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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:12 Uhr
1. Einleitung
Die disziplinäre Verortung der S. – präziser müsste man sagen S.s-Schreibung – ist nicht einfach, was einen Teil ihrer Attraktivität ausmacht. Zum einen ist sie eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, zum anderen hat sie fachliche Überschneidungen mit den Sozialwissenschaften, insb. der Ökonomik. Zudem hat das Fach seit den 1980er Jahren Impulse aus den Kulturwissenschaften aufgenommen. Die Übergänge zwischen der Sozial- und der Kulturgeschichte sind fließend, sodass heute die Unterscheidung zwischen Sozial- und Kulturhistorikern nicht quasi-objektiv an Untersuchungsgegenständen oder -methoden, sondern am ehesten noch am jeweiligen Selbstverständnis festgemacht werden kann. Unabhängig davon, ob sich ein Forscher als Wirtschafts-, Sozial- oder Kulturhistoriker bezeichnet, liegen sein Untersuchungsinteresse und -gegenstand typischerweise in der Vergangenheit und nicht in der Weiterentwicklung der aktuellen wirtschafts-, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Theorie. Dies gilt selbst für die meisten derjenigen Wirtschaftshistoriker, die sich eher zu den Ökonomen rechnen. Sozial- und Wirtschaftshistoriker konsumieren also mehr wirtschafts-, sozial- und kulturwissenschaftliche Begriffe, Konzepte und Methoden, als dass sie zu ihrer Schärfung oder Ausdifferenzierung, d. h. zur Theoriebildung, beitragen.
2. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Deutschland
Das Bindestrich-Fach S. hat im Grunde zwei Wurzeln. Einerseits ist es aus der allgemeinen Geschichtswissenschaft entstanden, die sich seit dem späten 19. Jh. nicht mehr nur für Politik- und Militärgeschichte interessierte, sondern auch für die Funktionsweise(n) von Gesellschaften und Wirtschaftsformen in der Vergangenheit. Andererseits, und zeitlich sogar einige Jahrzehnte zuvor, entstand es aus der Nationalökonomik, die sich selbst gerade erst aus den Kameral- und Staatswissenschaft ausdifferenziert hatte. Für die Nationalökonomen des 19. Jh. war es selbstverständlich, dass man für das Verständnis der Funktionsweisen wirtschaftlicher Zusammenhänge empirisches Material aus der Vergangenheit benötigte. Die sich seit Mitte des 19. Jh. formierende „Historische Schule“ (Historismus in der Wirtschaftswissenschaft) dominierte die Nationalökonomik in Deutschland jahrzehntelang. Ihr induktiver Theorieansatz kam jedoch schon in den 1880er Jahren in die Kritik. Junge Ökonomen forderten eine Hinwendung zu deduktiven mathematisch-formalen Methoden. Den daraus in der Ökonomik entstehenden „Methodenstreit“ entschieden die „Marginalisten“ in den angelsächsischen Staaten recht schnell für sich. In Deutschland hingegen wich die Historische Schule erst nach dem Zweiten Weltkrieg dem Siegeszug der neoklassischen Ökonomik, die lange Zeit wenig mit der S. anfangen konnte.
In der Geschichtswissenschaft stieß der Alltag als Untersuchungsobjekt bis weit ins 20. Jh. auf wenig Interesse. Erste sozial- und kulturhistorische Arbeiten, etwa von Karl Lamprecht in den 1890er Jahren, wurden nur wegen des Themas in die Nähe des Sozialismus gerückt. Zu dieser Zeit entstanden aus dem Umfeld der Historischen Schule, aber auch aus regional- und technikhistorischer Perspektive immerhin schon so viele Untersuchungen, dass 1893 zwei Historiker, ein Nationalökonom und ein Soziologe die Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte gründeten, aus der 1903 die auch heute noch erscheinende VSWG hervorging.
Während die Wirtschaftsgeschichte zunächst weiter eine Domäne der Historischen Schule (und damit der Nationalökonomik) war, kam die Sozialgeschichte in den 1930er Jahren in das Fahrwasser nationalsozialistischer Gestaltungsvorstellungen. Auch (Wirtschafts-)Historiker, insb. der v. a. auf dem Gebiet der Agrargeschichte tätige Günther Franz, vertraten in ihren Schriften dezidiert völkische Ansichten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Sozialgeschichte v. a. in den 1960/70er Jahren einen ungeahnten Aufschwung. Neben ältere Fachvertreter wie Werner Conze traten mit Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka Befürworter einer „Historischen Sozialwissenschaft“, die bald „Bielefelder Schule“ genannt wurde. Ihr ging es um eine von der soziologischen und zunächst auch ökonomischen Theorie informierte Geschichtsschreibung, die sich v. a. an der Erklärung der „Modernisierung“ abarbeitete, also dem Weg vom vormodernen Ancien Régime zum kapitalistisch-demokratischen Wohlfahrtsstaat westlicher Prägung. Insofern hatte diese Richtung der S. viele Berührungspunkte mit der in den 1960er/70er Jahren boomenden Entwicklungssoziologie und -ökonomik. Ihr publizistisches Flaggschiff war die ab 1975 erscheinende Zeitschrift GuG.
Obwohl sich etliche Vertreter der „Historischen Sozialwissenschaft“ als sozial- und gesellschaftskritisch verstanden, gab es nur wenige Berührungspunkte mit den Kollegen in der DDR. Dort hatte insb. die Wirtschaftsgeschichte im Rahmen des „Historischen Materialismus“ einen höheren Stellenwert als in der BRD, und sie fand in Jürgen Kuczynski einen charismatischen Vertreter, der auch im Westen respektiert wurde. Mit dem JbWG hatte die S. der DDR ein auch im Westen rezipiertes publizistisches Organ, das nach der Wiedervereinigung reformiert wurde und weiter erscheint.
Der Fokus der Historischen Sozialwissenschaft auf anonyme soziale und wirtschaftliche Strukturen, der nicht nur „große Männer“ außer Acht ließ, sondern auch Einzelschicksale „kleiner Leute“ – insb. auch der weiblichen Hälfte der Bevölkerung –, hinterließ eine Lücke, in die seit den 1970er Jahren Alltagshistoriker stießen. Ihre methodische Innovation, neben klassischer schriftlicher Überlieferung auch Zeitzeugeninterviews (oral history) heranzuziehen, wurde von Puristen der Historischen Sozialwissenschaft als atheoretisch abgetan. Theoriekonzepte aus den Kulturwissenschaften, v. a. aus Frankreich und den USA, lieferten jedoch denjenigen, die sich nun als Kulturhistoriker bezeichneten, das theoretische Rüstzeug in der Auseinandersetzung mit der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung. Obwohl ihr Untersuchungsgegenstand die Geschichte des Sozialen blieb, standen nun weniger sozialstatistisch beschreibbare Kategorien wie Klasse oder Schicht im Vordergrund als vielmehr Wahrnehmungsweisen, Deutungsmuster, Mentalitäten, Praktiken, Rituale, Repräsentationen, Symbole usw.
Anstatt in friedlicher Konkurrenz durch gute Studien die Vorteile des eigenen Ansatzes hervorzuheben, befehdeten sich „Sozialgeschichte“ und „Kulturgeschichte“ von den 1980er Jahren bis in die 2000er Jahre. Die auch durch persönlich und generationell geprägte Konflikte aufgeladene Debatte hat sich jedoch in den letzten Jahren beruhigt, zumal die Vertreter der klassischen Historischen Sozialwissenschaft heute nicht mehr den Anspruch aufrechterhalten können, auf dem methodischen Königsweg zu wandeln. Es ist allerdings auch diese Theorien- und Methodenvielfalt der Sozial- und Kulturgeschichte, die es schwierig macht, sie untereinander und von anderen historiografischen Teilfächern abzugrenzen.
Die zunehmende Dominanz der kulturwissenschaftlichen Ansätze in der Sozialgeschichte hat auch Auswirkungen auf die Wirtschaftsgeschichte. Sie erhielt in den 1960er Jahren zunächst Impulse aus einer ganz anderen Richtung, der amerikanischen New Economic History. Vertreter dieser Ausrichtung, in aller Regel ausgebildete Ökonomen, übernahmen Konzepte und Methoden aus der Ökonomik und wandten sie auf (wirtschafts-)historische Fragestellungen an. Dies führt(e), so ihre Kritiker, zu einer Engführung auf Fragestellungen, die sich mit quantitativen Daten beantworten lassen. In Anlehnung an die Ökonometrie nennen sich manche Vertreter dieser Richtung Kliometriker. Mit Richard Hugh Tilly übernahm einer von ihnen 1966 den wirtschaftshistorischen Lehrstuhl in Münster. Es dauerte aber noch etwa drei Jahrzehnte, bis die Kliometrie an weiteren deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten institutionell Fuß fasste.
Seit dieser Zeit muss die Wirtschaftsgeschichte mit einem tendenziell größer werdenden Spagat leben. Kliometriker bekleiden fast ausschließlich Positionen an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten. Sie unterliegen damit denselben Anreiz- und Reputationsmechanismen wie (andere) Ökonomen. Dazu zählt insb., dass Forschungsergebnisse nur dann respektiert werden, wenn sie in einschlägigen wirtschaftswissenschaftlichen oder einigen wenigen englischsprachigen wirtschaftshistorischen Zeitschriften (JEconH, EconHR, Explorations in Economic History, European Review of Economic History, Cliometrica) publiziert werden. Monographien, Artikel in Sammelbänden oder nicht in dieser Hinsicht einschlägigen Zeitschriften oder gar auf Deutsch verfasste Beiträge bringen nur wenige oder gar keine Punkte in den Rankings der Ökonomen. Obwohl der Gegenstandsbereich der Kliometriker also derselbe ist wie der nicht-kliometrisch arbeitender Wirtschaftshistoriker, sind ihre Methodik und ihr Publikationsverhalten ganz anders, was den wissenschaftlichen Austausch anspruchsvoller macht und Methodentoleranz auf beiden Seiten voraussetzt.
Die nicht mit kliometrischen Methoden arbeitenden Wirtschaftshistoriker, und das ist nach wie vor die Mehrheit, hat ebenfalls Konzepte aus den Wirtschaftswissenschaften aufgegriffen. Insb. nach der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an Robert William Fogel und Douglass Cecil North, zwei frühe Kliometriker, stieg das Interesse an der v. a. von letzterem vertretenen Neuen Institutionenökonomik. Sie bietet mit Begriffen wie Transaktionskosten, Principal-Agent-Beziehung, Corporate Governance usw. heuristische Konzepte, die nicht zwingend den Einsatz ausgefeilter statistischer Methoden erfordern und sich gut auf wirtschafts- und unternehmenshistorische Fragestellungen anwenden lassen. Auch die klassische Wirtschaftsgeschichte arbeitet also insb. seit den 1990er Jahren stärker mit ökonomischen Konzepten als zuvor, sie verzichtet jedoch auf den Einsatz kliometrischer Methoden oder stellt diese zumindest nicht in den Mittelpunkt der Analyse. Dies erlaubt ihr daher, auch zu größeren Fragen Stellung zu nehmen, die sich aufgrund ihrer komplexen Kausalbeziehungen einer statistischen Herangehensweise entziehen.
Schon vor der Rezeption der Neuen Institutionenökonomik, dann aber durch sie verstärkt, lässt sich eine deutliche Aufwertung der Unternehmensgeschichte feststellen. Die 1956 gegründete Zeitschrift Tradition wurde 1976 in ZUG umbenannt, und das Fach löste sich langsam von dem ursprünglich durchaus zutreffenden Vorwurf der Apologetik. Unternehmensgeschichte, obwohl deutschlandweit nur in drei Lehrstuhl-Denominationen enthalten (Bochum, Köln und Stuttgart), ist ein respektiertes Untersuchungsfeld geworden, dem sich viele nicht-quantitativ arbeitende Wirtschaftshistoriker verschreiben. Von Unternehmen finanzierte Auftragsforschung ist mittlerweile weithin akzeptiert, weil sich insb. universitär arbeitende Wirtschafts- oder Zeithistoriker ihr wissenschaftliches Renommée nicht durch den Vorwurf der „Weißwäsche“ ruinieren möchten.
Die um die Wende zum 21. Jh. drohende Fragmentierung des Fachs in „klassische“ und „kliometrisch“ arbeitende Wirtschaftshistoriker scheint vorerst abgewendet worden zu sein. Dazu trug auch die Tendenz sowohl in historischen als auch in wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten bei, wirtschafts- und sozialhistorische Lehrstühle durch Umwidmung abzuschaffen. In dieser bedrohlichen Situation Grabenkämpfe auszutragen, hätte das Fach weiter marginalisieren können. Mit der Finanzkrise seit 2007 ist der Trend zum Abbau wirtschafts- und sozialhistorischer Lehrstühle zudem (vorerst) gestoppt, sodass sich insb. die Wirtschaftsgeschichte durchaus als Krisengewinnerin verstehen darf.
Ausdruck des Bemühens, das Fach zusammenzuhalten, ist die erstmalige Schaffung eines gemeinsamen Forums, das sich explizit dem Theorien- und Methodenpluralismus verschrieben hat. Seit 2015 veranstalten die (eher klassisch orientierte) Gesellschaft für S. und der (eher kliometrisch orientierte) Wirtschaftshistorische Ausschuss im Verein für Socialpolitik (der Fachorganisationen der Ökonomen im deutschsprachigen Raum) alle zwei Jahre einen gemeinsamen Kongress für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, bei dem zunehmend auch Historiker aus anderen Ländern ihre Forschungsergebnisse vorstellen.
3. Perspektiven
Die S. hat in Deutschland seit den 1960er Jahren eine zunehmende Theoretisierung oder zumindest theoretische Informierung durch Impulse aus den Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaften erfahren, die ihrem Niveau zweifellos gutgetan hat. Ob sie den Spagat zwischen den Wirtschafts- und Kulturwissenschaften weiterhin halten kann, hängt von der Bereitschaft ihrer Fachvertreter ab, die eigenen Ergebnisse ohne Jargon zu kommunizieren und umgekehrt mit Kollegen zu diskutieren, die andere Theorie- und Methodenkonzepte favorisieren. In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass die weibliche Hälfte der Bevölkerung nicht nur als historiografischer Untersuchungsgegenstand, sondern – insb. in der deutschen Wirtschaftsgeschichte – auch als Forschende deutlich unterrepräsentiert ist, sowohl im Vergleich zur Ökonomik als auch zur Geschichtswissenschaft und auch im fachinternen internationalen Vergleich. Erst wenn dieses Manko behoben ist, wird das Fach sein Potential, den historischen Alltag aus sozioökonomischer Perspektive zu beschreiben und zu analysieren, voll ausschöpfen können.
Literatur
B. Hitzer/T. Welskopp (Hg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte, 2018 • J.-O. Hesse: Wirtschaftsgeschichte, 2013 • M. Spoerer/J. Streb: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 2013 • C. Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, 2011 • H. Kaelble: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, 2007.
Empfohlene Zitierweise
M. Spoerer: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sozial-_und_Wirtschaftsgeschichte (abgerufen: 22.11.2024)