf Islam, Hinduismus, Buddhismus, chinesische, afrikanische oder ozeanische R.en zu übertragen ist, da er dafür entweder zu eng oder zu weit sei.

2. Zwischen Substantialismus und Funktionalismus

Günter Kehrer bezeichnet den Diskussionsstand „als eine unentschiedene Debatte um einen funktionalistischen oder substantiellen Religionsbegriff“, wobei beide Begriffe beanspruchen, „empirisch gehaltvoll zu sein“ (Kehrer 1998: 422). Dabei ist es bis heute geblieben. Die substantiellen oder substanzialistischen Theorien suchen in der Tradition der R.s-Phänomenologie nach der Substanz, der Essenz oder dem Wesen, die allen Einzel-R.en zugrunde liegen. Sie tendieren dazu, transzendente Phänomene in die Begriffsbildung aufzunehmen, was wiederum nicht für alle R.en zutrifft. Funktionale oder funktionalistische Ansätze sind eher ethnologisch und soziologisch geprägt, fragen vielmehr nach den Funktionen, die die verschiedenen R.en erfüllen, bzw. nach den Strukturen oder Dimensionen, die ihnen gemeinsam sind, und kreisen um Probleme existenzieller Natur. Es geht darin nicht um die Frage, „was Religion ist, sondern was sie tut bzw. was sie bewirkt, also was sie leistet und welche Funktionen sie erfüllt“ (Hock 2002: 16). Dabei neigen die Funktionalisten nicht selten zur völligen Ignorierung der „Innensicht“ der R.

Nicht befriedigend kann für die R.s-Wissenschaft der R.s-Begriff sein, der der Rechtsprechung über Verletzungen der R.s-Freiheit etwa beim Schweizerischen Bundesgericht zugrunde gelegt wird und der seine substantialistische Prägung nicht leugnen kann. Demnach werden unter R. „alle Arten von Vorstellungen über die Beziehungen des Menschen zum Göttlichen beziehungsweise zum Transzendenten“ verstanden, sofern darin das Glaubensbekenntnis „eine gewisse grundsätzliche, weltanschauliche Bedeutung“ erlangt und „einer Gesamtsicht der Welt“ entspricht: „das heißt, dass mit dem Glaubensbekenntnis eine religiös fundierte, zusammenhängende Sicht grundlegender Probleme zum Ausdruck zu gelangen hat, ansonsten die Religionsfreiheit sich zu einer schwer fassbaren Allgemein- und Handlungsfreiheit erweitern würde“ (Bundesgerichtsentscheid 119 Ia 178 E4b v. 1993). Eine solch enge Definition von R. lässt gottlose oder immanente R.s-Formen außer Acht. Als Faktum ist festzustellen, dass substantialistische und funktionalistische Forschungsrichtungen isoliert betrachtet problematisch sind und eine vermittelnde Kombination derselben, so wünschenswert sie wäre, wissenschaftlich bisher nicht befriedigen konnte. Eine allgemein anerkannte metasprachliche Definition des R.s-Begriffs fehlt.

3. Weiterführende Vorschläge

Angesichts dessen zeichnen sich inzwischen weiterführende, pragmatische Vorschläge ab. Hans-Michael Haußig sieht die Aufgabe des R.s-Wissenschaftlers in der „Analyse des Inventars der religiösen Kommunikation“ (Haußig 2012: 95) unter Berücksichtigung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede in den einzelnen R.s-Verständnissen, während andere „für einen weiten Religionsbegriff“ plädieren, der ausgehend vom Alltagsverständnis von R. „als wissenschaftliches Konstrukt eine Reihe verschiedenartiger Phänomene zu beschreiben und zu erklären erlaubt“ (Knoblauch 2010: 73).

Wieder andere sehen den praktikablen Weg in der Benennung von Kriterien oder Dimensionen zur näheren Bestimmung des Begriffsfeldes, „ohne es in das Zwangskorsett einer engen Definition zu pressen“ (Hock 2002: 19). Diese Sicht konvergiert mit englischen und skandinavischen Versuchen (etwa von Charles Glock, Rodney Stark, Ninian Smart, Juha und Marja Pentikäinen), die auf eine Definition von R. verzichten, dafür aber verschiedene Bestimmungen bzw. Dimensionen von Religiosität unterscheiden (kognitive, affektive/emotionale, instiktive/verhaltensmäßige, soziale und kulturelle), die sich im Großen und Ganzen den Grundbereichen Lehre/Weltanschauung, Leben/Handeln/Organisation und Kult/Ritus zuordnen lassen.

H. Zinser unterscheidet – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – vier notwendige Momente einer Bestimmung: die Unterscheidung zwischen R. und Nicht-R., nicht zuletzt damit der Begriff von R.s-Freiheit nicht sinnlos wird; die Unterscheidung von religiös und nichtreligiös ist zunächst „eine Deutung der Beteiligten“ (Zinser 2010: 68), weshalb sowohl das Selbstverständnis der Anhänger wie auch dessen Anerkennung durch das geschichtliche und soziale Umfeld herangezogen werden müssen; diese Deutung ist ein geistiger Prozess als Gestaltung des kollektiven Geistes; als soziale, d. h. in soziale Beziehungen eingebettete Kategorie ist R. dann kein willkürlicher Begriff: „nicht nur, was einer als seine Religion ausgibt, ist als Religion anzuerkennen, sondern dazu gehört auch, daß das soziale Umfeld ihn in dieser Deutung anerkennt“ (Zinser 2010: 67). H. Zinser ist davon überzeugt, dass sich diese vier Merkmale empirisch in allen üblicherweise als R. bezeichneten kulturellen Schöpfungen aufweisen lassen. Er betont auch, dass seine Bestimmung von R. eine gesellschaftliche und geschichtliche, aber keine funktionale sei; denn anders als der funktionale (oder der substantielle) Ansatz werde hier nicht vorausgesetzt, was R. sei.

Im Anschluss an Jacques Waardenburg plädiert Johann Figl für ein empirisches Vorgehen und eine Umkehrung der traditionellen Annahme, „dass zuerst der ‚Begriff‘ gegeben sein muss“ (Figl 2012: 119). Erst in einem zweiten Schritt könnte man generalisierte Aussagen in Richtung eines Allgemeinbegriffs formulieren. Gleichwohl betont J. Figl mit neueren Ansätzen in der Wissenschaft die Notwendigkeit „eines forschungsleitenden Begriffs der ‚Religion‘“ (2012: 119) und sei es wenigstens als eine Art heuristisch offener „Vorbegriff“ (2012: 119), anhand dessen religiöse Gegenstände eruiert und untersucht werden können.

Festhalten lässt sich, dass R. in der R.s-Wissenschaft ein „heuristischer“ Begriff bzw. „ein wissenschaftliches Konstrukt“ mit vielen Bestimmungen funktionaler und substantiell-inhaltlicher Art ist. R. ist für die R.s-Wissenschaft ein in Geschichte und Gesellschaft entstandenes, kulturelles Symbolsystem zur Existenzbewältigung des Menschen mit Dimensionen/Funktionen in den Grundbereichen Lehre/Weltanschauung, Leben/Handeln/Organisation und Kult/Ritus, die in Raum und Zeit kulturell bedingte Konvergenzen und Divergenzen aufweisen und die von den Beteiligten (Anhänger und Umfeld) als „religiös“ anerkannt werden. Eine solche, hier abschließend gewagte weite Definition würde erlauben, transzendente wie immanente, kollektive wie individuelle R.s-Formen und religioide Elemente bzw. unsichtbare Religiosität (z. B.: totalitäre Ideologien und Bewegungen [ Totalitarismus ], Psychotherapie, Lebenshilfeunternehmungen, Sport und Unterhaltung) prinzipiell als Forschungsgegenstand der R.s-Wissenschaft zu betrachten.

Bei ihrer Arbeit an der „R.“ muss R.s-Wissenschaft, die nicht zu Krypto- oder Ersatztheologie mutieren darf, bei einer „methodologischen Ep-ochē“ (Colpe 1980: 287) gegenüber der Wahrheitsfrage (Wahrheit) bleiben und den Schwerpunkt auf die distanzierte Außenperspektive (etisch) legen, aber ohne die Innenperspektive oder das Selbstverständnis der Anhänger (emisch) außer Acht zu lassen.

II. Annäherungen der Philosophie

Abschnitt drucken

Die grundlegende Frage der Philosophie zur R. lautet wie bei jedem anderen Gegenstand: Was ist R.? Wir können Beispiele von R.en nennen; die Philosophie fragt: Was ist diesen Beispielen gemeinsam, dass wir sie als R. bezeichnen? Wie ist der Begriff der R. zu bestimmen? Die Begriffe, mit deren Hilfe wir den Begriff der R. bestimmen, entnehmen wir einer Philosophie. Es gibt verschiedene Begriffssysteme, um diese Frage zu beantworten. Sie sind nicht unabhängig von der R.; sie wurden aus der Reflexion auf die jeweilige R. entwickelt und die jeweilige R. sucht in den Philosophien nach Begriffen, durch die sie ihr eigenes Anliegen verdeutlichen kann. Die philosophische Reflexion auf die R. ist daher nur aus einer Innenperspektive möglich; der folgende Blick in die Geschichte soll diese Aspekte entfalten.

Der Terminus R. entstammt der lateinischen Sprache; die Griechen haben eine R., aber ihre Sprache hat keinen Terminus, um sie zu bezeichnen. Dennoch finden wir eine philosophische Reflexion auf die R. Der einflussreichste Text ist die Diotima-Rede in Platons „Symposion“ (209e–212a). Der Gott Eros, Sohn und Begleiter der Aphrodite, wird gedeutet als ein Streben, das ausgehend vom erotisch-ästhetischen Erlebnis über verschiedene Stufen zur Idee des Schönen aufsteigt. Dieser Ansatz wird von Plotin entfaltet und von den drei abrahamitischen R.en als Philosophie der Mystik übernommen.

In seiner Schrift über das Wesen der Götter geht Cicero davon aus, dass die meisten Philosophen die Existenz von Göttern bejahen. Die entscheidende Frage lautet für ihn: Sind die Götter untätig, oder haben sie alles geschaffen und lenken es bis in Ewigkeit? Wenn es zutrifft, dass die Götter sich nicht um das Schicksal der Menschen kümmern, „wie können dann noch Frömmigkeit (pietas), Heiligkeit (sanctitas) und Religion (religio) bestehen? Denn all das kann man der Macht der Götter nur dann lauter und rein entgegenbringen, wenn sie es auch zur Kenntnis nehmen und wenn die Menschen den unsterblichen Göttern etwas zu verdanken haben“ (Cic. nat. deor. 1,3). Der Verlust der R. hat eine Orientierungslosigkeit des Lebens zur Folge; zusammen mit ihr dürften Ehrlichkeit, Treue, Gemeinschaft und Gerechtigkeit verloren gehen. Cicero bringt eine Etymologie von religio. Das Wort ist abgeleitet von relegere „von Neuem lesen“. Die, welche alles, was zum Kult der Götter gehört, „sorgfältig bedachten und gewissermaßen von Neuem lasen (relegerent), wurden, von relegere abgeleitet, religiosi genannt“ (Cic. nat. deor. 2,72). Die R. wird unterschieden von der Lehre der Philosophen über die Götter. „Von der Überzeugung, die ich von den Vorvätern über die Verehrung der unsterblichen Götter übernommen habe, wird mich keine Rede, weder die eines Gebildeten noch die eines Ungebildeten, jemals abbringen. Sondern wenn es sich um die Religion handelt, schließe ich mich den Oberpriestern […] an, nicht aber Zenon, Kleanthes oder Chrysipp“ (Cic. nat. deor. 3,5).

Thomas von Aquin (STh II-II, 81) nennt drei mögliche Etymologien. Die erste ist die Ciceros; die beiden anderen übernimmt er von Augustinus. Nach der zweiten kommt religio von reeligere „wieder eine Wahl treffen“: wir müssen uns wieder für Gott entscheiden, „den wir verloren hatten, weil wir uns nicht um ihn gekümmert haben“; nach der dritten von religare „anbinden“: Die R. bindet uns an den einen allmächtigen Gott. Die R. ist eine Tugend; ihr Akt ist es, Gott die ihm geschuldete Ehre zu erweisen. Sie ist nicht wie Glaube, Hoffnung und Liebe eine theologische Tugend, sondern ein Teil der Gerechtigkeit, also eine moralische Tugend.

Moral, so die These von Immanuel Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1968), „führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (Kant 1968: 6). Die Moral bedarf keiner Zweckbestimmung; das Sittengesetz gebietet nicht hypothetisch, d. h. unter Voraussetzung eines Zwecks, sondern kategorisch: Welchen Zweck auch immer ich verfolge, ich darf nur nach der Maxime handeln, von der ich wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde; das Bewusstsein dieses Gesetzes ist ein unableitbares Faktum der reinen Vernunft (Vernunft – Verstand). „Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfalle: was dann aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme“. So geht aus der Moral die Idee eines höchsten Gutes hervor, das die Zwecke, die wir haben sollen (die Pflicht), und die Zwecke, die wir haben (die Glückseligkeit) „zusammen vereinigt in sich enthält […], zu dessen Möglichkeit wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen, das allein beide Elemente desselben vereinigen kann“ (Kant 1968: 5).

R. (subjektiv betrachtet) ist also „das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote. Diejenige, in welcher ich vorher wissen muss, dass etwas göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen, ist die geoffenbarte […] Religion: dagegen diejenige, in der ich zuvor wissen muss, dass etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann, ist die natürliche Religion“ (Kant 1968: 153 f.). Nach der Beschaffenheit, die eine R. der äußeren Mitteilung fähig macht, ist zu unterscheiden zwischen der natürlichen R., „von der (wenn sie einmal da ist) jedermann durch seine Vernunft überzeugt werden kann“, und der gelehrten R., „von der man andere nur vermittels der Gelehrsamkeit […] überzeugen kann“; nur eine in diesem Sinn natürliche R. ist tauglich, „eine allgemeine Menschenreligion zu sein“. Eine R. (das Christentum) kann „die natürliche, gleichwohl aber auch geoffenbart sein, wenn sie so beschaffen ist, dass die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können und sollen, ob sie zwar nicht so früh, oder in so weiter Ausdehnung, als verlangt wird, auf dieselbe gekommen sein würden“ (Kant 1968: 155).

Von den Pflichten der Menschen gegen Menschen unterscheidet I. Kant eine Pflicht des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst: „Der Mensch soll aus dem ethischen Naturzustande herausgehen, um ein Glied des eines ethischen gemeinen Wesens zu werden“ (Kant 1968: 96). Wie im juridischen, so gibt sich im ethischen Naturzustand jeder selbst das Gesetz; in beiden ist jeder sein eigener Richter; die Menschen verderben einander in ihrer moralischen Anlage. „Wenn ein ethisches gemeines Wesen zu Stande kommen soll, so müssen alle einzelne einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Gesetze, welche jene verbinden, müssen als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können“ (Kant 1968: 98). Dieser Gesetzgeber muss das Innerste der Gesinnungen eines jeden durchschauen und jedem zukommen lassen, was seine Taten wert sind. „Dieses aber ist der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Gesetzen, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich“ (Kant 1968: 99).

Ein ethisches gemeines Wesen ist eine Kirche. Die unsichtbare Kirche ist die „bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum Urbilde dient […]. Die sichtbare ist die wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt“ (Kant 1968: 101). Eine allgemeine Kirche lässt sich nur auf die natürliche R. gründen, weil nur von ihr jedermann überzeugt werden kann; eine menschliche Schwäche verhindert jedoch, dass auf sie eine sichtbare Kirche gegründet wird. Die Menschen sind nicht leicht zu überzeugen, dass ein moralisch guter Lebenswandel alles ist, was Gott von Menschen fordert, damit sie wohlgefällige Untertanen in seinem Reich (Reich Gottes) sind. Dass sie, wenn sie ihre Pflichten gegen Menschen erfüllen, Gott dienen, „und dass es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen […], will ihnen nicht in den Kopf“. Weil jeder Herrscher der Welt das Bedürfnis hat, von seinen Untertanen geehrt zu werden, „so behandelt man die Pflicht, sofern sie zugleich göttliches Gebot ist, als Betreibung einer Angelegenheit Gottes, nicht des Menschen, und so entspringt der Begriff einer gottesdienstlichen statt des Begriffs einer reinen moralischen Religion […]. Der Begriff eines bloß nach moralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens lässt uns, wie nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken, die rein moralisch ist“ (Kant 1968: 103 f.). Die gottesdienstliche R. ist ein notwendiges Mittel der öffentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung der rein moralischen R. Die eine wahre R. enthält nichts als praktische Prinzipien, die wir „als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart anerkennen. Nur zum Behuf einer Kirche […] kann es Statuten, d. h. für göttlich gehaltene Verordnungen, geben, die für unsere rein moralische Beurteilung willkürlich und zufällig sind. Diesen statutarischen Glauben nun (der allenfalls auf ein Volk eingeschränkt ist und nicht die allgemeine Weltreligion enthalten kann) für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen, ist ein Religionswahn“, durch dessen Befolgung dem von Gott selbst „geforderten Dienst gerade entgegen gehandelt wird“ (Kant 1968: 167 f.).

Nach William James steht das Wort R. nicht für ein einzelnes Wesen; es ist vielmehr eine Sammelbezeichnung für viele Charakterzüge, von denen jeder für die R. gleichermaßen wichtig sein kann. W. James geht aus von der Zweiteilung in die institutionelle und die persönliche R. Der eine Teil hat v. a. Gott, der andere den Menschen im Blick. „Gottesdienst und Opfer, Verfahren, sich die Gottheit geneigt zu machen, Theologie, Zeremonie und kirchliche Organisationen sind die wesentlichen Merkmale der institutionellen Religion. Würden wir unsere Betrachtung auf sie beschränken, so müssten wir Religion als eine Kunstfertigkeit definieren, als die Kunst, die Gunst der Götter zu gewinnen. Im Gegensatz dazu stehen im persönlicheren Bereich die geistigen Dispositionen des Menschen im Zentrum des Interesses, sein Gewissen, seine Verdienste, seine Hilflosigkeit, seine Unvollkommenheit“ (James 1997: 61). W. James beschränkt sich auf die persönliche R.; sie ist in dem Sinn grundlegender als die Theologie oder die Kirche, als alle Gründer einer Kirche „ihre Kraft ursprünglich der direkten persönlichen Gemeinschaft mit dem Göttlichen“ verdanken (James 1997: 63).

W. James setzt „willkürlich“ eine Definition: „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, sofern sie selbst in Beziehung zu stehen glauben zu dem, was auch immer sie als das Göttliche ansehen mögen. Weil diese Beziehung entweder geistig, körperlich oder institutionell sein kann, ist es evident, dass aus Religion in dem von uns verstandenen Sinne in einem zweiten Schritt Theologien, Philosophien und kirchliche Organisationen erwachsen können“ (James 1997: 63 f.). Aber trifft diese Definition auch auf R.en zu, die nicht ausdrücklich einen Gott annehmen, wie etwa der Buddhismus? Was der buddhistische Pessimismus im Menschen anspricht, ist in vielerlei Hinsicht identisch mit den besten christlichen Reaktionen. Daher müssen wir vom empirischen Stand aus auch diese Glaubensbekenntnisse als R.en bezeichnen und in unserer Definition „das Göttliche“ im weitesten Sinn fassen. R. ist „die Gesamtreaktion des Menschen auf das Leben“ (James 1997: 67). „Es gibt einen Bewusstseinszustand, den ausschließlich religiöse Menschen kennen, in dem an die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft tritt, zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes“ (James 1997: 79). W. James ist Psychologe. Material seiner Untersuchung sind die religiösen Schriften und Autobiographien von Menschen, „die es im religiösen Leben zu besonderer Vollkommenheit gebracht haben und die am besten in der Lage waren, einen verständlichen Bericht über ihre Vorstellungen und Motive zu geben“ (James 1997: 39). Er sucht nach den ursprünglichen Erfahrungen, die sich nur bei Individuen finden, „für die Religion weniger eine dumpfe Gewohnheit ist als vielmehr einem heftigen Fieber gleicht“. Aber diese religiösen „Genies“ zeigen wie andere Genies oft „eine anfällige nervliche Verfassung“; der geistige Wert wird jedoch durch den pathologischen Ursprung nicht aufgehoben. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Wurzeln“ (James 1997: 53). W. James fasst zusammen, worin die Bedeutung der R. für das Leben liegt:

a) Die sichtbare Welt ist Teil eines geistigen Universums.

b) Die Vereinigung mit diesem höheren Universum ist unsere wahre Bestimmung.

c) Das Gebet ist ein Prozess, in dem etwas Wirkliches geschieht.

d) R. ist eine neue Würze des Lebens: als Verzauberung oder als Aufruf zu Ernst und Heroismus.

e) Sie schenkt Geborgenheit und Frieden und gegenüber anderen ein Übergewicht von liebevollen Affekten.

III. Das Christentum als Religion

Abschnitt drucken

In vormodernen Gesellschaften hatte R. vor allem die Aufgabe, Kontingenz zu bannen. In aller Unbestimmbarkeit des Daseins und der Welt, im Zufälligen und Nicht-Notwendigen – in diesem Sinne wird hier von Kontingenz gesprochen – sollte es doch etwas geben, das als unbedingt Notwendiges und aller Veränderung Enthobenes eine Instanz jenseits der Kontingenz darstellt. Wenn diese Instanz das Geschehen der Welt lenkt, konnte auch Zufälliges in das Weltkonzept integriert und als sinnhaft erfahren werden. Die moderne Gesellschaft hat andere Formen des Umgangs mit Kontingenz ausgebildet. R. in ihrer zentralen Funktion der Kontingenzreduktion ist weitestgehend überflüssig geworden. Damit stellt sich die Frage nach der Zukunft des Christentums als R. Aus theologischer Sicht wurde und wird diskutiert, ob Christentum R. und damit an das Schicksal von R. gebunden ist. Die Zukunft des Christentums liegt womöglich eher in der Erschließung als in der Reduktion von Kontingenz.

1. Die Unterscheidung vertraut/unvertraut

R. beobachtet die Welt in der Unterscheidung vertraut/unvertraut bzw. bekannt/unbekannt, zugänglich/unzugänglich, ungefährlich/gefährlich oder ähnlich. In archaischen Gesellschaften kann das Unvertraute schon gleich hinter der Dorfgrenze beginnen, bei den Geistern des Waldes oder des Meeres. Erste Formen von R.s-Ausübung finden sich vielleicht schon bei den Neandertalern in Gestalt von Grabbeigaben, die auf ein Leben nach dem Tod bezogen sein könnten. Die Grenze von Leben und Tod entspricht der Unterscheidung vertraut/unvertraut wie keine andere; seitdem hat sich religiöse Praxis stets auf den Umgang mit dem Tod und die Erwartung einer nachtodlichen Existenz konzentriert. Chiffre und Symbol des Unvertrauten und Unzugänglichen ist in allen religiösen Kulturen der Himmel. Der Himmel ist im Gegensatz zur Erde prinzipiell der nicht zugängliche, nicht manipulierbare Teil der Welt. Der unwandelbare Gang der Gestirne und der Jahreszeiten, der Wechsel von Licht und Dunkelheit usw. weisen dem Himmel eine privilegierte Stellung in den R.en zu. Die Kontingenzen des Alltags und der Zukunft erhalten vom Himmel her den Charakter des Notwendigen und Bestimmten. Mit der Leitunterscheidung Himmel/Erde konnte R. der Kontingenzbannung dienen und sich zugleich als eigenes System ausbilden. R. vollzieht sich, indem im Vertrauten dem Unvertrauten ein Ort und/oder eine Zeit zugewiesen wird: die Kultstätte, die Festzeit, der heilige Gegenstand. Dies ist der Ort bzw. die Zeit des Heiligen. Das Heilige ist das Mächtige, denn es repräsentiert das Bestimmende im Unbestimmten. Das Heilige muss vor Profanierung und Inflationierung geschützt werden, z. B. durch Tabuisierung (Tabu) oder Regeln der Unterscheidung zwischen rein und unrein. In allen R.en gibt es Spezialisten (Schamanen, Priester), die sich im Umgang mit dem Heiligen inmitten des Profanen auskennen und dieses zu schützen wissen.

Anthropologisch gewendet gründet R. in der Perspektivität der je eigenen Weltsicht. Jeder sieht die Umwelt mit seinen Augen, er weiß nicht, ob er sie realitätsgerecht sieht. Da kann es helfen sich auf eine Instanz zu beziehen, die beide Seiten sieht: das eigene Selbst und die Umwelt. Doch gibt es außer der religiösen auch andere Formen der individuellen Kontingenzbewältigung, z. B. die Technik (es funktioniert, also ist es richtig) und die Liebe (der andere stimmt meiner Weltsicht zu und umgekehrt).

2. Biblisches Gotteszeugnis und Religion

Der umstandslosen Ineinssetzung von biblischem Gotteszeugnis und R. ist durch das biblische Fremdgötterverbot gewehrt. Das erste Wort des Dekalogs (Zehn Gebote) setzt die Existenz anderer Götter voraus, verbietet aber, sie neben JHWH zu „haben“ (Ex 20,3; Dtn 5,7). Die Einzigkeit des Gottes Israels gegenüber den Göttern wird selten als Überlegenheit, meistens als Unvergleichlichkeit ausgesagt: Er allein hat „Bund und Treue“ bewahrt (1 Kön 8,23); die „Götter der Völker sind Nichtse, aber der Herr ist es, der den Himmel gemacht hat“ (Ps 96,5). Schon die Erwähnung der Erschaffung von Himmel und Erde in Gen 1,1 kann religionskritisch verstanden werden: Der Himmel mit seinen Göttern ist nicht göttlich, ist nur Schöpfungswerk. Die Leitunterscheidung der Bibel ist nicht Himmel/Erde sondern Gott/Schöpfung. Ps 82 zieht eine Art Resumee: Der Herr fordert die Götter auf, den Geringen und Elenden zum Recht zu verhelfen, sie aber „erkennen nicht, verstehen nichts“. Da ruft der Psalmist Gott auf, selbst über alle Völker zu richten. Im NT werden die Götter zu Mächten und Gewalten. Durch die Auferstehung ist Christus über „jegliche Hoheit und Gewalt, Macht und Herrschaft“ in dieser und in der kommenden Welt eingesetzt (Eph 1,21). Die Götter bzw. die Mächte werden durch Christus kontingent gesetzt, sie sind nicht mehr der letzte Bezugspunkt von R. Im Glauben wird erkennbar, dass sie auf Christus hin geschaffen sind (vgl. Kol 1,16), wenn sie auch in der Welt noch ihr Unwesen treiben (Offb 12,12). Paulus tadelt die Galater, dass sie den Elementen „dienen“, stellt aber Wirkung und Wahrheit der Himmelselemente nicht in Frage (Gal 4,8–11). Das biblische Denken kann die R.en und ihre Erkenntnis des Himmels (des Unvertrauten und Unzugänglichen) schätzen, übernimmt aber nicht die religiöse Leitunterscheidung Himmel/Erde.

3. Das Christentum als Religion

Trotz des dialektischen biblischen Befunds bzgl. des Verhältnisses von biblischem Gotteszeugnis und R. ist das Christentum in die Position und Funktion einer R. eingerückt. Die R.s-Werdung der von Jesus begründeten Bewegung stellt geistes- und religionsgeschichtlich zweifellos einen der bemerkenswertesten Vorgänge dar. Ablesbar an der Übernahme religiöser Formen der Gesellschaften, in denen der christliche Glaube an Geltung gewann (Kult, Architektur, religiöse Kunst, Alltagsreligiosität), konnte das Christentum sich mit religiösem Interesse verbinden und sich als Antwort auf religiöse Fragen präsentieren. Ein bedeutsames Anzeichen dafür ist die Konzentration auf das nachtodliche Leben und die in diesem Leben dafür angemessene Vorbereitung, die das Christentum in seinen intensivsten Phasen kennzeichnete. Versteht sich das Christentum als R., so wird die Unterscheidung Gott/Götter in die Unterscheidung wahre/falsche R. transformiert. Seit Augustinus’ Frühschrift „De vera religione“ (Augustinus 1986) ist dies ausdrücklich der Fall. Augustin verurteilt das Judentum als falsche R., die nur das irdische Glück suche, und kann sich zugleich mit den religiösen Spekulationen der neuplatonischen Philosophen einverstanden erklären. I. S. dieser beiden Seiten hat das Christentum seitdem zum einen bestimmte R.en als unvollkommen oder falsch verurteilt und zum anderen Anschluss an religionsphilosophisches Denken gesucht. Dabei war stets zu erweisen, dass das Christentum die höchste und allein wahre R. sei. Das Zweite Vatikanische Konzil erst hat dieses Vorgehen korrigiert, indem es den R.en Himmelswissen („[…] eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Macht, die dem Lauf der Welt und den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist“ [NA 2]) konzediert, ohne etwas von dem zu verwerfen, „was in diesen Religionen wahr und heilig ist“ (NA 2), und andererseits unablässig Christus verkündigt, „der ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben ist‘“ (NA 2).

Die bedeutsamste Folge der R.s-Werdung des Christentums ist die Konfiguration des Gottesbegriffs i. S. d. All-Prädikationen. Gott als höchstem Sein kommen Notwendigkeit und Unveränderlichkeit zu, so lehrte es die klassische Theologie. Kraft seiner Vollkommenheit sind ihm Allwissenheit und Allmacht zu eigen. Er sieht alle Dinge im Allgemeinen wie im Einzelnen vorher (providentia) und bestimmt das ewige Schicksal der Menschen nach seiner ewigen Vorherbestimmung (praedestinatio). Die Spannungen dieses Gottesbegriffs zu den biblischen Erzählungen von Gott sind unübersehbar; sie bildeten den Anlass für die meisten theologischen Auseinandersetzungen. Deutlich ist, dass dieses Gottesbild nach dem urreligiösen Bedürfnis der Kontingenzverminderung konstruiert war. Gott ist frei von aller Kontingenz, er lenkt die Geschichte insgesamt und das Leben eines jeden einzelnen Menschen; er ist darum die Zuflucht der kontingenzgeplagten Welt. Die kirchliche Unterweisung hatte darzulegen, inwiefern alles Geschehen dem unergründlichen Willen des allmächtigen Gottes entspricht bzw., falls es ihm widerspricht, beim Jüngsten Gericht seine verdiente Strafe finden wird.

Dieses heute gemeinhin theistisch genannte Gottesbild ist es, welches den Protest des Atheismus auf sich zieht.

4. Kontingenzerschließung in der postreligiösen Gesellschaft

Immanuel Kant hatte die R. allein noch für die Moral in Anspruch genommen: Pflichterfüllung (Pflicht) muss in jedem Fall Glückseligkeit nach sich ziehen, sonst bleibt sie kontingent und damit unsicher. Diese Reduktion ist ein Anzeichen dafür, dass die kontingenzvermindernde Funktion der R. in anderen gesellschaftlichen Bereichen in der Neuzeit immer weniger in Anspruch genommen wird. Tatsächlich haben die Funktionssysteme der neuzeitlichen Gesellschaft eigene Formen der Kontingenzminderung ausgebildet, am deutlichsten der Markt, der wie ehemals die Götter beide Seiten einer Unterscheidung sieht (Angebot und Nachfrage). Inmitten einer von Sach- und Systemzwängen reglementierten Lebenswelt wächst der R. die Aufgabe zu, Handlungs- und Freiheitsspielräume zu erschließen. Die biblisch-christliche Tradition, die von der Überwindung des Kontingenzvernichters Tod durch die Auferstehung Jesu Christi weiß und Gott als den Heiligen Geist, der lebendig macht, kennt, stellt alle Voraussetzungen für Kontingenzerschließung bereit. Ob dies dann noch unter den Begriff der R. gefasst werden kann, sei dahingestellt.

IV. Soziologische Deutungen

Abschnitt drucken

R. zu definieren, ist in den Sozialwissenschaften und darüber hinaus ein umstrittenes Unterfangen. Es gibt – beginnend mit den Klassikern der Soziologie und der R.s-Wissenschaft – zahlreiche Versuche, sich dem Gegenstand zu nähern. Dabei lassen sich zwei Arten von R.s-Definitionen unterscheiden, die in der R.s-Soziologie entweder als substantielle und funktionale R.s-Begriffe oder als gegenstandspezifische und kontextuale R.s-Definitionen bezeichnet werden. Kennzeichen gegenstandsspezifischer, substantieller R.s-Begriffe ist, dass R.en über einen für sie typischen Bezugsgegenstand definiert werden, also i. d. R. von der Existenz eines Gottes oder mehrerer Götter, von einem irgendwie gearteten höheren geistigen Wesen oder auch nur von unbegreifbaren, heiligen oder numinosen Mächten und Kräften ausgehen, und deshalb bestimmbare gemeinsame Merkmale aufweisen. Ein typisches Beispiel für substantielle R.s-Definitionen ist die für die quantitativ arbeitende empirische R.s-Forschung einflussreich gewesene Vorgehensweise von Charles Young Glock, der fünf messbare Dimensionen von R. festschrieb (the experiential dimension, the ritualistic dimension, the ideological dimension, the intellectual dimension, the consequential dimension) – eine Festschreibung, die in der Folgezeit von unterschiedlichen Forschern immer wieder ergänzt, revidiert oder variiert wurde und immer noch wird. Charakteristisch für kontextuale, funktionale R.s-Definitionen ist, dass sie R. nicht über eine irgendwie geartete transzendente, ob nun als göttlich, heilig oder numinos zu benennende Substanz zu fassen versuchen, sondern nach ihrer Funktion und Bedeutung für Mensch, Kultur und Gesellschaft fragen, also eher an der Erkenntnis der jeweils historisch besonderen sozialen, kulturellen, auch politischen und ökonomischen Zusammenhänge interessiert sind, in denen R. auftritt und soziale Wirkungen entfaltet. Typisch und maßgebend für eine solch kontextuelle Sichtweise ist die R.s-Soziologie Max Webers: „Allein wir haben es überhaupt nicht mit dem ‚Wesen‘ der Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun, dessen Verständnis auch hier nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken der Einzelnen – vom ‚Sinn‘ – aus gewonnen werden kann, da der äußere Ablauf ein höchst vielgestaltiger ist“ (Weber 1972: 245). Die theoretischen Ansätze innerhalb dieser beiden typologischen Großgruppen sind nicht nur vielfältig, es überschneiden sich oftmals auch gegenstandspezifische und kontextuale Definitionsmethoden.

Obwohl es immer wieder neue Versuche gibt, R. definitorisch zu fassen, lässt sich doch der Trend beobachten, auf eine exakte Definition zu verzichten und mit einem möglichst offenen R.s-Begriff zu operieren. Ursache dafür ist nicht nur, dass mit Globalisierung und cultural turn „neue“ R.s-Formen ins Bewusstsein gerückt sind, die sich der ganz wesentlich am christlichen R.s-Modell entwickelten Merkmalsliste entziehen. So hat schon Joachim Matthes früh darauf hingewiesen, dass die für das westliche R.s-Verständnis grundlegende, auf Émile Durkheim zurückgehende Unterscheidung von „heilig“ und „profan“ in östlichen Kulturkreisen so nicht existiert. Ursache ist aber auch, dass mit der Säkularisierung und den damit einhergehenden De-Institutionalisierungsprozessen, von denen insb. die christlichen Kirchen, v. a. in Europa, betroffen sind, die Frage auftauchte, ob Phänomene wie die seit dem 18. Jh. sich entwickelnden politischen und wissenschaftlichen Weltanschauungen (vom Liberalismus über den Kommunismus bis hin zu den vielfältigen Formen des Nationalismus, von den Wissenschafts-R.en des Positivismus oder des Monismus bis zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen bürgerlicher Humanitäts- und Kunst-R.) als R.en gefasst werden können, oder ob man sie von den „klassischen“ R.en (als religiöse Surrogate oder Ersatz-R.en) unterscheiden müsse. Die Frage wird bis heute kontrovers diskutiert. Allerdings neigt man inzwischen dazu, entweder den für R. von fast allen Forschern als konstitutiv angesehenen Transzendenzbezug i. S. der Lehre Thomas Luckmanns von den drei Transzendenzen so weit zu interpretieren, dass er jede Art von „symbolische[n] Sinnwelt[en]“ (Berger/Luckmann 1980: 103) (also auch die oben genannten „Weltanschauungen“) mit einbezieht, Transzendenz also nur an situative außeralltägliche, charismatische Erfahrungen (Charisma) zu binden, die nicht unbedingt einen expliziten „Transzendenzbezug“ i. S. d. Ausbildung einer „jenseitigen Welt“ aufweisen müssen. Oder man geht mit dem Definitionsproblem rein pragmatisch um, erkennt R. dort, wo Menschen von R. sprechen und arbeitet – angelehnt an die Wissenschaftslehre M. Webers – mit idealtypischen Arbeitsbegriffen. Um es mit Wolfgang Eßbach zu formulieren: „Überall dort, wo vergesellschaftete Individuen, insbesondere Intellektuelle, etwas als religiös bezeichnen oder unsicher sind, ob eine Sache etwas mit Religion zu tun hat, wo darüber gestritten wird, ob es Religion ist oder nicht“ (Eßbach 2014: 17), beginnt die Arbeit sozialwissenschaftlicher R.s-Forschung.

Obwohl sich die sozialwissenschaftliche R.s-Forschung heute – jedenfalls in ihrer überwiegenden Mehrheit – der Aufgabe einer eindeutigen und umfassenden Definition von R. aufgrund wissenschaftstheoretischer Prämissen weitgehend entzieht, hat sie doch eine erfahrungsgesättigte Vorstellung von ihrem Gegenstand, den sie allerdings nur idealtypisch zu greifen vermag. Wichtig ist dabei v. a. die Unterscheidung von R. als Macht ausübende Institution und R. als Religiosität. R. als Institution lässt sich dann idealtypisch beschreiben als ein für einen angebbaren Personenkreis geltendes, i. d. R. von religiös qualifizierten Experten (vom Schamanen bis zum Universitätstheologen) verwaltetes, konsistentes und in einer geglaubten Wirklichkeit verwurzeltes System von

a) Überzeugungen, „letzten Werten“ und „letzten Wahrheiten“, von

b) sich darauf aufbauenden ethischen und moralischen Vorstellungen von einem „guten“ und „richtigen Leben“ sowohl was das individuelle wie auch das gemeinschaftliche Sein betrifft, von

c) sich i. d. R. daraus ableitenden oder wenigstens sich dadurch legitimierenden Normen (Recht, Sitte, Brauch), Handlungsanweisungen (Kulte, Feste, Rituale, Gebete) und mehr oder weniger stark hierarchisch strukturierten Sozialformen (Kult- und Ritualgemeinschaften bzw. -bewegungen, Sekten oder Kirchen), sowie

d) ihren jeweiligen materiellen Objektivationen in Kleidung, Körpersymbolik, Musik, Kunst, Literatur und Architektur.

R. als Religiosität lässt sich v. a. in Anschluss an M. Weber, Georg Simmel und William James als die Summe der Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von Menschen, die von sich selbst glauben, in einer Beziehung zu etwas „Außeralltäglichem“, als „übermenschlich“ Gedachtem, Schicksalshaftem und deshalb vielleicht „Göttlichem“ zu stehen. Gemeint sind damit unmittelbare, persönliche Erlebnisse, die i. d. R. als „verzaubernde“ oder „charismatische“ Erfahrungen beschrieben und heute oftmals mit dem Begriff der „Spiritualität“ wiedergegeben werden. Beide Gegenstandsbereiche, R. als Institution und R. als Religiosität, stellen eigenständige Wirklichkeitsbereiche dar, können miteinander konkurrieren, wie bspw. die Geschichte der katholischen Volksfrömmigkeit zeigt, sind aber in vielfältiger und historisch variabler Weise miteinander verbunden.