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− | Gottfried Wilhelm Leibniz vertritt dagegen eine essentialistische Variante des D. Er behauptet, dass der Natur einer individuellen Substanz ein durchgängig bestimmter Begriff entspricht, aus dem prinzipiell alle Wahrheiten über das Universum abgeleitet werden können. Nach G. W. Leibniz ist der essentialistische D. aber mit menschlicher Willensfreiheit vereinbar, weil aufgrund der | + | Gottfried Wilhelm Leibniz vertritt dagegen eine essentialistische Variante des D. Er behauptet, dass der Natur einer individuellen Substanz ein durchgängig bestimmter Begriff entspricht, aus dem prinzipiell alle Wahrheiten über das Universum abgeleitet werden können. Nach G. W. Leibniz ist der essentialistische D. aber mit menschlicher Willensfreiheit vereinbar, weil aufgrund der [[Natur]] einer individuellen Substanz zwar alle Wahrheiten über das Universum gewiss eintreten und deshalb „hypothetisch“ oder mit Rücksicht auf den vorausgesetzten Begriff „notwendig“, aber noch nicht auch „im absoluten Sinne notwendig“ sind. G. W. Leibniz bestreitet, dass in einem hypothetisch notwendigen Zusammenhang die Verknüpfungsweise der Folge mit ihren Voraussetzungen stärkeren Halt vermittelt als die Voraussetzungen, an denen sie hängt. |
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:07 Uhr
Der D. ist allgemein genommen eine These über den Zusammenhang einzelner Systemelemente mit den Zuständen eines Systems. Er behauptet zunächst nur, dass alle Zustände eines Systems durch einzelne Systemelemente eindeutig (oder „funktional“) festgelegt sind. Verhält sich ein System deterministisch, dann ist eine unübersehbare Vielzahl in Frage kommender Systemzustände durch eine möglichst geringe Anzahl von bes. relevanten Systemelementen und deren Verhalten (= den sogenannten Determinanten dieses Systems) festgelegt (Systemtheorie). Dadurch ergibt sich die hohe wissenschaftliche Attraktivität des D.
Für gewöhnlich ist der D. eine Aussage über logische Zusammenhänge zwischen Beschreibungen einzelner Zustände des Universums. Der naturgesetzliche D. besagt etwa, dass die Beschreibung eines beliebigen Zustands des Universums aus der Beschreibung eines anderen Zustands des Universums zusammen mit den Naturgesetzen logisch folgt. Der theologische D. behauptet dagegen, dass die Beschreibung eines beliebigen Zustands des Universums aus einer Beschreibung göttlichen Vorherwissens logisch folgt.
Oft wird der D. aber auch als Aussage über den kausalen Zusammenhang zwischen einzelnen Ereignissen im Universum aufgefasst. Nach dem kausalen D. ist jedes beliebige Ereignis im Universum durch andere Ereignisse im Universum verursacht. Während der kausale D. eine zeitliche Richtung unterstellt und alle Determinanten früher stattfinden als das, was durch sie festgelegt wird, gilt diese Einschränkung für den logischen D. nicht. Da zudem verursacht zu sein noch nicht bedeutet, dass die zugehörige Wirkung durch die Ursache auch hinreichend bestimmt wird, erscheint die Rede von einem einfachen kausalen D. vielen Philosophen als fragwürdig. Der kausale D. darf außerdem nicht mit dem Prinzip der kausalen Geschlossenheit des Physischen verwechselt werden. Das Prinzip der kausalen Geschlossenheit des Physischen besagt, dass alle Ursachen eines physikalischen Ereignisses selbst physikalische Ereignisse sind. Damit ist aber noch keine Aussage darüber verbunden, ob der physikalisch-kausal abgeschlossene Zusammenhang „deterministisch“ ist oder nicht.
Schon seit der Antike wird diskutiert, ob der D. die Notwendigkeit aller Geschehnisse zur Folge hat. Aristoteles stellt etwa die Frage, ob die morgige Seeschlacht notwendig ist, wenn es jetzt schon wahr ist, dass sie eintreten wird. Und viele Stoiker gehen aufgrund der kausalen Verkettung aller Ereignisse von einem unvermeidlichen Schicksal aus.
Fraglich ist außerdem, ob der D. mit menschlicher Willensfreiheit vereinbar ist. Spätestens seit Augustinus rückt die Frage nach der Vereinbarkeit von theologischem D. und menschlicher Willensfreiheit in den Vordergrund und eine sachliche Unterscheidung zwischen Determination und Kausalität zeichnet sich ab. Augustinus verweist darauf, dass göttliches Vorherwissen und menschliche Willensfreiheit miteinander vereinbar sind, weil göttliches Vorherwissen die freie Willensentscheidung des Menschen weder in der Sache erzwingt noch an Zustandekommen oder Durchführung der Entscheidung kausal beteiligt ist, obwohl es gewiss ist, dass die freie Willensentscheidung des Menschen so eintritt wie Gott sie vorhersieht.
Die Debatte um die Vereinbarkeit von theologischem D. und menschlicher Willensfreiheit erreicht in der Tradition des Mittelalters ein beachtenswertes Niveau an logischer Stringenz und begrifflicher Differenziertheit. Um für die Vereinbarkeit von theologischem D. und menschlicher Willensfreiheit zu argumentieren, beruft sich Thomas von Aquin auf die Unterscheidung von „Notwendigkeit der Folge“ und „Notwendigkeit des Folgenden“ (Thomas von Aquin 2013: Kap. 67, 254). Diese Unterscheidung beruht auf der Tatsache, dass die bloße Notwendigkeit eines Folge-Zusammenhangs nicht ausreicht, um auf die Notwendigkeit dessen, was folgt, zu schließen. Wilhelm von Ockham beruft sich darüber hinaus auf die Unterscheidung von Aussagen, die „dem Wort und der Sache nach“ Aussagen über die Vergangenheit sind, und Aussagen, die „nur dem Wort nach“ Aussagen über die Vergangenheit eigentlich aber Aussagen über die Zukunft sind (De Praedestinatione: supp. 3, 46–47). Aufgrund dieser Unterscheidung kann nämlich verneint werden, dass alle Wahrheiten (Wahrheit) allein aufgrund ihres logischen Zusammenhangs mit Aussagen über das Vorherwissen Gottes notwendig sind, da Aussagen über das Vorherwissen Gottes allenfalls „dem Wort nach“ Aussagen über die Vergangenheit sind und deshalb keinesfalls jetzt schon für zwingend notwendig gehalten werden müssen (wie Aussagen, die auch „der Sache nach“ Aussagen über die Vergangenheit sind). Beide Unterscheidungen haben große Auswirkung auf die zeitgenössische Debatte.
Gottfried Wilhelm Leibniz vertritt dagegen eine essentialistische Variante des D. Er behauptet, dass der Natur einer individuellen Substanz ein durchgängig bestimmter Begriff entspricht, aus dem prinzipiell alle Wahrheiten über das Universum abgeleitet werden können. Nach G. W. Leibniz ist der essentialistische D. aber mit menschlicher Willensfreiheit vereinbar, weil aufgrund der Natur einer individuellen Substanz zwar alle Wahrheiten über das Universum gewiss eintreten und deshalb „hypothetisch“ oder mit Rücksicht auf den vorausgesetzten Begriff „notwendig“, aber noch nicht auch „im absoluten Sinne notwendig“ sind. G. W. Leibniz bestreitet, dass in einem hypothetisch notwendigen Zusammenhang die Verknüpfungsweise der Folge mit ihren Voraussetzungen stärkeren Halt vermittelt als die Voraussetzungen, an denen sie hängt.
Baruch de Spinoza schließt dagegen aus einer pantheistischen Version des kausalen D. auf die Notwendigkeit aller Dinge. Sein Gedankengang geht von der Voraussetzung aus, dass alle Wirkungen immer mit Notwendigkeit aus ihren Ursachen folgen müssen: Wenn dies so ist und zugleich die eine notwendige Substanz die erste Ursache aller Dinge ist, sind alle Dinge notwendig. Doch bleibt im Gedankengang B. de Spinozas unbegründet, warum Ursachen nicht nur dazu führen, dass genau die Wirkung eintritt, die eintritt, sondern warum dies generell ein Zusammenhang der Notwendigkeit sein soll.
Mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften gewinnt der naturgesetzliche D. an Bedeutung. Ausgehend vom Vorbild der newtonschen Mechanik formuliert Pierre-Simon Laplace eine epistemische Variante des naturgesetzlichen D. Er behauptet, dass vollständige Kenntnis eines Zustands des Universums zusammen mit vollständiger Kenntnis aller Naturgesetze erlauben würde, alle zukünftigen Zustände des Universums vorherzusagen. Von daher leitet sich die häufig vertretene Meinung ab, dass eine Berechenbarkeit des Ausgangs von Entscheidungen oder Handlungen nicht mit ihrer Freiheit kompatibel sein können. Diese Frage stellt sich als moderne Variante des alten Problems vom göttlichen Vorherwissen dar.
Auch Immanuel Kant vertritt eine Variante des naturgesetzlichen D. insofern er die Ableitbarkeit aller Begebenheiten aus vorhergehenden Begebenheiten und Naturgesetzen postuliert. I. Kant möchte der seiner Meinung nach drohenden Freiheitsverneinung allerdings dadurch entgehen, dass er zwischen den Dingen als Erscheinung einerseits (welche dem naturgesetzlichen D. unterliegen) und Dingen an sich andererseits (die nicht unter dieser Hypothek stehen müssen) strikt unterscheidet.
Obwohl für gewöhnlich angenommen wird, dass der naturgesetzliche D. mit der modernen Quantenphysik unvereinbar ist, steht in der zeitgenössischen Debatte dennoch meist die Frage nach der Vereinbarkeit von naturgesetzlichem D. und menschlicher Willensfreiheit im Vordergrund. Moderne Theorien folgen in dieser Debatte teils der Auffassung, dass ein naturgesetzlicher D. die Freiheit ausschließen müsste, teils widersprechen sie dieser Auffassung und zeigen, dass das Konsequenzargument sein Argumentationsziel doch nicht logisch zwingend erreicht.
Literatur
Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles, 2013 • K. Vihvelin: Causes, Laws, and Free Will, 2013 • L. Zagzebski: The Dilemma of Freedom and Foreknowledge, 1991 • M. Planck: Vom Wesen der Willensfreiheit, in: U. Pothast (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus, 1987, 272–293 • J. Earman: A Primer on Determinism, 1986 • B. Russell: On the Notion of Cause, in: ders.: Mysticism and Logic, 1986, 173–199 • P. van Inwagen: An Essay on Free Will, 1983 • G. W. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, in: H. H. Holz (Hg.): Philosophische Schriften, Bd. 3, Kap. 21, 1985, 240–351 • G. E. M. Anscombe: Causality and Determination, 1971 • Augustinus: De libero arbitrio, 1970 • I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 1958.
Empfohlene Zitierweise
T. Buchheim, M. Hausmann: Determinismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Determinismus (abgerufen: 23.11.2024)