Systemtheorie
1. Systeme und Komplexität
S. ist gerade im Bereich der Sozialwissenschaften kein einheitliches und integriertes Forschungsgebiet. Prägend ist jedoch die soziologische S. Niklas Luhmanns, auf die hier eingegangen wird. Luhmann hat zum einen seine Bezüge zur allgemeinen S. deutlich herausgearbeitet, so dass sich die Besonderheiten seiner Theoriearchitektur so klar wie bei keiner anderen Variante beurteilen lassen. Zum anderen wird Luhmanns S. bes. breit und disziplinübergreifend rezipiert.
Mit Blick auf die allgemeine S. sind drei Theorieentscheidungen bes. folgenreich. Erstens ist die Theorie sozialer Systeme nicht im Verfahren der Analogiebildung entstanden. Es wurden also nicht etwa Beschreibungen biologischer Systeme unmittelbar auf soziale Systeme übertragen. Zweitens wurde die Input-Output-Unterscheidung als Basis des Systembegriffs verworfen, womit auch technologische Systembeschreibungen ausgeschlossen sind. Drittens wurde die Rezeption der allgemeinen S. auf solche Theorieelemente fokussiert, die die Operationen der Systembildung und der Systemdynamik in den Vordergrund rücken.
Verschränkt man die drei Entscheidungen, so lassen sich die Bedingungen für die Anwendung von S. in einer Art Anweisung zusammenfassen: Nenne den spezifischen Operationstyp, der das System hervorbringt, das Du beobachten willst. Diese Aufforderung wirkt als scharfe Beschneidung. Ausgegrenzt werden alle „Systeme“, die ein Beobachter aus selbstgewählten Elementen ganz nach eigenen Analysebedürfnissen zusammenstellt. Stattdessen gilt: Jedes Operieren – sei es ein physikalisches, biochemisches, physiologisches, psychisches oder ein soziales – spaltet die Welt und teilt sie ein in das, was durch die Operation geschieht, und das, was ohne sie geschieht. Wenn sich Operationen gleichen Typs verketten, erzeugen sie eine Grenze. Es erscheint eine Differenz zwischen System und Umwelt. Das wichtigste Produkt der Grenzziehung wird mit einer der wohl bekanntesten Formeln von Luhmann als „Reduktion von Komplexität“ (Luhmann 1984: 12) bezeichnet; eine Leistung, die immer nur systemrelativ verstanden werden kann. Die Innenseite der Grenze ist nicht etwa das System. Sie ist geregelte Komplexität, während die Außenseite die unfassbare Komplexität der Welt bezeichnet. Das System selbst ist die Einrichtung und Aufrechterhaltung der Grenze, die beide Komplexitäten voneinander trennt und, als Grenze, aufeinander bezieht. S. ist nicht die Theorie eines besonderen Objekts genannt „System“. Sie ist die Theorie einer spezifischen Differenzierung und müsste korrekt eigentlich System/Umwelt-Theorie heißen.
2. Kommunikation und soziale Systeme
Für den Bereich sozialer Systeme heißt der grenzbildende Operationstyp Kommunikation: „Eine Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein. Wie jede Operation, wie auch eine solche des Lebensvollzugs oder des Denkens, bewirkt die Kommunikation eine Zäsur. Sie sagt, was sie sagt; sie sagt nicht, was sie nicht sagt. Sie differenziert. Wenn weitere Kommunikationen anschließen, bilden sich auf diese Weise Systemgrenzen, die den Schnitt stabilisieren“ (Luhmann/Fuchs 1989: 7).
Hier sind die beiden anderen Formen von Systembildung genannt, die für soziale Systeme relevant sind: Leben und Bewusstsein. Ihre Operationen vollziehen sich außerhalb von Kommunikation, was aber nicht besagt, sie seien für Kommunikation unwichtig. Keine Kommunikation könnte sich ohne die Inanspruchnahme von Bewusstsein realisieren. Die Systeme des Lebens (Organe, Muskeln, Nerven, Gehirne) operieren in der Form der Zellreproduktion. Psychische Systeme operieren als Verkettung von Wahrnehmungen (Binnen- und Außenwahrnehmungen). Unter der Zusatzbedingung, dass die Wahrnehmungen fortlaufend mit Zeichen durchsetzt und durch sie strukturiert werden, kann man von Bewusstsein sprechen und dessen Operieren „Denken“ nennen. Die Funktion von Kommunikation ergibt sich daraus, dass lebende Systeme und psychische Systeme gerade nicht vorab durch ein höheres System koordiniert sind. Wir kommunizieren, weil wir einander nicht durchschauen.
Der Kommunikationsbegriff lässt sich entlang dreier Stufen definieren, die sich wechselseitig erläutern. Auf der ersten Stufe kann man sagen: Kommunikation ist die „kleinste noch negierbare Einheit“ (Luhmann 1984: 212). Diese Bestimmung ist die einfachste, weil sie unabhängig davon funktioniert, ob die Operationen der Kommunikation dezidiert beobachtet werden oder nicht. Die Kommunikation lässt sich durch ihr Resultat vertreten. Sie produziert eine Art Signal oder Symbol, das dazu auffordert, ein „Nein“ zu artikulieren oder solch ein „Nein“ durch ein „Ja“ zu verneinen. Wann immer sich ein Bewusstsein von der Zumutung befallen sieht, Ablehnung oder Zustimmung auszudrücken, kann ein Beobachter davon ausgehen, dass Kommunikation stattgefunden hat.
Auf einer zweiten Stufe kann Kommunikation als Prozessieren von Formen begriffen werden. Damit ist festgehalten, dass ihr Einzugsbereich weit über sprachliche Kommunikation hinausreicht. Jede Form nonverbaler Kommunikation ist eingeschlossen: Gestik und Mimik, Bilder, Toncollagen, Kunstwerke, computergenerierte Formen usw. Auch Handlungsketten bilden Formen. Außer durch Interaktionsepisoden werden Handlungsketten v. a. durch Kommunikationsmedien wie Geld, Macht, Wahrheit, Recht, Kunst und Liebe gestiftet.
Auf einer dritten Stufe kann Kommunikation als „Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen“ (Luhmann 1984: 203) definiert werden. Mit dem Verweis auf Information ist gesagt, dass ein Sozialsystem alles thematisieren könnte, was in der Welt der Fall ist, gewesen sein und noch werden könnte. Die Welt ist für ein Sozialsystem also nicht weniger wichtig als das System selbst. Im Hinblick auf die Informationsfunktion heißt die Welt: Umwelt des Systems. Die Selektionskomponente der Mitteilung steht für den immer mitlaufenden Selbstbezug von Kommunikation. Während man sich Informationen auch jenseits sozialer Systeme vorstellen kann, gilt dies für Mitteilungen nicht. Was immer sie mitteilen: Sie setzen Kommunikation und damit das soziale System fort. Die Selektion des Verstehens schließlich bezieht das Eine auf das Andere, die Information auf die Mitteilung und umgekehrt. Verstehen vollbringt das W under, die Einheit einer Mitteilung aufzuspalten in die Zweiheit von Information und Mitteilung. Dabei sind die Ansprüche an Verstehen asketisch gehalten. Sie fordern keine hermeneutische und psychologische Korrektheit und erst recht kein Einverständnis mit dem Verstandenen. Es genügt, Information von ihrer Mitteilung zu unterscheiden und beides aufeinander zu beziehen. Jedes Verstehen öffnet die Möglichkeit, zustimmend oder ablehnend zu reagieren. Hiermit schließt sich der Kreis zur ersten Definition, nach der die Verneinung als Kleinsteinheit von Kommunikation gelten kann.
3. Funktionale Differenzierung am Beispiel der Politik
S. wird normalerweise eher mit Gesellschaftstheorie als mit Kommunikationsanalysen verknüpft. Bekannt ist v. a. Luhmanns These, die moderne Gesellschaft sei funktional differenziert in autonome Systeme für Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Gesundheit, Familie, Religion und Massenkommunikation. Doch der Schritt von Kommunikation zu Gesellschaft ist kürzer, als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Beide Begriffe umfassen denselben Phänomenbereich. Jede Kommunikation vollzieht Gesellschaft. Mit jedem neuen Thema und mit jedem neuen Kommunikationspartner erweitern sich die Grenzen der Gesellschaft. Mit jedem Fallenlassen von Themen und Partnern schrumpfen sie. Umgekehrt gilt: Gesellschaft wird ausschließlich durch Kommunikation gebildet. Gesellschaft ist kein Additionssystem, das sich aus Kommunikationen plus Handlungen plus Rollen plus Personen plus Institutionen zusammensetzt. Denn dann müsste man den Zusammensetzer finden sowie die mysteriöse Operation, die die Additionen vollzieht. Handlungen, Rollen, Personen und Institutionen kommen durchaus vor. Aber ihre jeweilige Identität und Funktion werden durch Kommunikation für Kommunikation bestimmt. Was Kommunikation von Gesellschaft unterscheidet (und deswegen einen eigenen Begriff erfordert), ist ihr Potential, innerhalb der Gesellschaft Grenzen einzuziehen. Am Beispiel des Funktionssystems der Politik ist das darstellbar.
Die Grenzziehung der Politik erfolgt im Kommunikationsmedium der Macht. Macht entsteht, wenn die Differenz von Information und Mitteilung eine spezifische Prägung erhält. Die Information nimmt die Form der Drohung an. Als Macht kann eine Drohung nur fungieren, wenn sie an eine Anweisung gekoppelt wird, deren Befolgung die Ausführung der Drohung vermeidet. Die Anweisung besetzt die Funktionsstelle der Mitteilung. Der Machtunterworfene muss den Zusammenhang von Drohung und Anweisung verstehen, um sich überhaupt als Ziel einer Machtaktion begreifen zu können. Jede Machtausübung ist durch diese Art von Verstehen und nicht allein durch ihr Drohpotential limitiert. Wenn der Schwächere nicht erkennt, welchen Gefahren er ausgesetzt ist und wie er sie vermeiden kann, hat der Stärkere zwar Gewalt, nicht aber Macht über ihn. Ist die Drohung deutlich genug erkennbar, dann kann sich die Anweisung gut auch als W unsch oder Bitte tarnen. Moderne Macht und alle komplexen Machtstrukturen entfalten ihre spezifischen Wirkungen dadurch, dass ihre Drohungen nicht primär aus potentiellen Bestrafungen bestehen, sondern aus dem Entzug von Vorteilen. Beispiele wären der Entzug von Erwerbsquellen, von Aufenthaltsberechtigungen oder sonstigen Anspruchstiteln. Macht wird zum Medium der Kommunikation, wenn die Beziehungen zwischen Drohungen und Anweisungen variiert werden können; wenn also dieselbe Drohung für sehr verschiedene Anweisungen investiert oder dieselbe Anweisung mit wechselnden Drohpotentialen gedeckt werden kann. Nur auf diese Weise kann Macht über verschiedene Kommunikationspartner und Situationen hinweg stabil gehalten werden und lässt sich die Funktion der Politik erfüllen: die Herstellung und Stabilisierung kollektiv bindender Entscheidungen.
Macht bildet sich in allen Sozialsystemen, soweit sie sich zeitlich stabilisieren und für die Beteiligten Vorzüge bieten, deren Ausfall bedrohlich wirken könnte. Zur Entstehung eines Mediums Macht, das für unterschiedliche Kombinationen aus Drohungen und Anweisungen trotz ständigem Kombinationswechsel dauerhaft zur Verfügung steht, kommt es jedoch nur, wenn eine genau auf Macht zugeschnittene binäre Codierung entsteht. Binäre Codierungen übernehmen jeweils für ihre Spezialbereiche die Funktion, sowohl Annahme als auch Ablehnung verständlich kommunizieren zu können. Der einfachste, weil technisch klarste Fall ist der binäre Code der Wirtschaft: zahlen oder nichtzahlen. Wenn ein Preis für eine quantitativ-qualitativ bestimmte Leistung genannt wird, kann jeder (Käufer, Verkäufer wie jeder Dritte) verfolgen, ob gezahlt wird oder nicht. Dann kann er seine eigenen Folgehandlungen auf das Geschehen einstellen. Im Vergleich zum Geldcode (Geld) hat kein anderer Code solch eine Deutlichkeit hervorbringen können.
In allen anderen Medienbereichen braucht es aufwändigere Stützeinrichtungen. Für das Medium der Macht ist die wichtigste davon die Form des Amtes: als einzelnes Amt, als zusammengefasste Ämterstruktur einer Bürokratie und als inter-bürokratische Regulierung von amtlichen Zuständigkeiten. Seit Max Weber wird nach der Rationalität und der Legitimität dieses modernen Phänomens gefragt. Systemtheoretisch ist jedoch die Einrichtung eines speziellen System-Umwelt-Verhältnisses ausschlaggebend. In Form ihrer diversifizierten Zuständigkeiten greift die Amtsmacht in alle Belange des Lebens ein. Sie besorgt damit den Umweltkontakt der Politik und erzeugt mit dem, was an Folgen amtlichen Handelns registriert wird, Informationen für das politische System. Aber die politische Kommunikation selbst ist ausschließlich an der Variation der Ämterstrukturen orientiert. Ihr Code lautet „Amtsmacht haben/keine Amtsmacht haben“. Das betrifft sowohl die Besetzung von Ämtern als auch die Programmierung des Amtshandelns in Form von Rechtsetzung, Budgetzuteilungen und direkten Anweisungen entlang der Ämterhierarchien. Während die Machtbetroffenen (und ihre Reaktionen) auf die Umwelt des politischen Systems verweisen, identifiziert sich eine Mitteilung dadurch als politisch, dass sie sich an der Differenz von Amtsmacht/ohne Amtsmacht orientiert und eine Option innerhalb dieser Unterscheidung zu erkennen gibt; eine Option, auf die sich die Anschlusskommunikation annehmend oder ablehnend berufen kann. Auf diese Weise schließt sich ein System, hier das System der Politik. Eine Kommunikation, die nicht als am Machtcode orientiert erkannt werden kann, findet keinen Anschluss. Umgekehrt wird jede Kommunikation eingeschlossen, der Code-Relevanz beigemessen wird.
In jenen Territorien der Weltgesellschaft, die die Variation der Machtstrukturen dem in sich selbst machtlosen Recht unterworfen haben (mittels Verfassung, Rechtsstaatlichkeit [ Rechtsstaat ] und Gewaltenteilung), konnte der Machtcode mit der Distinktion von Regierung und Opposition nochmals verallgemeinert, abstrahiert, schematisiert und symbolisiert werden: als rechtlich kodifizierter Wechsel in der Besetzung der (Spitzen-)Ämter. Allein dank dieser Hochabstraktion wird Politik öffentlichkeits-, diskurs- und demokratiefähig. Aber die weltgesellschaftliche Durchsetzung dieser Verallgemeinerung scheint mehr als fraglich, tauchen doch selbst in ihren Ursprungsregionen immer wieder Anzeichen der Zerbrechlichkeit auf. Für systemtheoretische Analysen der weltpolitischen Lage ist es also ratsam, die grundlegende Codierung von Amtsmacht/ohne Amtsmacht im Blick zu behalten. Die systemtheoretische These von der Ausdifferenzierung eines politischen Systems geht auf diese Codierung zurück. Sie wird nicht dadurch widerlegt, dass die Massenmedien über Gespräche und Machenschaften zwischen sogenannten „Vertretern“ von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Künsten, Erziehung usw. berichten. Sie müsste erst dann aufgegeben werden, wenn der Nachweis gelänge, dass der Code Amtsmacht/ohne Amtsmacht kollabiert und nicht mehr in der Lage sei, verständlich zu machen, welche Änderung von Machtverhältnissen politisch anzunehmen oder abzulehnen sei.
4. Systemtheorie jenseits Luhmanns
Für die Theorieentwicklungen, die mit Luhmanns Wirken verbunden sind, ist die Bezeichnung „S.“ zugleich hilfreich und hinderlich: hilfreich, weil sie im disziplinären Umfeld jahrzehntelang für eine klare Erkennbarkeit gesorgt hat; hinderlich, weil der Name „S.“ die Theoriedarstellung einseitig verzerrt und zudem radikale Brüche mit den Frühformen der S. verdeckt. Luhmanns Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (1997) macht klar, dass S. nur eine von drei Theoriesäulen bereitstellt. Es müssen sowohl Kommunikationstheorie als auch Evolutionstheorie (Evolution) als eigenständige Theorien hinzutreten, um den Gesamtbereich des Sozialen und seine Geschichtlichkeit abzudecken.
Anders als etwa bei Talcott Parsons oder in den S.n von David Easton und Karl Wolfgang Deutsch, dient Luhmanns Systembegriff nicht zur Ordnung von vorgegebenen Phänomenen. Er ist nicht „rein analytisch“ gemeint, sondern bezeichnet ein reales Phänomen, das ohne den Begriff nicht beobachtet werden könnte. Noch größer ist die Distanz zu allen S.-Varianten, die nach den Mustern der klassischen Kybernetik mit ihren Input-Output- und Feedback-Modellen gebaut sind.
Man kann die Bruchstellen zu anderen S.n an drei Begriffen studieren, die nach dem Erscheinen von „Soziale Systeme“ (1984) bes. diskutiert wurden.
a) Die Adaption von Autopoiesis aus einer biologischen Diskussion hat für die größte Aufregung gesorgt. Dabei betonte Luhmann stets, der Begriff diene nicht zur Erklärung, sondern zur Markierung eines Problems: Wie gelangen Systeme, die aus Elementen bestehen, die in ihrem Auftauchen bereits wieder verschwinden (Gedanken respektive Kommunikationen), zu ihrem jeweils nächsten Element? Mit Autopoiesis, was nichts anderes heißt als Selbstproduktion, wird lediglich der Gedanke an eine externe Schöpfung (durch Gott, ein Subjekt oder natural selection) abgelehnt, und wird der Theoretiker darauf festgelegt, sich auf die Operationen des Systems einzulassen, das ihn interessiert.
b) Der Begriff der strukturellen Kopplung antwortet auf die Frage, wie ein System mit den Kausalitäten umgehen kann, denen es auf der Ebene seiner infrastrukturellen Bedingungen unterworfen ist. Ohne Luft zum Atmen und zum Sprechen gäbe es keine Kommunikation, ohne dass Kommunikation die Luft selber herstellen könnte. Aber sie muss und kann sich so einrichten, dass den Sprechern genügend Luft zum Atmen bleibt. Das Kommunikationsmedium Sprache ist auf dieses Erfordernis abgestimmt. Es lässt dabei auch noch Assoziationen des Bewusstseins zu und ist deshalb das bevorzugte Kopplungsmedium zwischen Kommunikation und Bewusstsein.
c) Der Begriff der doppelten Kontingenz kann als Formalisierung des Begriffs der sozialen Situation gelesen werden. Wenn A sich auf B einstellen will und dabei erkennt, dass B sein Verhalten auf A einstellt, dann ändert As Verhalten nicht nur sein Verhältnis zur Welt (einfache Kontingenz), sondern zugleich seine eigenen künftigen Verhaltensmöglichkeiten (doppelte Kontingenz) – und dasselbe gilt für B, so dass wir es eigentlich mit einer vierfachen Kontingenz zu tun haben. In der Rezeption wird Kommunikation oft als Lösung dieses Problems ausgegeben. Doch Kommunikation löst nicht doppelte Kontingenz. Sie setzt sich an die Stelle der doppelten Kontingenz und verdeckt sie, sofern diese Besetzung funktioniert. Die Theorie hält solch ein Gelingen für eher unwahrscheinlich und den Kommunikationsabbruch für normal. Was gegen den Zerfallstrend eine Fortführung erreicht, nennt die Theorie ein soziales System. Zur politikwissenschaftlichen Konkretisierung der S.: politisches System.
Literatur
P. Fuchs: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins. Die Person – die Psyche – die Signatur, 2003 • N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, 2000 • Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Teilbde., 1997 • Ders.: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, 41994 • Ders.: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: ders.: Soziologische Aufklärung 3, 21991, 25–34 • Ders./P. Fuchs: Reden und Schweigen, 1989 • N. Luhmann: Macht, 21988 • Ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984 • H. R. Maturana/F. J. Varela: Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living, 1980 • T. Parsons: Zur Theorie sozialer Systeme, 1976 • K. W. Deutsch: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, 1969 • D. Easton: A Systems Analysis of Political Life, 1965.
Einführungstexte:
N. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, 2005 • P. Fuchs: Niklas Luhmann – beobachtet. Eine Einführung in die Systemtheorie, 2004 • N. Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, 2002 • G. Kneer/A. Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, 1993.
Empfohlene Zitierweise
A. Brosziewski: Systemtheorie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Systemtheorie (abgerufen: 21.11.2024)