Sozialisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Category:Rechtswissenschaft]]

Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr

1. Überführung in Gemeinwirtschaft

Der S.s-Artikel des Art. 15 GG eröffnet die Möglichkeit, „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel […] zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft“ zu überführen. Die Vorschrift enthält keinen Verfassungsauftrag zu einer S. (BVerfGE 12,354 [363 f.]) oder auch nur eine objektive Wertentscheidung zugunsten von S.en. Sie legt vielmehr fest, dass der Staat, wenn er sich zur Überführung von Gütern in Gemeinwirtschaft entschließt, die in Art. 15 GG angegebenen Formen und Grenzen beachten muss.

Art. 15 erlaubt die Überführung bestimmter Güter in Gemeinwirtschaft nur zum Zwecke der Vergesellschaftung: Die Güter bzw. ihre Nutzung sollen nicht mehr dem individuellen Nutzen des Eigentümers dienen, sondern – wie im Falle der Inanspruchnahme von Schlüsselindustrien – der gesellschaftlichen Bedarfsdeckung oder der Verfolgung sonstiger Gemeinwohlziele. Dies soll zum einen dadurch erreicht werden, dass das Eigentum an den Gütern auf öffentlich-rechtliche Träger – Staat im engeren Sinne, Gemeinden, Selbstverwaltungseinrichtungen – überführt wird („Gemeineigentum“), mit dem Ziel, seine Nutzung am Gemeinwohl zu orientieren. Die Verstaatlichung aus fiskalischen Gründen, insb. die Überführung in ein erwerbswirtschaftliches Unternehmen der öffentlichen Hand, ist daher durch Art. 15 GG nicht gedeckt. Die Vergesellschaftung kann zum anderen dadurch bewirkt werden, dass das Eigentum zwar formal dem Eigentümer belassen wird, der dominierende Einfluss auf die Nutzung aber der öffentlichen Hand oder gesellschaftlichen Gruppen übertragen wird („andere Formen der Gemeinwirtschaft“) und damit die Privatnützigkeit ganz oder zumindest nahezu vollständig beseitigt wird. Keine S. ist die Umverteilung von Eigentum unter Privaten, etwa von Grund und Boden (Bodenreform).

2. Sozialisierungsfähige Gegenstände

Zu den sozialisierungsfähigen Gegenständen gehören zunächst Grund und Boden, einschließlich der Bestandteile und des Zubehörs, etwa der Gebäude, es sei denn, sie werden persönlich genutzt. Die Nichtsozialisierbarkeit der Nutzung (privatgenutztes Eigenheim, nicht sozialisierbares Unternehmen) schließt auch die Sozialisierbarkeit des zugehörigen Grundstücks aus. Einer S. zugänglich sind ferner Naturschätze, zu denen die Bodenschätze und die wirtschaftlich nutzbaren Naturkräfte, wie die Wasserkraft und die Windenergie, gehören.

Zu den sozialisierungsfähigen Gütern rechnen weiter die Produktionsmittel. Die herrschende Lehre beschränkt diesen Begriff auf die in einem Betrieb der Gewinnung und Herstellung (einschließlich der Be- und Verarbeitung) wirtschaftlicher Erzeugnisse dienenden Gegenstände und Rechtstitel, und zwar sowohl die der Produktion unmittelbar dienenden Betriebsanlagen (Gebäude, Maschinen, Werkzeuge) als auch die für die Produktion verwandten Betriebsmittel (Rohstoffe, Halbfabrikate) und die in der Produktion eingesetzten Patente und Warenzeichen. Danach sind Handel, Banken, Versicherungen, Verkehrs- und Transportwesen sowie alle anderen Dienstleistungsbetriebe einer S. nicht zugänglich. Gegen diese restriktive Auslegung wird eingewandt, sie schließe angesichts der heutigen Bedeutung von Banken und Versicherungen die gemeinwirtschaftliche Alternative des Wirtschaftens praktisch aus. Diese Argumentation verkennt, dass infolge der erheblichen Verflechtung von Industrie einerseits und Banken und Versicherungen andererseits die Letzteren zu den von einer S. im Industriesektor am stärksten betroffenen Privateigentümern gehören würden. Für eine restriktive Auslegung des Begriffs der Produktionsmittel spricht auch, dass Art. 15 GG von Art. 156 WRV zwar die zentralen Begriffe der Vergesellschaftung, der Überführung in Gemeineigentum und der Gemeinwirtschaft übernommen hat, nicht aber den ebenso zentralen Begriff der „privaten wirtschaftlichen Unternehmungen“.

3. Gemeinwohl

Art. 15 GG entfaltet eine Legitimationswirkung dahingehend, dass einem konkreten S.s-Projekt keine prinzipielle Illegitimität der Verfolgung gemeinwirtschaftlicher Zielsetzungen entgegengehalten werden kann, auch wenn die volkswirtschaftliche Sinnhaftigkeit der mit Vergesellschaftungsmaßnahmen verbundenen Ausschaltung von Privatinitiative und privatnützigem Handeln generell bezweifelt werden mag. Mit dieser Einschränkung bedarf der mit einem S.s-Projekt im Einzelfall konkret verfolgte Zweck sehr wohl der Rechtfertigung durch das Gemeinwohl, ebenso der Überprüfung am Maßstab der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit.

4. Gesetzesvorbehalt und Entschädigung

Die S. darf wegen ihrer Bedeutung nur durch förmliches Gesetz erfolgen. Die entspr.e Anwendung der Regeln über die Enteignungsentschädigung (Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG) im Hinblick auf Art und Ausmaß der Entschädigung bedeutet, dass auch im Falle der S. ein gerechter Ausgleich der öffentlichen und privaten Interessen geboten ist. Die S. darf nicht zur Konfiskation entarten, d. h. darf nicht wegen des Vorwurfs der Sozialschädlichkeit der Eigentumsverwendung durch den bisherigen Eigentümer erfolgen. Daher muss wie bei der Enteignung auch im Falle der S. den betroffenen Eigentümern grundsätzlich ein äquivalenter Ausgleich für den Rechtsverlust gewährt werden. Mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Entschädigung am Verkehrswert wird eine weitgehende gemeinwirtschaftliche Umstrukturierung des gütererzeugenden Sektors der Volkswirtschaft insgesamt ausgeschlossen. Möglich ist aber eine gemeinwirtschaftliche Umstrukturierung bestimmter Unternehmen bzw. einzelner Bereiche der Wirtschaft, wie sie etwa in Notlagen und Krisenzeiten oder als Reaktion auf die internationale Wettbewerbssituation in Frage kommt.

5. Wirtschaftsverfassungsrechtliche Bedeutung

Der begrenzte Raum für die von Staats wegen erzwungene Verwirklichung gemeinwirtschaftlicher Vorstellungen ist nicht nur Folge des eingeschränkten Kreises der vom GG für sozialisierungsfähig erklärten Gegenstände und des der Vorschrift des Art. 15 zu entnehmenden Verbots, für die S.s-Entschädigung andere als die für Entschädigung für Entziehungen von Eigentum gemäß Art. 14 GG geltenden Maßstäbe zu entwickeln. Er ergibt sich vielmehr auch daraus, dass Art. 15 GG wie im Falle von Enteignungen gemäß Art. 14 Abs. 3 GG zwar erlaubt, bestimmte bestehende individuelle Rechtsstellungen zu relativieren und die Betroffenen auf die bloße Wertgarantie des Eigentums zu verweisen, aber wie Art. 14 GG das Fortbestehen von (Individual)Eigentum, und zwar gerade auch von produktiv eingesetztem Eigentum, als Einrichtung der Privatrechts- und Wirtschaftsordnung voraussetzt. Art. 14 und 15 GG stehen in einem nicht umkehrbaren Regel-Ausnahme-Verhältnis zueinander. Dass Art. 15 GG keine Handhabe bietet, die private Wirtschaftstätigkeit auf breiter Front zurückzudrängen, folgt im Übrigen daraus, dass er nicht zugl. die Berufs- und Gewerbefreiheitsgarantie des Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) zu derogieren vermag. Eine S. muss nämlich nicht notwendigerweise mit einer Monopolisierung oder Berufssperre seitens der öffentlichen Hand für die betroffenen Wirtschaftsbereiche verbunden sein. Die S.s-Ermächtigung kann daher die ihr häufig zugedachte „wirtschaftsverfassungsrechtliche Konträrfunktion“ nicht erfüllen. Sie bietet zwar die Möglichkeit zur partiellen gezielten Durchbrechung der Bestandsgarantie des Eigentums und zur gemeinwirtschaftlichen Organisation einzelner Wirtschaftsbereiche, sprengt aber angesichts der aufgezeigten Grenzen nicht den Gesamtrahmen der Staats- und Wirtschaftsverfassung.

Soweit in Landesverfassungen enthaltene S.s-Vorschriften einen über Art. 15 GG hinausgehenden Zugriff auf privates Eigentum zulassen, steht ihnen das GG entgegen. Unter der Geltung des GG hat allerdings weder der Bundes- noch ein Landesgesetzgeber von den Ermächtigungen zur S. (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG) Gebrauch gemacht. Die Nichtanwendung des Art. 15 hat jedoch nicht dazu geführt, dass die Vorschrift inzwischen obsolet geworden wäre Der Zusammenbruch der DDR hat aber S.en noch unwahrscheinlicher werden lassen.