Kulturwissenschaft
K. hat keinen eindeutig bestimmbaren disziplinären Ort im traditionellen universitären Fächerkanon und verändert sich in Definition und Bedeutung im Laufe der modernen Wissenschaftsgeschichte immer wieder. Wenn die Ethnologie, angeführt von den amerikanischen cultural anthropologists Franz Boas, Ruth Benedict, Bronislaw Malinowski und Margaret Mead die klassische Ausprägung der K. darstellt, die archaische Gesellschaften erforscht, so machen ab 1960 die britischen cultural studies mit ihrem Zentrum an der Universität Birmingham den ersten Schritt in die Moderne. Er besteht in der Überwindung der Ethnizität. War die Ethnologie nur an völkischen Gebilden interessiert, so untersuchten Raymond Williams, Richard Hoggarth, Edward Palmer Thompson und später Stuart Hall die Kultur sozialer Formationen, vornehmlich die der Arbeiterklasse und der Massenmedien. Die Vertreter der cultural studies waren mehr oder weniger bekennende Marxisten (Marxismus), auch wenn man sich ein wenig vom Strukturalismus eines Claude Levi-Strauss anstecken ließen. Auf die cultural studies folgte 20 Jahre später der postcolonialism (Postkolonialismus), der sich dem Sonderproblem des Kolonialismus und seiner Überwindung widmete.
Das, was sich heute mit gewissem Stolz K. nennt, begann so richtig mit „The Interpretation of Cultures“ (1973) von Clifford Geertz. Weltweit löste das Buch des Amerikaners eine Neuorientierung der Geisteswissenschaften aus, die in Deutschland weit um sich griff und unter dem Schlagwort cultural turn stattfand. Die Soziologie, die bis dahin als Leitwissenschaft amtierte, verlor an Einfluss. Was sich in der Periode von 1980 bis 2010 entwickelte, trat aber nicht so sehr als neues Fach hervor, sondern eher als Parasit, der sich in traditionelle Fächer einnistete und in ihnen innovative Schwerpunkte einpflanzte.
Grundlage der Neuorientierung ist ein erweiterter Kulturbegriff. Wenn man ihn nicht historisch angeht, sondern systematisch, erscheint er keineswegs so verworren, wie seine Anhänger begeistert behaupteten. Schon die lateinische Etymologie (colere = anbauen, pflegen, anbeten) macht deutlich, dass Kultur den Gegenbegriff zu Natur bildet. Wenn Natur das vom Menschen ohne sein Zutun Angetroffene meint, bezeichnet Kultur das von ihm gegen oder über die Natur hinaus Geschaffene. Aus dieser Bedeutungswurzel entwickelten sich zwei Ableger, die sich als universalistisch (Univeralismus) wertend und partikularistisch (Partikularismus) beschreibend unterscheiden lassen.
Der erste Ableger sieht die Überwindung der Natur als Menschheitsaufgabe, die immer und überall besteht. Ihr Ziel ist ein immer perfekter werdender Humanismus (Kultiviertheit), wobei man v. a. auf die Kunst setzte. Dieser erste Ableger, der auf idealistische Weise die Errungenschaften der Kultur zum Maßstab des Humanen erhob, vermählte sich eng mit der Philosophie, doch diese „Kulturphilosophie“ verlor an Bedeutung und wurde von der Renaissance des Kulturbegriffs nicht erfasst.
Weniger philosophisch lenkt der zweite Ableger den Blick auf die sichtbare Realität des menschlich Geschaffenen und erkennt – im besten Fall wertfrei – dass sie je nach Ort und Zeit, v. a. je nach menschlicher Gruppierung anders ausfällt. Die Europäer überwinden die Unbill der Natur, indem sie in Häusern leben, die Indianer trotzen ihr in Zelten und die Inuit in Iglus. Der Gegenstand des partikularistischen Kulturbegriffs sind Gruppengewohnheiten (social habits), wobei ethnische Gruppierungen im Vordergrund standen (Stamm, Volk, Land, Region, Nation). Von seinen Kritikern wird dieser Kulturbegriff daher ethnisch (ethnos = Volk) oder ethnizistisch genannt. Von der amerikanischen cultural anthropology wurde er zu einer Wissenschaft mit genauen Regeln erhoben. Die beste Darstellung der Diskrepanz dieser beiden Kulturableger findet sich in Alain Finkielkrauts „Die Niederlage des Denkens“ von 1987.
Die Renaissance des Kulturbegriffs in den 80er Jahren lässt nur diesen zweiten ethnisch-partikularistischen Ableger wiederauferstehen. Die Auferstehung ist allerdings zweigeteilt: Manche Fächerschwerpunkte benutzen weiterhin die traditionelle ethnische Orientierung, wohingegen andere die Ethnizität des Kulturbegriffs zurückweisen. Wie die Neubildungen Frauenkultur, Jugendkultur, Unternehmenskultur zeigen, wird jedem beliebigen Kollektiv Kultur zuerkannt. Sie beinhaltet somit „kollektive Standardisierungen“ (Hansen 2011: 31). Sie finden sich überall, bei Jägern genauso wie bei Vegetariern, Schreinern, Golfspielern und Professoren. Ethnien bilden daher polykollektive Konglomerate, und aufgrund dieser Voraussetzung kann bei Ethnien die Behauptung kultureller Einheitlichkeit (Nationalkultur) nicht aufrecht erhalten werden.
Eine weitere Veränderung vollzieht sich durch die Berücksichtigung der semiotischen Komponente. Sie geht auf den französischen Linguisten Roland Barthes zurück, der kulturelle Gewohnheiten wie sprachliche Zeichen analysierte. Ohne von R. Barthes Kultursemiotik Kenntnis zu haben, erweiterte C. Geertz diesen Ansatz, indem er einen Zusammenhang zwischen den kulturellen Symbolen herstellte und sie ein „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1983: 9) bilden ließ. Dieses Gewebe habe der Völkerkundler zu „interpretieren“ (Geertz 1983: 9). Die K., die sich zu Zeiten der klassischen Ethnologie eher als empirische Disziplin sah, wird damit zu einer hermeneutischen (Hermeneutik), die auf einem konstruktivistischen (Konstruktivismus) Grundansatz („selbstgesponnen“) ruht.
Dem die Ethnologie lange beherrschenden Funktionalismus ist damit der Boden entzogen. Glaubte Bronislaw Malinowski, dass kulturelle Bräuche ausschließlich natürliche Bedürfnisse erfüllen – Häuser, Wigwams und Iglus schützen vor der Witterung – so sind sie bei C. Geertz v. a. Ausdruck kollektiver Identität. Nicht alle Autoren der modernen K. befreiten sich gänzlich vom Funktionalismus. Ronald Hitzler und Alexander Thomas betonen die verhaltenssteuernde Orientierungsfunktion der Kultur, die „optimale Handlungsfähigkeit“ sichere (Hitzler 1988: 5; Thomas 1993: 3). Das stellt Marshall Sahlins in „Culture and Practical Reason“ (1976) nicht in Abrede, bezweifelt aber, dass die kulturellen Handlungsvorgaben per se praktisch, sinnvoll oder vernünftig sind (der chinesische Bauer, der sein ganzes Leben lang seine teure Hochzeitsfeier abbezahlt). M. Sahlins hält die kulturellen Vorgaben für willkürlich, was Arnold Gehlen als „Sinnsuspendierung“ (Gehlen 1956: 61) fasst. Vereinfacht könnte man diese Position so auf den Punkt bringen: Kultur hilft mir bei der Lösung jener Probleme, die ich ohne sie nicht hätte.
Überlegungen wie diese münden in den Kulturrelativismus. Diese Einstellung, deren Erfinder noch nicht feststeht, betont die Gleichwertigkeit aller Kulturen. Wenn das konsequent zu Ende gedacht wird, wenn mithin eine moderne Industriegesellschaft einem archaischen Stamm, der rituellen Kannibalismus betreibt, nichts voraus hat, führt es zu einer moralischen Bankrotterklärung. Kollektive und ihre Kultur versteinern zu Monaden eigener Wertigkeit, die jedem Maßstab des Humanen verschlossen sind. Ihrer determinierenden Willkür ließe sich nichts entgegensetzen. Der Kulturrelativismus ist eine Überspitzung der Theorie, die in der Praxis zum Glück nicht gelebt wird. Wenn der türkische Vater die Tochter, die Schande über die Familie brachte, tötet, wird er vor Gericht gestellt. Der Kulturrelativismus entspringt schlechter Philosophie, aber guter Politik, denn er versteht sich als einen Akt der Wiedergutmachung für die Sünden des Kolonialismus und Eurozentrismus.
Wie hat der moderne Kulturbegriff nun die universitäre Fächerlandschaft verändert? Ethnologie bzw. Völkerkunde, die Fächer der ethnischen Phase, die bis dahin Beschreibungen indigener Stämme und archaischer Völker lieferten, öffnen sich jetzt den modernen Gesellschaften, teilweise notgedrungen, weil es immer weniger unberührte Ethnien gibt. Je nach Ausrichtung nennt man sich Europäische Ethnologie oder Vergleichende K. Auch die Volkskunde streifte ihren ursprünglichen Bezug zum „einfachen Volk“ ab und öffnet sich der Alltagskultur aller Schichten. Wenn man noch die Kulturgeographie hinzunimmt, die weniger den Kultur- als den Raumbegriff benutzt, entsteht ein weites Forschungsfeld, das mit unterschiedlichen Zielvorgaben kollektives Gleichverhalten und seine Bedeutungen analysiert. Auch Teile der Soziologie, die eigentlich seit Max Weber und Georg Simmel mit dem Kulturbegriff liebäugelte, bewegen sich in diesem Feld. Es ist zu unüberschaubar, als dass auf die Schnelle Tendenzen aufgezählt werden könnten.
In den Philologien verschoben sich die Schwerpunkte. Die Landeskunde, der ungeliebte Konkurrent der Literaturwissenschaft, wurde aufgewertet und in K. umbenannt. Die Literaturwissenschaft blieb zwar beherrschend, neigte sich aber insofern der Kultur zu, als Literatur als Ausdruck von Kulturen gelesen wurde, wobei das Konzept kultureller Hybridität in den Fokus rückte. Als Zwitter aus amerikanischer Nationalcharakter-Forschung (Edward Twitchell Hall) und kulturenvergleichender Psychologie (cross cultural psychology) etablierte sich der Emporkömmling „Interkulturelle Kommunikation“. Unbeirrt hielt diese neue Disziplin am ethnizistischen Kulturbegriff fest, der dafür sorgte, dass die einzelne Nationalkultur als einheitlich galt und die Nationalkulturen sich gerade in ihrer Einheitlichkeit hermetisch unterschieden. Insofern war interkulturelle Kommunikation unmöglich, und die neue Disziplin trat an, das Unmögliche möglich zu machen. Von dieser Versprechung wurde v. a. die unter der Globalisierung leidende Wirtschaft angelockt, was inzwischen aber nachgelassen hat.
Die Auswirkungen des modernen Kulturbegriffs auf die Geisteswissenschaften waren insofern immens, als die Fächergrenzen demontiert wurden, sodass eine schwach strukturierte Multidisziplinarität übrig blieb. Mit den Fächergrenzen fielen auch die Groß-Strukturen (Gesellschaft, Nationalkultur), welche die sozialen Phänomene vor dem cultural turn gezähmt hatten. Insofern stehen wir jetzt etwas ratlos vor dem Gewimmel der Kultur beanspruchenden Kollektive. Die Rettung könnte vielleicht von der sich gerade formierenden Kollektivwissenschaft kommen, die auf netzwerkartige Verklammerungen von Kollektiven setzt.
Literatur
R. K. P. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft, 42011 • K. Stiersdorfer/L. Volkmann (Hg.): Kulturwissenschaft Interdisziplinär, 2005 • R. J. C. Young: Postcolonialism, 2003 • R. Winter: Die Kunst des Eigensinns: Cultural Studies als Kritik der Macht, 2001 • A. Thomas: Kulturenvergleichende Psychologie, 1993 • R. Hitzler: Sinnwelten: Ein Beitrag zum Verstehen von Kultur, 1988 • C. Geertz: Dichte Beschreibung, 1983 • A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, 1956 • B. Malinowski: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, 1944 • E. B. Tylor: Primitive Culture, 1871.
Empfohlene Zitierweise
K. Hansen: Kulturwissenschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kulturwissenschaft (abgerufen: 21.11.2024)