Kulturverfassungsrecht: Unterschied zwischen den Versionen

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M. Geis: Kulturverfassungsrecht, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Kulturverfassungsrecht}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 4. Januar 2021, 11:22 Uhr

1. Kulturstaat und Kulturverfassung

Staat und Kultur stehen seit jeher in einem Spannungsverhältnis, das bereits Jacob Burckhardt als „Widerstreit der Potenzen“ (Burckhardt 1868: 27) charakterisiert hat. In Deutschland hat sich eine bes. historisch-politische Beziehung im Begriff des Kulturstaats herausgebildet: Seit Anfang des 19. Jh. wurde dieser als Trägersurrogat einer nationalen Identität für den fehlenden Nationalstaat verwendet, z. T. auch in aggressiv-polemischer Abgrenzung gegenüber dem französischen Nachbarn (Johann Gottlieb Fichte, Joseph von Görres, Ernst Moritz Arndt), später auch gegen den Ultramontanismus (Johann Caspar Bluntschli). Dass der Kulturstaat jedoch eine kaum fassbare, unerfüllte Fiktion blieb, wird daran deutlich, dass der deutsche Nationalstaat 1871 durch drei Kriege entstand, in denen ein erheblicher Teil der gemeinsamen Kultur durch die kleindeutsche Lösung ausgegrenzt wurde. Überdies ist dieser Begriff durch eine spezifisch hegelianisch-idealistische (und damit auch etatistische) Aufladung gekennzeichnet, der von Epigonen wie Heinrich von Treitschke, Ernst Rudolf Huber und Hartmut Krüger noch bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jh. vertreten wurde. Zahlreiche Rezipienten, darunter auch das BVerfG, verwendeten den Kulturstaatsbegriff quasi ontologisch, um eine bes. Verantwortung des Staates für die Kultur zu begründen, ohne zu erkennen, dass diese Begründung mit der freiheitlichen Konzeption des GG inkompatibel ist. Dem setzte erstmals Peter Häberle eine diametrale Sichtweise entgegen, die die Kulturverantwortung des Staates nicht aus seinem metaphysischen Wesen, sondern aus den Grundrechtsgarantien, ausgehend von der Menschenwürde, herleitet. Dabei folgt aus den objektiven Grundrechtsseiten ebenso ein Kulturauftrag des Staates wie die subjektiven Grundrechtsseiten diesen zugl. limitierend strukturieren. Insofern bezeichnet die Ersetzung des Begriffs Kulturstaat durch den der Kulturverfassung den perspektivischen Paradigmenwechsel, was nicht verhindert, dass der Kulturstaatsbegriff – gerade wegen seiner tendenziellen Kritikresistenz – bei weihevollen Ereignissen immer wieder pathetisch zur Begründung für allerlei „Erhabenes“ in Bezug genommen wird. In diesem freiheitlichen Sinne ist auch die einzige positivierte Kulturstaatsklausel in Art. 3 BayVerf zu interpretieren.

2. Dogmatisch-systematische Einordnung

Anders als die WRV und einige Landesverfassungen (Art. 142–150 WRV, Art. 140 BayVerf, Art. 55–62 HessVerf, Art. 18 NRWVerf, Art. 3c BadWüVerf, Art. 2 Abs. 1, Art. 34 BbgVerf, Art. 1 S. 2, Art. 11 SächsVerf) enthält das GG keine eigenen Regelungen über den Bereich der Kultur als solcher. Das liegt einmal an dem urspr. provisorischen Charakter, zum anderen aber auch an der dogmatischen Grundentscheidung, die Struktur von Staat und Gesellschaft von den (kulturellen) Freiheitsrechten her, nicht vom Wesen des Staates her zu definieren, zum dritten schließlich an der föderalistischen Zurückhaltung in Sachen Kultur.

Innerhalb des Verfassungsrechts hat das K. zwei große Problemkreise: Einmal die Frage der inhaltlichen Zugehörigkeit zum K. und die jeweiligen Normen im GG und in den Landesverfassungen, zum anderen – davon abhängig – die der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung (Bundesstaat) für den jeweiligen Kulturbereich. Ersteres hängt maßgeblich vom zugrunde gelegten Kulturbegriff ab. Dessen Bestimmung ist nicht einfach: Zum einen ist eine Verengung auf eine idealistische Aufladung (Inbegriff des Wahren, Schönen und Guten) deutlich zu einseitig. Andererseits ist auch eine interdisziplinäre Anleihe, etwa bei der Kulturphilosophie, der Kultursoziologie oder der Kulturanthropologie, problematisch. Haftete diesen früher oft ein elitäres Element an (etwa in den Dualismen Kultur – Natur bzw. Kultur – Zivilisation), neigen jene heute mehr zu weiten, nicht abschließenden Aufzählungen oder strukturalistischen Definitionen (Kultur als Inbegriff der strukturierenden Techniken des Menschen, die Lebenswelt „begreifbar“ zu machen). Im juristischen Bereich hat sich der Bereich des K.s als Pendant zum von Thomas Oppermann geprägten „Kulturverwaltungsrecht“ (Oppermann 1969) etabliert. Im Wesentlichen umfasst jenes die Bereiche Bildung (Schulwesen und Weiterbildung), Wissenschaft (Forschung und Hochschullehre), Kunst (Musik, bildende Kunst, Museumswesen und Denkmalschutz) sowie die Auslandskulturpflege; umstritten ist der Bereich der Baukunst (Architektur), insb. im Hinblick auf ihre Begrenzbarkeit. Dementsprechend sind die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 3 GG und der staatliche Erziehungsauftrag nach Art. 6 Abs. 1 GG die „Eckwerte“ des K.s, ergänzt durch z. T. weitergehende landesverfassungsrechtliche Garantien. Aus dem staatlichen Erziehungsauftrag folgt hingegen ein eigenes Recht zur Bildungsvermittlung, das dem Elternrecht zwar gleichrangig ist, aber Eingriffe in dieses je nach dem Grad der Reife rechtfertigt (BVerfGE 47, 46 – Sexualkunde).

Diese Sektoralisierung bestimmt gleichzeitig die Kompetenzverteilung, die sich allerdings recht disparat darstellt. Am eindeutigsten fällt der Schulbereich (Schule) in die ausschließliche Länderhoheit nach Art. 30 GG (mit Ausnahme des aktuellen Art. 91b Abs. 2 GG als Grundlage der bundesweiten PISA-Studien); dies führt entspr. zu ganz unterschiedlichen Schulsystemen, die durchaus parteipolitisch-ideologisch geprägt sind (differenziertes Schulsystem v Gesamtschule, Wettbewerbs- und Leistungsdenken v egalitäre Bildungschancen). Seit den späten 1960er Jahren bestehen Streitigkeiten über die Vergleichbarkeit der Abiturnoten als Voraussetzung der Hochschulzulassung und die Verteilungsgerechtigkeit bei Zugangsbeschränkungen (Numerus clausus); entspr.e Regelungen müssen aber einvernehmlich durch Staatsvertrag auf der Ebene der KMK abgesichert werden.

Der Begriff der Wissenschaft wird allg. als planmäßige, methodisch fundierte Gewinnung neuer Erkenntnisse umschrieben. Bei der Organisation staatlicher oder staatlich finanzierter Forschung hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, er ist insb. nicht an ein bestimmtes Organisationsmodell gebunden. Der Staat muss allerdings eine Konstruktion des Wissenschafts- und Hochschulwesens vorsehen, die eine strukturelle Gefährdung der individuellen Wissenschaftsfreiheit verhindert (st. Rspr. seit BVerfGE 35, 79 – Hochschulurteil, zuletzt 136, 338 – MHH-Beschluss). Dies bedingt eine maßgebliche Mitwirkung der Hochschullehrer in Angelegenheiten von Forschung und Lehre, die durch die akademische Selbstverwaltung verwirklicht wird. Diese unverzichtbare Maßgabe, die eine übermächtige Stellung der Hochschulleitung verhindert, hat das Gericht in neuerer Zeit wieder stärker in den Fokus gerückt.

Kompetenzrechtlich hat der Forschungs- und Hochschulbereich eine wechselhafte politische Geschichte. Urspr. war der Bereich der Hochschulen ausschließliche Länderdomäne. Nachdem in den frühen 1960er Jahren aufgrund geringer Studienkapazitäten und einer niedrigen Akademikerquote vor einer „Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) gewarnt wurde, wurde 1969 der Typus der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern geschaffen, unter denen die des Hochschulbaus den massiven Ausbau bestehender und die Gründung von neuen Hochschulen forcierte. In diese Kategorie wurde auch die Finanzierung der außeruniversitären Forschung aufgenommen, bei der sich die Länder bereits 1949 im „Königsteiner Abkommen“ verpflichtet hatten, Forschungseinrichtungen überregionaler Bedeutung gemeinsam zu finanzieren (nach den quotalen Anteilen des sog.en „Königsteiner Schlüssels“). Darunter fiel die Förderung von Forschungsorganisationen wie der DFG und der außeruniversitären Forschung (MPGes, HGF, Fraunhofer-Institute). Dgl. wurden alle bis dahin eigenständigen Forschungsinstitute (aufgeführt in der legendären „Blauen Liste“) gefördert und 1997 in der WGL vereint. Als maßgebliche Entscheidungsstelle für die Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben fungierte die BLK. Zeitgleich entwickelte das BVerfG – dem linksliberalen Zeitgeist entsprechend – aus Art. 12 GG ein Recht auf Bildung und in concreto das subjektive Recht auf gleiche Zugangschancen zum Studium (BVerfGE 33, 303 – numerus clausus I). 1976 wurde nach langen politischen Streitigkeiten durch die sozialliberale Koalition das HRG erlassen, das die Gesamthochschule zum Regelmodell erhob und dem Bund eine weitgehende Rahmenkompetenz für die Hochschulorganisation einräumte (Art. 75 GG a.F.), was zu einer deutlichen Vereinheitlichung des Hochschulwesens führte. Nach dem Regierungswechsel 1982 und in den folgenden Jahrzehnten wurde die Regelungsmacht des Bundes sukzessive wieder beschnitten, um einen leistungssteigernden Wettbewerbsföderalismus (Föderalismus) im Hochschulbereich herbeizuführen und dadurch die Stagnation der Hochschulen zu überwinden, ungeachtet der Tatsache, dass diese Situation durch die politikseitig herbeigeführte Überlast der Hochschulen bei sinkender Ausfinanzierung selbst herbei geführt worden war. Die Zäsur der Föderalismusreform 2006 verlagerte das Hochschulwesen mit Ausnahme des Hochschulzugangs dann gänzlich auf die Länder zurück, allerdings nur als zweitrangige „Verhandlungsmasse“. Die BLK wurde dementsprechend zur deutlich verkleinerten GWK umgebaut. Allerdings wurde die Kurzsichtigkeit dieser Konstruktion schnell offenbar: Da eine Beteiligung des Bundes an der gemeinsamen Förderung der Hochschulen nach Art. 91b GG ausgeschlossen wurde, wurde quasi „in letzter Minute“ die Möglichkeit zur zeitlich begrenzten, gemeinsamen Projektförderung wieder aufgenommen, weil ansonsten die gerade initiierte Exzellenzinitiative trockengelegt worden wäre. Die institutionelle Förderung der Hochschulen blieb hingegen im Gegensatz zur außeruniversitären Forschung ausgeschlossen. Für letztere bedeutete der Erlass des WissFG 2012 eine erhebliche (v. a. finanzielle) Besserstellung im Verhältnis zur Hochschulforschung, was zu einer deutlichen Verzerrung der Wissenschaftslandschaft führte. Weitere über Art. 91b GG gemeinsam geförderte Vorhaben waren der „Hochschulpakt 2020“ zur signifikanten Erhöhung der Studienplätze, das Professorinnenprogramm (ab 2007) und der Qualitätspakt Lehre (ab 2011); diese Vorhaben sind insofern Danaergeschenke, weil die zeitliche begrenzte Anstoßförderung des Bundes nach Ablauf der Projektphase von den Ländern zu verstetigen ist, was gerade bei hohen Fördervolumina zu erheblichen Anschlusslasten führt.

Obwohl die misslungene Konstruktion des Art. 91b GG recht bald offensichtlich geworden war, bedurfte es mehrerer Anläufe, bis er mit der verfassungsändernden Mehrheit der Großen Koalition 2014 revidiert wurde; seitdem können Bund und Länder in Fällen überregionaler Bedeutung bei der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre zusammenwirken, in Hochschulangelegenheiten allerdings nur bei Zustimmung aller Länder, um eine politisch intendierte Bevorzugung einzelner Hochschulregionen zu verhindern. Gleichwohl ist dadurch eine langfristige Förderung von Hochschulen oder Instituten wieder möglich geworden, ebenso wie die unter dem Gesichtspunkt der Bündelung von „Exzellenz“ und der internationalen Sichtbarkeit immer bedeutendere Schaffung von Forschungsverbünden zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungsinstituten (exemplarisch: die von der WGL getragenen Wissenschaftscampi oder die von der HGF getragenen Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung). Als Relikt aus der vorherigen Phase zeigt die organisatorische Konstruktion des Karlsruher Instituts für Technologie immerhin noch die z. T. bizarren Schwierigkeiten einer Fusion einer TU und eines außeruniversitären Helmholtz-Instituts.

Der dritte Bereich der Kunst ist begrifflich und kompetenziell am schwersten zu fassen, da er nur punktuell gesetzlich normiert ist (Denkmalschutz, Kunstprivileg im Jugendschutz, Schutz deutschen Kulturguts vor Veräußerung ins Ausland). Dies liegt v. a. daran, dass sich Staat und Kunst fast ausschließlich im Bereich der Leistungsverwaltung begegnen, in dem der Vorbehalt des Gesetzes nach deutschem Verfassungsrecht nicht gilt. Im Wesentlichen wurde der Kunstbegriff durch die Judikatur des BVerfG konkretisiert (BVerfGE 30, 173 – Mephisto; 67, 213 – Anachronistischer Zug; 119, 1 – Esra). Nach Art. 30 Abs. 1 GG dominiert hier die Verwaltungskompetenz der Länder; eine Zuständigkeit des Bundes für Kunstförderung muss fast immer aus einer ungeschriebenen Kompetenz kraft Natur der Sache hergeleitet werden, etwa wegen gesamtstaatlicher Verantwortlichkeit (Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkriegs oder der Teilung Deutschlands) oder Repräsentation (Hauptstadtkultur). Beispiele sind der Bau der Bundeskunsthalle (2002), die Errichtung der Deutschen Nationalstiftung (1993) und der Kulturstiftung des Bundes (2002), die neben die Kulturstiftung der Länder (1987) trat. Von den Ländern wird die Inanspruchnahme ungeschriebener Bundeskompetenzen mit Argusaugen beobachtet, da dadurch der Bund seine Gestaltungsmacht tendenziell und sukzessive ausdehnen kann, insb. durch die Gewährung von Geldleistungen, die von potentiellen Empfängern kaum wegen Kompetenzwidrigkeit abgelehnt werden. So wird im K. die Annahme der Ökonomischen Theorie der Bürokratie, dass öffentliche Institutionen ihren Zuständigkeits- und Handlungsbereich auszudehnen geneigt sind (Niskanen-Modell), durchaus bestätigt.

Trotz einer nicht trennscharfen Abgrenzbarkeit der Kompetenzen im K. hat das (nicht unumstrittene) Wort von der Kulturhoheit der Länder seine Berechtigung. Zum einen kommt darin die Vermutung zugunsten der Länder im Kulturbereich zum Ausdruck, die sich aus Art. 30 GG ableitet, zum anderen umschreibt es eines der existentiellen Elemente der Eigenstaatlichkeit. Im Schulbereich führt die Forderung nach einer Vergleichbarkeit der länderseits erworbenen Studienzugangsberechtigung immer wieder zum Dauerbrenner eines bundesweiten Zentralabiturs oder zumindest abgeschwächter Mechanismen (aktuell ist die freiwillige Einrichtung eines Pools von Abituraufgaben durch mehrere Länder). Innerhalb der Länderzuständigkeit ist die Kulturhoheit ihrerseits häufig Teil der kommunalen Selbstverwaltungsaufgaben. Waren früher die kulturellen Teilkompetenzen des Bundes im Innenministerium angesiedelt, wurden sie seit 1998 beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (im Range eines Staatsministers im Bundeskanzleramt) mit eigenem Haushaltstitel (ca. 1,6 Mrd. Euro) gebündelt. Nachgeordnete Behörden und Einrichtungen sind das Bundesarchiv, das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, der BStU, die Deutsche Nationalbibliothek und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Dgl. fällt die Vergabe von zahlreichen Preisen und Stipendien in den Zuständigkeitsbereich (z. B. die Verleihung des Deutschen Filmpreises). Auch hier zeigt sich im Übrigen die Tendenz zur faktischen Ausweitung einer urspr. schmal ausgestalteten Kompetenzlage.

3. Ansätze zur Positivierung eines staatlichen Kulturauftrags

Dass der Staat einen Auftrag zum Schutz und zur Förderung der Kultur hat, ist weitgehend unbestritten. Daher wurden immer wieder Anläufe unternommen, diesen durch eine Verankerung einer „Kulturklausel“ im GG abzusichern. Nachdem der Begriff des Kulturstaats wegen seiner ideologischen Komplikationen hierfür nicht in Frage kam, schlug erstmals 1985 die Kommission Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge („Denninger/Oppermann-Kommission“) eine Staatszielbestimmung „Kultur“ vor, was allerdings im politischen Prozess der Wiedervereinigung zunächst in den Hintergrund trat. Auch die Gemeinsame Verfassungskommission sprach sich 1994 für eine Kulturklausel aus. Zuletzt befürwortete die Enquête-Kommission Kultur in Deutschland (2003–2007) die Einfügung eines Art. 21b GG: „Der Staat schützt und fördert die Kultur.“ (Deutscher Bundestag 2008: 107). Alle Vorstöße scheiterten letztlich an der Sorge der Länder, die in jeglicher Verankerung eines Kulturauftrags im GG – nicht ganz unberechtigt – ein Einfallstor sahen, dem Bund eine pauschale Kulturgestaltungskompetenz einzuräumen und damit eine Zentralisierung der Kultur zu befördern. Daher bleibt das K. weitgehend durch die Gemengelage der spezifischen dogmatischen Strukturen der einschlägigen Grundrechte, einzelner Kompetenzvorschriften des Bundes und z. T. deutlich differierender landesverfassungsrechtlicher Vorschriften charakterisiert, der zudem keine Grenzen durch das hier nicht anwendbare Homogenitätsgebot des Art. 28 GG gezogen werden.

Ungeachtet aller kompetenzrechtlichen Bedenken wäre jedoch eine neutral formulierte Positivierung einer Kulturklausel im GG zumindest insofern sinnvoll, um darzutun, dass der Schutz und die Förderung der Kultur im Verhältnis zu anderen Staatsstrukturbestimmungen (etwa dem Sozialstaatsprinzip) gleichwertig ist und eine verfassungsimmanente Schranke darstellt.

4. Das Merkmal der Eigengesetzlichkeit

Ein zentraler Eckwert des K.s, jedenfalls im Bereich von Wissenschaft und Kunst, ist die Wahrung der Eigengesetzlichkeit. Darunter ist zu verstehen, dass das Recht die außerjuristischen Strukturen der kulturellen Bereiche als vorfindlich zu akzeptieren hat. Der Staat kann weder in die Methoden der Erkenntnisfindung und der Bewertung von wissenschaftlicher Qualität autoritativ eingreifen, noch darf er anhand selbstbestimmter Kriterien entscheiden, was gute und was schlechte Kultur, Kunst oder Wissenschaft ist. Er muss hierzu die beteiligten Kreise einbeziehen (klassische Beispiele: die akademische Selbstverwaltung in Fragen von Forschung und Lehre bzw. Peer-Review-Begutachtungen bei der Bewertung der Qualität von Forschung und Lehre in Evaluations- und Akkreditierungsverfahren, die pluralistisch zusammengesetzte Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, insb. bei Entscheidungen nach § 18 Abs. 3 Nr. 2 JuSchG). Dabei handelt es sich genau genommen um eine Vielzahl von Eigengesetzlichkeiten: Im Wissenschaftsbereich vollzieht sich die Erkenntnisfindung gänzlich unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um empirische, normative oder wertende Disziplinen handelt; im Kunstbereich besteht etwa ein grundlegender Unterschied zwischen der bildenden Kunst, die ein bereits geschaffenes Kunstwerk unterschiedlichen Interpretationen aussetzt und der Musik, bei der die individuelle Interpretation immer wieder ein neues Kunstwerk entstehen läßt. Daher ist pauschalisierenden Leistungsmessungen, die als Indikatoren einer universitären Mittelvergabe fungieren, mit größter Skepsis zu begegnen, ungeachtet der Tatsache, dass neuartige Disziplinen wie die sog.e Szientometrie behaupten, ein belastbares Qualitätsurteil numerisch abgeben zu können. Anders ist es im Schulbereich, wo dem Staat (in Gestalt der Bundesländer) Art. 6 GG einen eigenständigen Erziehungsauftrag zuerkennt, der dem der Eltern gleichberechtigt ist. Danach kann der Staat die Bildungsinhalte aus eigenem Recht definieren, muss allerdings die Erziehungsberechtigten je nach Alter des Kindes einbeziehen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr eigenes Erziehungsrecht darauf abzustimmen. Jenseits aller Lehrpläne wird indes mit der sog.en pädagogischen Freiheit des Lehrers der (didaktischen) Eigengesetzlichkeit der Bildungsvermittlung Rechnung getragen.

5. Einflüsse des europäischen Rechts

Auch wenn es auf europäischer Ebene bislang keine Verfassung gibt, wirkt doch das Europarecht und die EMRK auf das nationale K. ein. So garantiert die EuGRC von 2000 (EU 2000/C 364/01) in Art. 13 die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und der „akademischen Freiheit“ (worunter die akademische Lehre zu verstehen ist). Deren Inhalte sind mit dem GG weitgehend deckungsgleich. Dagegen ist die akademische Selbstverwaltung den unterschiedlichen nationalen Traditionen entspr. nicht mitgeschützt. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit von der Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK mitumfasst. Nach überwiegender Auffassung ist die dortige Schrankenregelung des Art. 10 Abs. 2 EMRK auch auf Art. 13 GRC anwendbar. Ein wichtiges Feld der Europäisierung ist die gegenseitige automatische Anerkennung bestimmter Studienabschlüsse durch die Berufsanerkennungslinie (2005/36/EG, zuletzt geändert durch die RL 2013/55/EU). Dagegen beruht die Anerkennung ausländischer Schulabschlüsse auf nationalem Recht; für Studierende aus EU-Mitgliedstaaten ist sie regelmäßig gegeben, gleichwohl bedarf es einer Einzelfallprüfung. Im Gegensatz zum Hochschulzugangsrecht ist die dogmatische Strukturierung im Kunst- und Wissenschaftsbereich wesentlich grobmaschiger, zum einen schon wegen fehlender Kompetenzen der EU, zum anderen (zugl. durch ersteres bedingt) durch eine nur sporadische Judikatur des EuGH zum Kunst- und Wissenschaftsbereich.

Aus dem Recht auf Bildung in Art.14 EuGRC folgt ein EU-weites Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungseinrichtungen und eine korrespondierende Pflicht des Staates, für die Existenz von Bildungseinrichtungen zu sorgen und solche ggf. vorzuhalten. Doch bestimmt Art.14 Abs.3 EuGRC keinen staatlichen Primat des Schulunterrichts, sondern überlässt dessen Organisation den Mitgliedstaaten; ein staatliches Schulmonopol ist indes ebenso unzulässig wie im Gegenzug die Privatschulfreiheit – unter dem Gesichtspunkt der Dienstleistungsfreiheit – garantiert ist. Eine deutliche Diskrepanz ergibt sich jedoch im Bereich der Beschäftigten. Während die deutsche Tradition die Tätigkeit an staatlichen Einrichtungen im Bereich von Bildung und Wissenschaft (Lehrer, Hochschullehrer) bis heute überwiegend als hoheitlich i. S. d. Art. 33 Abs. 4 GG auffasst, geht die europäische Sichtweise von einer Zugehörigkeit zum (privatrechtlich zu qualifizierenden) Dienstleistungssektor aus. Dies beeinflusst v. a. den Streit um das Streikrecht des Lehrpersonals, das nach europäischen Recht unabdingbar (Art. 11 Abs. 1 EMRK; dazu EuGH, Urteil vom 12.11.2008 – Az. 34503/97 und Urteil vom 21.4.2009 – Az. 68959/01) geboten, nach den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) jedoch für beamtete Lehrer und Hochschullehrer für unzulässig gehalten wird.