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Version vom 15. August 2021, 11:44 Uhr
1. Begriff
Der Begriff „i. S.“ entstammt dem politisch-publizistischen Sprachgebrauch. Er ist kein gängiger Gesetzesbegriff, sehr wohl aber ein zentraler staatsrechtlicher Begriff, der sich auf eine Staatsaufgabe bzw. Staatszielbestimmung bezieht, die so fundamental ist, dass die Institution Staat von ihr „die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet“ (BVerwGE 49, 209; BVerfGE 49, 57). Sowohl als politischer wie als Rechtsbegriff weist „i. S.“ Unschärfen auf. Unstrittig ist, dass er von den Schutzgütern her in enger Nähe zum älteren polizeirechtlichen Begriff der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ steht, insofern jedoch darüber hinausweist, als nicht allein die Arbeit der Polizei, sondern auch sonstige, z. B. strafjustizielle, sicherheitsbehördliche, nachrichtendienstliche oder gesetzgeberische Sicherheitsfunktionen des Staates erfasst sind. Dass der Begriff „i. S.“ v. a. seit den 1960/70er Jahren verstärkt Verwendung findet, ändert nichts daran, dass die Gewährleistung von Sicherheit im Innern der Sache nach die älteste Staatsaufgabe darstellt und eine Konstante neuzeitlicher Staatlichkeit bildet. Mit „i.r S.“ wird die Aufgabe des Staates bezeichnet, in seinem Inneren für Rechtsgüterschutz, Rechtsdurchsetzung und Friedenswahrung zu sorgen. Kern ist die Bekämpfung der Kriminalität. Sicherheit ist ein Verweisungsbegriff, der sich auf die Unversehrtheit und den gefahrfreien Zustand bestimmter Schutzgüter bezieht (d. h. nur negativ und schutzgutsbezogen definiert werden kann). Derartige Schutzgüter sind zunächst die Rechtsgüter des Einzelnen: Leben, Gesundheit, Ehre, Freiheit, Eigentum, die vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen sind. Hinzu kommen – als Rechtsgüter der Allgemeinheit – der Bestand und die Sicherheit des Staates, die Funktionstüchtigkeit seiner Einrichtungen und die freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung. Schutzgut ist überdies die Unversehrtheit der Rechtsordnung (Verhütung und Ahndung von Rechtsverstößen). Als subsidiäres Schutzgut fungiert der innere Friede. Die Schutzaufgabe bezieht sich auf einen vorhandenen Bestand von Schutzgütern; es geht also ausschließlich um die abwehrende Wahrung eines status quo, nicht um die gestalterische Ordnung eines guten Zusammenlebens (Wohlfahrt). Das Attribut „innere“ markiert die Abgrenzung zum Problemkreis der „äußeren Sicherheit“.
2. Geschichte und Leitgedanken
Der Grundgedanke, in der Sorge für Frieden und Sicherheit liege eine Zweckbestimmung von Herrschaft, ist alt; erst der neuzeitliche Staat hat jedoch ein Maß an innerer Monopolisierung der Gewalt und Durchsetzung der Friedenspflicht verwirklicht, das es erlaubt, von einer „staatlichen“ Garantie der Sicherheit zu sprechen. Dass der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols für die Sicherheit zu sorgen habe, gehört seit Thomas Hobbes zu den Grundfesten neuzeitlicher Staatlichkeit. John Locke hat das Sicherheitsziel mit dem Freiheitsziel verbunden. Der Verwirklichung rechtsstaatlicher Sicherheitsgewährleistung (unter Zurückdrängung des Wohlfahrtszwecks) galt das Augenmerk des Liberalismus. Der moderne Rechtsstaat perfektioniert freiheitsschonende Sicherheitsgewährleistung durch eine ubiquitäre Grundrechtsgeltung; zugl. führen neuartige Bedrohungen zu einer Renaissance der Sicherheitsaufgabe und erneuten Konzentration auf die Frage positiver Schutzpflichten. Bei allen Wandlungen im Einzelnen ist es in der Geschichte des neuzeitlichen Staates nie strittig gewesen, dass Sicherheitsgewährleistung im Innern zu den notwendigen Aufgaben des Staates gehört.
3. Verfassungsrechtliche Verankerung
Das Staatsziel Sicherheit gehört zu den Selbstverständlichkeiten der Staatlichkeit und wird daher im deutschen Verfassungsrecht (Ausnahme: Art. 99 Verfassung des Freistaates Bayern) keiner ausdrücklichen kompakten Normierung zugeführt. Dennoch hat das BVerfG nie gezögert, der Staatsaufgabe Sicherheit Verfassungsrang zuzusprechen und bis in die jüngste Zeit bekräftigt, „dass die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm … zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung Verfassungswerte sind, die mit anderen hochwertigen Verfassungsgütern im gleichen Rang stehen“ (BVerfG 20.4.2016 – 1 BvR 996/09 u. a., Rdnr. 100). Ihre Verankerung findet die Sicherheitsaufgabe insb. in den grundrechtlichen Schutzpflichten und im Rechtsstaatsprinzip.
4. Sicherheit und Freiheit
Sicherheit und Freiheit stehen in einem ambivalenten Spannungsverhältnis: Einerseits kann der Einzelne Freiheit nur genießen, wenn seine Rechtsgüter nicht nur gegen staatliche, sondern auch gegen private Übergriffe geschützt werden; ohne Sicherheit ist so gesehen (aus dem Blick des zu Schützenden) keine Freiheit. Andererseits ist Unsicherheit die notwendige Folge von Freiheit; staatliche Sicherheitsmaßnahmen beeinträchtigen Freiheitsrechte; Sicherheit ist also (aus dem Blick des Adressaten) immer auch Bedrohung von Freiheit. Das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit lässt sich nicht durch einseitige Priorisierung auflösen. Vielmehr ist es eine Aufgabe des Rechts, eine angemessene Balance zu finden. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Verhältnismäßigkeit) kommt dabei überragende Bedeutung zu.
5. Prävention und Repression
Prävention (Gefahrenabwehr), die Schutzgutsverletzungen möglichst verhütet und unterbindet, und Repression (Strafverfolgung), die abgeschlossene Rechtsverletzungen ahndet, sind zwei notwendige (zeitliche) Dimensionen der Sicherheitsaufgabe. Die Verhütung erscheint dabei im Vergleich zur nachträglichen Ahndung vorzugswürdig; wegen ihrer Präventivfunktionen ist jedoch auch eine funktionierende Strafrechtspflege unverzichtbarer Bestandteil der Sicherheitsaufgabe. Die Unterscheidung von Prävention und Repression ist im deutschen Recht auch deswegen bes. scharfkantig ausgeprägt, weil sie zu unterschiedlichen Gesetzgebungszuständigkeiten führt (Polizeirecht: Landesrecht; Strafrecht: Bundesrecht). Schwierigkeiten bereitet bisweilen die Einordnung einer im Vorfeld konkreter Gefahr- und Tatverdachtslagen einsetzenden Informationsgewinnung der Sicherheitsbehörden (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten).
6. Sicherheitsarchitektur
Im Rechts- und Bundesstaat des GG werden die Sicherheitsaufgaben kompetenz- und gewaltenteilig erfüllt. Das Rechtsstaatsprinzip drängt auf eine aufgabenadäquat ausdifferenzierte, das Sicherheitsziel auf kooperativ-verbundartige Aufgabenerfüllung; in der Auflösung dieses Spannungsfeldes hat sich Sicherheitsarchitektur zu bewähren (paradigmatisch: Streit um die zentrale Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern, BVerfGE 133, 277). Der Gesetzgeber verteilt die Gewichte zwischen zivil-, verwaltungs- und strafrechtlichem Rechtgüterschutz und bestimmt damit zugl. über Aufgaben von Exekutive und Judikative; die Hauptlast der operativen Sicherheitsgewährleistung liegt bei der Exekutive. Innerhalb der Exekutive sind polizeiliche, sicherheitsbehördliche und nachrichtendienstliche Sicherheitsgewährleistung zu unterscheiden. Die Polizei nimmt trotz ihrer eindeutigen Zugehörigkeit zur Exekutive eine Sonderrolle ein: Sie weist zu allen Sicherheitsfunktionen des Staates Strukturen einer subsidiären Allzuständigkeit auf (Subsidiarität zu den Sicherheitsbehörden und zur Zivilgerichtsbarkeit; strafrechtliche Hilfs- und Eilzuständigkeiten; generalklauselartige Befugnis [ Generalklausel ], wo spezielle legislative Regelungen fehlen) und ist zugl. mit den schlagkräftigsten Mitteln effektiver Rechtsdurchsetzung ausgestattet; in dieser umfassenden Reservefunktion ist sie reinster Ausdruck der staatlichen Sicherheitsaufgabe und des staatlichen Gewaltmonopols. Das Verhältnis von Polizei und Nachrichtendiensten ist in Deutschland vom sog.en Trennungsgebot beherrscht, dessen Kern neben organisatorischer Trennung im Verbot „polizeilicher“ Befugnisse für die Nachrichtendienste besteht. Darüber hinausgehend hat das BVerfG aus den Grundrechten auch ein informationelles Trennungsgebot abgeleitet, das einer systematischen Verbunddatei zur Informationsanbahnung (zentrale Antiterrordatei) allerdings nicht entgegensteht (BVerfGE 133, 277). Im deutschen Bundesstaat liegt die allg.e Polizeigewalt bei den Ländern; der Bund ist auf die Aufgaben des Grenzschutzes, des Bundeskriminalamts (Zentralstelle für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen und für die Kriminalpolizei, Gefahrenabwehr im Bereich des internationalen Terrorismus) sowie einige sonstige sonderpolizeiliche Funktionen beschränkt. Die (jetzt so benannte) „Bundespolizei“ darf gerade nicht zu einer allg.en Polizei des Bundes ausgebaut werden (BVerfGE 97, 198).
7. Aktuelle Herausforderungen und Judikatur des BVerfG
In organisierter Kriminalität und (internationalem) Terrorismus sieht sich der Staat komplexen Strukturen gegenüber, denen allein mit klassischer Gefahrenabwehr und Strafverfolgung z. T. nicht wirksam begegnet werden kann, sondern die nach einer z. T. vorgelagerten (d. h. bereits im Vorfeld konkreter Gefahr- und Tatverdachtslagen ansetzenden) Informationsgewinnung über diese Strukturen verlangen. Hinzu kommt die rasante Entwicklung der modernen Telekommunikation, die Zeit und Raum in einer mit anderen Kommunikationsformen unvergleichbaren Weise sowie unter Ausschluss öffentlicher Wahrnehmung überwindet und gerade von Terror- und Kriminalitätsnetzwerken intensiv genutzt wird. All das hat dazu geführt, dass die Frage der staatlichen Ermittlungsbefugnisse, insb. soweit sie bereits im Vorfeld klassischer Eingriffsschwellen ansetzen oder auf neuartige technische Mittel zurückgreifen (z. B. Online-Durchsuchung), zu einer Kernfrage des modernen Polizei-, Straf- und Nachrichtendienstrechts geworden ist. Das BVerfG hat in einer langen Rechtsprechungsreihe versucht, dem Rechtsgebiet verfassungsrechtliche Konturen zu geben, und diese (für das Polizeirecht) jüngst im Urteil zum BKAG in einer Art Summe zusammengefasst (BVerfG 20.4.2016 – 1 BvR 966/09 u. a.). Das Bemühen um angemessene Eingriffsschwellen, eine Begrenzung der Streubreite, Bestimmtheit der Eingriffstatbestände, prozedurale Sicherungen und die Definition eines unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung waren dabei prägend. Die Aussagen waren z. T. schwankend und auch innerhalb des Gerichts umstritten. Es lässt sich bezweifeln, ob das BVerfG die Kraft hätte, an all seinen Postulaten festzuhalten, wenn die terroristische Bedrohung weiter ansteigen sollte. Eine andere Frage ist es, inwieweit der Staat Telekommunikationsunternehmen verpflichten kann, Telekommunikationsdaten in der Art einer elektronischen Spurensicherung zu speichern und (für einen etwaigen Abruf) vorzuhalten (Frage der Vorratsdatenspeicherung; dazu BVerfGE 125, 260; EuGH NJW 2014, 2169 und NJW 2017, 717). Fehlt diese Möglichkeit, besteht die Gefahr, dass ein virtueller Raum elektronischer Kommunikation entsteht, in dem strukturell keine Spuren hinterlassen werden und der so zum rechtsfreien Raum zu werden droht; mit der staatlichen Pflicht zur Gewährleistung i.r S. wäre das nicht vereinbar.
8. Innere und äußere Sicherheit
Das Staatsrecht unterscheidet i. und äußere S. und verortet sie institutionell bei verschiedenen Aufgabenträgern (Polizei und Militär). Gerade das GG, das den Einsatz der Bundeswehr prinzipiell allein zur Verteidigung und nur sehr begrenzt im Innern zulässt, führt diese Unterscheidung strikt durch. Grenzüberschreitende Kriminalität und internationaler Terrorismus haben z. T. Zweifel an der Unterscheidung aufkommen lassen. An ihr sollte dennoch im Grundsatz festgehalten werden: Grenzüberschreitende Kriminalität stellt eine von außen kommende Gefahr für die i. S. dar, die im kooperativen Verbund der Staaten (durch einen Verbund der staatlichen Garantien i.r S.) zu bewältigen ist. In ein Problem der (stets auf das zwischenstaatliche Verhältnis) bezogenen äußeren Sicherheit schlägt sie erst um, wenn ein Staat – aus diesem Verbund ausbrechend – grenzüberschreitende Kriminalität in völkerrechtswidriger Weise nicht hinreichend bekämpft oder aktiv unterstützt. Eine andere (pragmatisch zu beantwortende) Frage ist es, inwieweit es sinnvoll sein kann, der Bundeswehr im Innern (nach dem Vorbild anderer Staaten) verstärkte (Unterstützungs-)Befugnisse bei Anti-Terror-Einsätzen einzuräumen (zur geltenden Rechtslage: BVerfGE 132, 1); die rechtspolitische Diskussion hierüber ist in vollem Gange.
9. Europäisierung innerer Sicherheit
Die Gewährleistung i.r S. als klassisches Herzstück souveräner Staatlichkeit unterliegt einem tiefgreifenden Europäisierungsprozess. Seinen Ausdruck findet dies in der nunmehr in den Unionsverträgen ausdrücklich verankerten Zielsetzung eines europäischen „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV). Leitgedanke dieses Ziels ist es, dass je mehr die EU zu einem Raum einer durch Grenzen nicht mehr behinderten Freiheit wird (Personenfreizügigkeit, Wegfall der Grenzkontrollen im Schengen-Raum), auch die klassischen Staatsaufgaben der Gewährleistung von Sicherheit und Recht an den Grenzen nicht mehr auf unüberwindliche Hindernisse stoßen dürfen, so dass die Union zu einem auch um ein innen- und justizpolitisches Mandat erweiterten Raum der Sicherheit und des Rechts heranwachsen muss. Verwirklicht wird dieser durch eine Verbundstruktur, bei der die staatlichen Anstrengungen sowohl horizontal verklammert (wechselseitige Kooperation) wie vertikal überwölbt werden (durch europäische Funktionswahrnehmung, z. B. das Europäische Polizeiamt Europol oder die Grenzschutzagentur Frontex). Es handelt sich dabei um ein ehrgeiziges Unterfangen; die Flüchtlingskrise 2015/16 mit ihrem zeitweisen Zusammenbruch des Schengen- und Dublin-Systems hat vor Augen geführt, wie labil der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts noch ist. Ziel des Aufbaus dieses Raums kann es vor diesem Hintergrund nicht sein, die klassische staatliche Garantie für die i. S. in Frage zu stellen. Die EU achtet deswegen die grundlegenden Staatsfunktionen, insb. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der i.n S. und lässt die diesbezügliche Primärverantwortung der Staaten unberührt (Art. 4 Abs. 2 Satz 2 EUV; Art. 72 AEUV).
Literatur
M. Möstl: Systematische und begriffliche Vorbemerkungen zum Polizeirecht in Deutschland, in: M. Möstl/T. Schwabenbauer (Hg.): Beck’scher Online-Kommentar Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Stand Juli 2017 • H.-J. Papier/U. Münch/G. Kellermann (Hg.): Freiheit und Sicherheit, 2016 • R. Priebe: Innere Sicherheit – eine europäische Aufgabe?, in: U. Becker u. a. (Hg.): Verfassung und Verwaltung in Europa, 2014, 394–418 • S. Tanneberger: Die Sicherheitsverfassung, 2014 • M. Thiel: Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, 2011 • B. Schöndorf-Haubold: Europäisches Sicherheitsverwaltungsrecht, 2010 • V. Götz: Innere Sicherheit, in: HStR IV, 32006, § 85 • M. Möstl: Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002 • G. Robbers: Sicherheit als Menschenrecht, 1987 • J. Isensee: Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983.
Empfohlene Zitierweise
M. Möstl: Innere Sicherheit, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Innere_Sicherheit (abgerufen: 22.11.2024)