Weimarer Reichsverfassung (WRV): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 14. November 2022, 06:01 Uhr
Die nach ihrem Entstehungsort sog.e WRV vom 11.8.1919 war eine Folge der Revolution von 1918 und des Endes der Reichsverfassung 1871. Die Vorentscheidung war bereits wenige Tage nach dem Ende der Monarchie von den Volksbeauftragten getroffen worden: Sie votierten für eine verfassunggebende Nationalversammlung. Deren Wahl erbrachte eine breite Mehrheit der bisherigen Oppositionsparteien („Weimarer Koalition“). Sie stand zwischen hohen Erwartungen (auf günstige Friedensbedingungen, Ende der Militärdiktatur und des Belagerungszustands, rasche Verbesserung der Versorgungslage) und schweren Hypotheken der Vergangenheit (Folgen von Krieg, Kriegsniederlage und Versailler Vertrag, Kontinuität gesellschaftlicher und politischer Eliten und ihres Bestrebens, die Verantwortung der jungen Republik aufzubürden [„Dolchstoß-Legende“]). Eher schwach war der Verfassungskonsens, eher auf Revision von Versailles sowie Abwehr revolutionärer Tendenzen von links und rechts als auf eine demokratische Republik gerichtet.
Die Vorentwürfe von Hugo Preuß, dem „Vater der WRV“, sahen die zukünftige Verfassung als unitarische Ordnung mit präsidialen Zügen und fast ohne Grundrechte. Schon vor Zusammentritt der Konstituante wurden diese auf Druck von Ländervertretern und Volksbeauftragten erheblich modifiziert. In Weimar berieten Plenum und Verfassungsausschuss die WRV auf hohem Niveau und im Bemühen, die besten Lehren aus der Vergangenheit und ausländischen Erfahrungen zu ziehen. Sie stärkten den Parlamentarismus (Parlament, Parlamentarismus) und ergänzten den Entwurf um den damals umstrittenen Zweiten Hauptteil („Grundrechte und Grundpflichten“). Die WRV trug überwiegend bürgerliche Züge mit sozialstaatlichen Elementen (Sozialstaat), fand aber nicht die Zustimmung der oppositionellen DVP und DNVP. Kritik aus der (Mehrheits-)SPD hinderte nicht die große Mehrheit in der Schlussabstimmung (262:75) bei 82 Abwesenden (44 aus der SPD). In der Republik stand die größte Partei stets zur WRV. Versuche, die neue Ordnung revolutionär von rechts (Kapp-Putsch) oder links zu beseitigen, schlugen fehl.
1. Grundentscheidungen der WRV
Art. 1 WRV statuierte Deutschland erstmals als demokratische Republik auf grundrechtlicher Basis.
Republik galt als Grundentscheidung gegen die Monarchie. Zu einer positiven Bestimmung der neuen Staatsidee kam es allenfalls in Ansätzen: Staat als Angelegenheit des Volkes (Staatsvolk), Volk als Trägerin der Staatsgewalt und Amtscharakter (Amt) der Herrschaft wurden genannt, blieben aber unelaboriert. Rechtliche Folgerungen wurden damals wie heute daraus nicht gezogen. Der Reichspräsident verkörperte die neue Staatsform. Von H. Preuß als direkt gewähltes Gegengewicht gegen den Reichstag konzipiert, waren ihm die bürgerlichen Parteien in Weimar eher im Ergebnis als in der Begründung gefolgt, während die Unabhängige SPD und die Mehrheits-SPD allein symbolische Kompetenzen bevorzugten. Der Verfassungstext statuierte die Volkswahl mit siebenjähriger Amtszeit. Sie sollte dessen eigenständige Legitimation neben dem Reichstag begründen und wurde später vielfach als Ausdruck des Willens zur Einheit im Gegensatz zum pluralen Reichstag gedeutet. Während Friedrich Ebert von der Nationalversammlung gewählt war, galten die beiden Wahlen Paul von Hindenburgs (1925, 1932) nicht als Plebiszite gegen die Republik, wohl aber für eine andere Republik. Dem Staatsoberhaupt standen eher konventionelle Aufgaben zu: Ernennung von Regierung, Beamten und Offizieren; Ausfertigung von Gesetzen; Vertretung gegenüber dem Ausland; Begnadigungsrecht, militärischer Oberbefehl und „Diktaturgewalt“ (Art. 48 WRV). Letztere wurden weit ausgelegt: Der Oberbefehl ermöglichte die Reichswehr als Staat im Staate, der sich gegen demokratische Kontrolle (Politische Kontrolle) abschottete, selbst hingegen in die Politik der Regierung einmischte. Art. 48 WRV entwickelte sich vom anfänglichen Ausnahmerecht gegen den latenten Bürgerkrieg über ein wirtschaftspolitisches Notregime in den ökonomischen Existenzkrisen der Republik hin zur „Reserveverfassung“ gegenüber einem Reichstag, dessen Mehrheitsfähigkeit durch Präsidialkabinette zunächst beeinträchtigt und seit 1932 lahmgelegt wurde. Ähnliches geschah dem größten Land im „Preußenschlag“ (1932), welcher das Ende der WRV besiegeln sollte. Parallel dazu mutierte das Kanzlerernennungs- zum Kanzlerauswahlrecht: Unter F. Ebert mangels parlamentarischer Kandidaten, aber noch in konsensualen Formen mit den Parteien; unter P. von Hindenburg auch ohne oder gar gegen diese mit Auflösungs- und Neuwahldrohungen (Art. 25 WRV). Der Reichspräsident war Symbol und Schicksal der Republik zugleich. Das später viel gebrauchte Bild vom „Ersatzkaiser“, anfangs eine Formel der Opposition gegen weitreichende Pläne H. Preuß’, taugt allenfalls zur Charakterisierung der Präsidentschaft P. von Hindenburgs und erlangte erst ex post seine Wirkmächtigkeit.
Demokratie war im Verfassungstext nicht explizit genannt, wohl aber implizit statuiert (Art. 1 S. 2 WRV). Die Staatsgewalt sollte in Republik, Ländern und Gemeinden (Art. 17 WRV) vom Volk ausgehen. Das gemischte Demokratiemodell der WRV stellte präsidiale, repräsentative und plebiszitäre Elemente nebeneinander. Nach der Intention der Nationalversammlung sollten sie sich wechselseitig ergänzen, nicht hingegen beeinträchtigen oder paralysieren. Grundlage war das parlamentarische System mit den Aufgaben der Volksvertretungen zur Gesetzgebung, Wahlen oder Vertrauensvoten für Regierungen, Kontroll- und Öffentlichkeitsaufgaben. Parlamentarismus galt als abbildgenaue Vertretung aller politischen Strömungen, der pluralen Interessen (Pluralismus) und Anschauungen im Volk und deren Mitwirkung an der Staatsgewalt. Grundlage war das neue Wahlrecht auf Basis der Allgemeinheit einschließlich des Frauenwahlrechts, der Unmittelbarkeit, Freiheit, Geheimheit und Gleichheit als Antithese gegen Abstufungen im Kaiserreich. Die in der WRV vorgeschriebenen ausgestaltbaren „Grundsätze der Verhältniswahl“ (Art. 17, 22 WRV) waren eine Konzession an damalige Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit von Listenwahl und parlamentarischer Regierung. Versuche in den Ländern, Parlamentszersplitterung und Mehrheitsunfähigkeit durch moderate Sperrklauseln entgegenzuwirken, stießen trotzdem bis 1930 auf Widerstand des StGH. So fehlten Instrumente gegen Parteien- und Parlamentszersplitterung. Die in der WRV vielfach vorausgesetzten Parteien unterlagen dem Vereinsrecht einschließlich seiner Verbotsmöglichkeiten, von denen mindestens einundvierzigmal Gebrauch gemacht wurde. Fraktionen erlangten darüber hinaus eine staatsrechtliche Stellung mit staatsorganschaftlichen Elementen. Stabil war der Parlamentarismus in wichtigen Ländern eher als in der Republik. Seine Schwächung in der Republik durch Reichstagsauflösungen oder deren Androhung bis hin zu negativen Mehrheiten war das Gegenteil der Intentionen der WRV. Die parlamentarische Republik verwandelte sich in eine Präsidialrepublik mit Kontrolle über das Parlament.
Als Korrektiv kannte die WRV sechs Formen von Plebisziten, von denen allein Volksbegehren und Volksabstimmungen über Gesetze bedeutsam werden sollten. Einerseits war die WRV offen für unmittelbare Demokratie, andererseits verhinderten hohe Beteiligungsquoten (bis zu 50 % der Stimmberechtigten) deren Erfolg. Das Scheitern von acht Anläufen in der Republik und ca. 60 Begehren in den Ländern trotz z. T. demagogischer Fragestellung und polemischer Wahlkämpfe waren auch Ausdruck staatsbürgerlicher Reife des Volks. An ihnen ist die WRV nicht gescheitert. Erfolgreich war nur ein Plebiszit auf Auflösung des Oldenburger Landtags (1932).
Der Weimarer Bundesstaat stand formal in der Tradition der Monarchie, seine Ausgestaltung war allerdings entgegengesetzt. Träger der Republik waren die Bürger, nicht mehr die Länder. Deren Eigenständigkeit und Verfassungsautonomie war im Rahmen der Grundsätze der WRV (Art. 17 WRV) garantiert. Da eine Bundesstaatsreform ausblieb, bestand auch die extreme Ungleichheit der Länder fort. Der Supremat Preußens war allein im Reichsrat begrenzt, dessen Mitwirkung an der Gesetzgebung der Republik geringe Relevanz erlangte. Völlig verschoben hatte sich dagegen die Finanzverfassung: War früher das Reich von den Ländern abhängig, so waren es nun diese von der Republik. Konkurrenzen und Rivalitäten auch über Finanzfragen entstanden teils aus bundesstaatlichen, häufiger aus parteipolitischen Gegensätzen etwa mit dem sozialdemokratischen Preußen und teils partikularistischen, teils republikfeindlichen Tendenzen in Bayern.
Der Zweite Hauptteil der WRV vereinte rechtsstaatliche, sozialstaatliche und demokratische Grundrechte und Grundpflichten. Ursprünglich aus der Tradition der Paulskirche stammend gingen sie partiell weit auch über zeitgenössischen Verfassungen der Länder und anderer Staaten hinaus und wiesen auf moderne Menschenrechtsverbürgungen (Menschenrechte) voraus. Während die klassischen Freiheits- und Gleichheitsgarantien (Gleichheit) den Texten aus dem 19. Jh. folgten, fanden sich daneben soziale, kulturelle und ansatzweise politisch-partizipative Verbürgungen. Sie waren im Verfassungstext differenziert abgestuft nach unmittelbar anwendbaren Garantien, Gesetzgebungsaufträgen und Staatszielbestimmungen. Die WRV wies die Realisierung grundrechtlich geprägter Sozialordnungen dem Gesetzgeber zu. Freiheit und Demokratie wurden einander positiv, seltener negativ zugeordnet. Freiheit sollte die Basis einer demokratischen Staatsordnung garantieren und durch deren Träger als freie Bürger hergestellt werden, umgekehrt die Bürger durch ihre Mitwirkung am Staat Freiheit herstellen und garantieren. Zukunftweisend, wenn auch damals nicht integrierend, sollten die kirchenfreundlichen religionsrechtlichen Regelungen (Art. 136–141 WRV) werden (Kirche und Staat), die auch gegenwärtig fortgelten (Art. 140 GG). Eine normative Schwäche der damaligen Grundrechte folgte aus dem Fehlen von Regelungen über ihre Adressaten und ihre (unmittelbare) Wirkung: Eine solche Klausel war in der Nationalversammlung im letzten Moment gestrichen worden. So blieb die Einlösung der Grundrechtsversprechen überwiegend eine Gestaltungsaufgabe der Legislative. Deren Leistungen waren beachtlich, aber entsprechend ihren parteipolitisch wechselnden Verfassungsloyalitäten unterschiedlich. Und sie war eine Auslegungsaufgabe der Gerichte: Sie stand aus prozessualen Gründen weniger dem StGH als Verfassungsgericht (Art. 19 WRV), sondern den Fachgerichten zu. Diese differenzierten nach der unmittelbaren Anwendbarkeit der Garantien und gelangten so zur Justiziabilität eher der bestandsschützenden, fast nie der gestaltungs- und ausführungsbedürftigen Garantien. Die je länger je mehr postulierte Vermutung für die unmittelbare Grundrechtswirkung setzte sich so nur zögernd und einseitig durch.
2. Die WRV in Staatsrechtswissenschaft und Geschichtsschreibung
Die zeitgenössische Staatsrechtswissenschaft blieb wie die politische Kultur der Republik und das gesamte Volk extrem gespalten. Der Richtungsstreit zwischen staatszentrierter („geisteswissenschaftlicher“) und verfassungszentrierter (nicht nur „positivistischer“) Auslegung betraf alle Facetten der Zuordnung von Politik und Recht. Der Republik fehlten weder Republikaner noch Demokraten noch eine verfassungsloyale Staatsrechtswissenschaft. Einigkeit bestand in der Diagnose zahlreicher Mängel der politischen Wirklichkeit. Umstritten war, ob die WRV als Krisenursache oder auch als ein Weg zu ihrer Lösung anzusehen sei. Dieser Streit politisierte sich zwischen demokratischem und antidemokratischem Denken in der Verfassungsreformdebatte. Das historische Bild von der WRV war früher überwiegend negativ. Während die damaligen verfassungsloyalen Traditionen abgebrochen waren, blieb die frühere Verfassungskritik als „Zeitzeugin“ dominant. Der Untergang der Republik erschien als Bestätigung ihrer früheren Position. Die WRV galt lange als eine maßgebliche Ursache für den Untergang der Republik, als falsche Verfassung zur falschen Zeit. In neuerer Zeit werden auch ihre Stärken gewürdigt: Die Besinnung auf die Intentionen der Nationalversammlung, den Verfassungstext, die dramatische politische Situation der Zwischenkriegszeit und den intensiven Verfassungswandel der Republik legen Differenzierungspotentiale frei.
Gegenwärtig dominiert die Auffassung: Das „Wagnis Demokratie“ (Dreier/Waldhoff 2018) ist nicht wegen, sondern trotz seiner Verfassung untergegangen, nachdem diese auch unter Billigung führender Staatsorgane und Staatsrechtslehrer zunächst ausgehöhlt und umgangen wurde, bis sie letztlich leerlief. Die WRV endete im NS-Staat (Nationalsozialismus), wurde aber formal nie aufgehoben. Sie war ein Meilenstein der deutschen und europäischen Verfassungsgeschichte des 20. Jh., die weit über ihre Entstehungszeit hinauswies und rechtliche Entwicklungen bis in die EuGRC vorzeichnete. Die WRV war eine „gute Verfassung in schlechter Zeit“ (Gusy 2018), eine glücklose, keine missglückte Verfassung.
Literatur
U. di Fabio: Die Weimarer Verfassung, 2018 • H. Dreier/C. Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, 2018 • C. Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, 2018 • J.-D. Kühne: Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, 2018 • M. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999 • C. Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung, 1997 • E. R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6, 1981 • G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 141933 • G. Anschütz/R. Thoma (Hg.): Hdb. des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1–2, 1930 ff.
Empfohlene Zitierweise
C. Gusy: Weimarer Reichsverfassung (WRV), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Weimarer_Reichsverfassung_(WRV) (abgerufen: 22.11.2024)