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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:12 Uhr
1. Ausgangspunkt
Der S. stellt einen regelbasierten Rahmen für die Koordinierung und Überwachung der nationalen Finanzpolitiken in der EU dar. Im Zuge der Gründung der europäischen Währungsunion wurden die nationalen Haushalte (Staatshaushalt) nicht vergemeinschaftet, sodass ein Mittel zur Überwachung und Koordinierung der fiskalischen Haushaltsdisziplin in Form des S.s implementiert werden musste. Erarbeitet in den Jahren 1996/97 auf den EU-Gipfeln in Amsterdam und Dublin, wurde der Pakt 1997 geschlossen, um solide öffentliche Finanzen – eine entscheidende Voraussetzung für das korrekte Funktionieren der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Aufgrund zyklischer, konjunktureller Schwankungen variieren die Staatseinnahmen und Staatsausgaben fortlaufend (automatische Stabilisatoren), sodass ein ausgeglichener Haushalt nicht durchweg gesichert werden kann. V. a. aber kommt es in westlichen Demokratien unabhängig von den automatischen Stabilisatoren zu einer Tendenz im Zeitablauf immer weiter steigender Staatsverschuldung. Durch die Festlegung von Grenzwerten der Schulden- und Defizitquote bestehen haushaltspolitische Regeln zur Verhinderung einer staatlichen Zahlungsunfähigkeit, wobei (unter der Annahme eines nominalen Wachstums des BIP von 5 %) das jährliche Defizit maximal 3 % und die kumulierte Staatsverschuldung maximal 60 % des BIP betragen dürfen.
Hierdurch ist gesichert, dass in Phasen des Abschwungs und daraus resultierend negativer Haushalte eine Verschuldung in einem gewissen Rahmen, der die automatischen Stabilisatoren wirken lässt, toleriert wird, aber die Staatsschulden nicht explodieren (Nachhaltigkeit der Staatsschulden). Eine bes. Bedeutung kommt dem Pakt bei der Sicherung der No-bail-out-Klausel zu, die der Vergemeinschaftung öffentlich-rechtlicher Verbindlichkeiten in der EWWU einen Riegel vorschiebt.
2. Vorgehensweise bei Verstößen
Angestrebtes Ziel der EWWU ist eine dauerhafte Übereinstimmung des öffentlichen Haushalts eines Mitgliedslands mit den Prinzipien einer nachhaltigen Finanzpolitik. Deshalb hält der Pakt Warnsignale bereit, falls ein fiskalpolitisches Fehlverhalten eines Landes vorliegt. Bei Anzeichen eines Vergehens erfolgt ein Bericht der Europäischen Kommission an den Rat der Europäischen Union, in welchem zusätzlich auf die mittelfristige Wirtschafts- und Haushaltslage des jeweiligen Landes eingegangen wird. Nach weitergehender Prüfung und unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Landes wird mit qualifizierter Mehrheit entschieden, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt. Die Feststellung erfolgt mit einer gewichteten Zweidrittelmehrheit der EU-Mitgliedstaaten, wobei jedoch das Votum des betroffenen Landes keine Berücksichtigung erfährt.
Sollte, in Folge einer entsprechenden Entscheidung, innerhalb einer gewissen Zeitspanne keine Abhilfe geschaffen werden können, so wird nach einer Veröffentlichung der Empfehlung eine Frist zur Erfüllung der Maßnahmen gesetzt. Verstreicht auch diese ohne nennenswerte Erfolge, so sind am Ende des Prozesses finanzielle Sanktionen möglich. Durch dieses Vorgehen sollen stabilitätspolitische Konflikte vermieden werden, v. a. vor dem Hintergrund kurzsichtiger Entscheidungen von Regierungen mit Blick auf anstehende Wahltermine. Eine unabhängige Zentralbank, die sich einzig auf die Einhaltung der Preisstabilität konzentriert, kann solchen Entwicklungen unmöglich allein entgegentreten. Im Gegenteil zeigen die Erfahrungen seit der europäischen Schulden- und Bankenkrise, dass die ultra-expansive Geldpolitik der EZB die dringende Reduzierung der Staatsschulden verminderte bzw. die Aufnahme weiterer Staatschulden in der Eurozone sogar beförderte.
3. Sanktionen
Bei Verletzung der Kriterien und Nichtbeachtung der Beschlüsse des Rates können gegen ein Mitgliedsland Sanktionen verhängt werden. Diese setzen sich üblicherweise aus einer festen Geldbuße und einer variablen, unverzinslichen Einlage zusammen, welche bei einer erstmaligen Übertretung aus 0,2 % des BIP zzgl. 10 % des Betrages, um den das Defizit den Wert von 3 % übersteigt, besteht. Werden die Kriterien in den folgenden Perioden weiterhin verfehlt, so wird ausschließlich die variable Komponente weiter erhoben, wobei die Strafzahlungen immer auf 0,5 % des BIP beschränkt sind. Verbessert sich die haushaltspolitische Lage dahingehend, dass die Grenzwerte eingehalten werden, so erfolgt eine Rückerstattung der Einlagen. Die Erlöse aus Sanktionszahlungen kommen den Mitgliedsländern zu, welche fiskalpolitisch im Rahmen des Erlaubten gewirtschaftet haben. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass das Strafverfahren gegen Defizitsünder ausgesetzt wird.
4. Ausnahmeregelungen
Eine Übertretung der gesetzten Grenzwerte ist unter gewissen Gesichtspunkten straffrei erlaubt. Sollte die Ursache der Verfehlung einer vorübergehenden Ausnahmesituation geschuldet sein, die sich der Kontrolle des Teilnehmerlandes entzieht und eine schwerwiegende Beeinträchtigung der gesamtstaatlichen Finanzlage absehen lässt, so wird von einer Sanktionierung Abstand genommen. Beispiele dafür können schwerwiegende Naturkatastrophen, Auswirkungen von Arbeitskämpfen oder negatives Wirtschaftswachstum sein. Auch Auswirkungen ähnlich der deutschen Wiedervereinigung oder Produktionseinbußen durch einen schwächeren Anstieg des Potenzialwachstums können unter diesem Aspekt subsumiert werden.
5. Erweiterungen
Neben den kurzfristigen Rettungsmaßnahmen konzipierten die EU-Politiker während der europäischen Schulden- und Bankenkrise zahlreiche Programme, die darauf abzielten, die eigentlichen Ursachen der Krise zu beseitigen und die Währungsunion langfristig zu stabilisieren und zu stärken. Darunter fällt auch eine Reform des S.s, die im Dezember 2011 in Kraft getreten ist. Der Pakt sieht seither u. a. strengere Vorgaben für die staatliche Haushaltspolitik vor, falls ein Land mit seiner Schuldenquote die bindende Obergrenze von 60 % verletzt. Der „überschießende“ Prozentsatz ist nun jährlich um ein Zwanzigstel abzubauen („Gros-Regel“ nach Daniel Gros 2003). Auch der Sanktionsmechanismus bei Nichtbefolgen der Vorgaben wurde leicht verschärft (Excessive Deficit Procedure [EDP]).
Dieses EDP wird durch die EU-Kommission eingeleitet, wenn ein EU-Mitgliedstaat mit seinem Haushalt die in den EU-Rechtsvorschriften zum S. festgelegte Defizitgrenze überschreitet. Das Verfahren setzt sich aus mehreren Schritten zusammen, einschließlich der Möglichkeit von Sanktionen, um den betreffenden Mitgliedstaat dazu zu veranlassen, sein Haushaltsdefizit unter Kontrolle zu bringen – eine der Voraussetzungen für ein reibungsloses Funktionieren der EWWU. Außerdem wurden weitere Verordnungen zur Überwachung der Haushaltsdisziplin und makroökonomischer Ungleichgewichte erlassen: Die 2011 im Rahmen des Sixpacks implementierten Regularien sollen die Realisierbarkeit der nationalen Finanzierung mit Hilfe korrektiver und präventiver Maßnahmen sicherstellen. Das darauf aufbauende Twopack ergänzt dieses Regelwerk um eine Verbesserung der Überwachung sowie eines einheitlichen zeitlichen Rahmens.
Die politische Durchsetzungskraft der haushaltspolitischen Verpflichtungen wurde durch die Verordnungen Sixpack und Twopack effektiv kaum erhöht. Dies lässt sich auf verschiedene Ursachen zurückführen, auf die im Folgenden eingegangen wird.
6. Kritikpunkte
Wie die Schuldenstände der Mitgliedstaaten im Jahr 2019 zeigen, konnten die Gefahren einer nicht mehr tragfähigen Verschuldung durch die festgeschriebene Begrenzung des Defizits auf 3 % und des Schuldenstands auf 60 % des BIP eines Mitgliedstaats nicht hinreichend gebannt werden.
Die Verträge weisen die Verantwortung für die Durchsetzung der Verschuldungsgrenzen der EU-Kommission zu. Diese verfügt jedoch einerseits nicht über durchschlagende Durchgriffsrechte auf haushaltspolitische Entscheidungen der Mitgliedstaaten und nur schwache Sanktionsrechte, andererseits ist sie mit sehr ausgeprägten Beurteilungs- und Handlungsspielräumen ausgestattet.
Letztere kommen insb. beim Umgang mit größeren Ländern zum Tragen: So waren im Jahr 2018 mit Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Italien und Spanien die fünf größten Volkswirtschaften der EU allesamt höher verschuldet als vereinbart. Diese geduldete Überschreitung lässt sich auch durch den hohen Einfluss dieser Mitgliedstaaten erklären. Ein automatischer und verlässlicher Prozess der Sanktionierung und hierdurch des S.s insgesamt ist dadurch nicht gewährleistet.
Ein weiterer Kritikpunkt besteht, in Umkehrung der weiter oben dargelegten Sichtweise, in der potenziellen Verletzung der souveränen Fiskalpolitik durch die Androhung bzw. Auferlegung von Sanktionen als illegitime politische Einflussnahme seitens der EU-Kommission.
Zudem gibt es Bestrebungen, die fiskalische Disziplin gemäß dem Motto „weniger Austerität bedeutet mehr Flexibilität“ aufzuweichen. Die glaubwürdige Durchsetzung des S.s wird hierdurch mit dem negativ konnotierten Begriff „Austerität“ gleichgesetzt.
Schließlich zeigt sich, dass das EDP, das den S. eigentlich sinnvoll ergänzen soll, eine Schwachstelle des Fiskalpakts darstellt, und zwar durch die „zielgerichtete Ausgestaltung“ von Datenrevisionen beim BIP und dem staatlichen Budgetsaldo durch die europäischen Statistikbehörden. So kann das BIP strategisch erst einmal zu niedrig ausgewiesen werden, wenn es darum geht, eine bes. gravierende Wirtschaftskrise (Krise) zu belegen und einen Mitgliedstaat vom EDP auszunehmen, da bis zur Festlegung des endgültigen BIP-Wertes vier Jahre vergehen.
Literatur
A. Belke: Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und ihre Governance, in: P. Becker/B. Lippert (Hg.): Hdb. Europäische Union, 2020, 751–789 • P. De Grauwe: The Economics of Monetary Union, 2018 • C. Ohler: Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU), in: StL, Bd. 2, 82018, 406–423 • A. Mühlauer: Scharfe Kritik an Juncker, in: SZ, 3.6.2016, 1 • A. Belke: Der Fiskalpakt als Vertrag außerhalb des EU-Rahmens, in: U. von Alemann u. a. (Hg.): Ein soziales Europa ist möglich. Grundlage und Handlungsoptionen, 2015, 285–309 • European Parliament: Review of the „Six-Pack“ and „Two-Pack“, 2014 • F. De Castro/J. J. Perez/M. Rodríguez-Vives: Fiscal Data Revisions in Europe, in: JMBC 45/6 (2013), 1187–1209 • E. Görgens/K. Ruckriegel/F. Seitz: Europäische Geldpolitik, 62013 • K. Hentschelmann: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt als Ordnungsrahmen in Krisenzeiten, 2010 • R. Ohr/A. Schmidt: Regelgebundene versus diskretionäre Wirtschaftspolitik. Das Beispiel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 73/3 (2004), 381–391 • D. Gros: A Stability Pact for Public Debt? CEPS Policy Brief No. 30, 2003 • R. Peffekoven u. a.: Sollte der Stabilitäts- und Wachstumspakt geändert werden?, in: WD 82/3 (2002), 127–140 • H. Siebert: Weshalb die Europäische Währungsunion den Stabilitätspakt braucht, 2002 • A. Belke: Politische Konjunkturzyklen in Theorie und Empirie, 1996.
Empfohlene Zitierweise
A. Belke, F. Bongartz: Stabilitäts- und Wachstumspakt, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Stabilit%C3%A4ts-_und_Wachstumspakt (abgerufen: 22.11.2024)