Europäische Verfassung: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 14. November 2022, 05:55 Uhr

1. Begriff

Mit e.r V. wird die Grundordnung der EU bezeichnet, das Organisationsstatut, das jede Gemeinschaft und insb. eine Rechtsgemeinschaft, als die sich die EU versteht, in der das Handeln der politischen Akteure an das Recht gebunden ist, benötigt (Verfassung). Verbindet man den Begriff „Verfassung“ allein mit einem Staat und reduziert ihn darauf, so wird hinsichtlich der EU, die zwar in erheblichem Umfang Staatsfunktionen ausübt, aber kein Staat ist, nicht nur deren „Verfassungsfähigkeit“ in Frage gestellt, sondern provoziert dieser Begriff sogar, wie das Beispiel des gescheiterten Verfassungsvertrags zeigt, Widerstände. Der Begriff e. V. bedarf daher eines Verständnisses, das den bes.n Strukturen der EU als Union der Staaten (Staatenverbund; vgl. BVerfGE 89, 155, 188; BVerfGE 123, 267, LS. 1) und der Bürger Rechnung trägt. Wegen dieser Besonderheit der EU hat der Begriff „EU-Verfassungsrecht“ eine doppelte Bedeutung, indem er einerseits die e. V. als Bestandteil des Europarechts, andererseits die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die EU als Integrationsgemeinschaft mit übertragenen Hoheitsrechten (vgl. Art. 23 GG) in ihren Mitgliedstaaten erfasst. Im Zusammenwirken von beidem zeigt sich die EU als „Verfassungsverbund“.

2. „Verfassungsfähigkeit“ der EU

Die Ablehnung des Begriffs e. V. beruht auf der Annahme, dass eine Verfassung die Existenz eines Staates voraussetze, woraus gefolgert wird, dass die EU mangels Staatsqualität nicht „verfassungsfähig“ (Koenig 1998: 275) sei. Soweit – nicht ganz zu Unrecht – begriffsjuristische Deduktionen befürchtet werden, ist diese Skepsis verständlich. Anders, wenn man sich des Unterschieds der EU zu einem Bundesstaat bewusst ist. Dieser zeigt sich gerade darin, dass die verfassungsgebende Gewalt für die Unionsverträge EUV und AEUV als der Grundlage der EU (vgl. Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV) nicht bei den Unionsorganen, sondern den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ (vgl. Art. 48 Abs. 4 EUV) liegt, was jetzt durch das Austrittsrecht aus der EU (Art. 50 EUV) bestätigt wurde. Daher war für die 2004 beschlossene Verfassung für Europa ein Vertrag erforderlich, der an der fehlenden Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten scheiterte. Bezieht man den Begriff „Verfassung“ dann nicht nur auf den Staat als die herkömmliche Form, sondern auf alle Erscheinungsformen institutionalisierter politischer Herrschaft, so spricht dies für einen weiten Verfassungsbegriff, der auch das Primärrecht der EU erfasst, da dieses deren öffentliche Gewalt im Interesse der Bürger ordnen und begrenzen soll.

3. Das Scheitern des Verfassungsvertrags

Ziel des in Rom am 29.10.2004 unterzeichneten VVE war es, nachdem bisherige Initiativen allein von privater Seite sowie 1984 vom &pfv;Europäischen Parlament, somit nicht von den für die europäische Verfassungsgebung zuständigen Organen, erfolgt waren, den Begriff „Verfassung“ im EU-Primärrecht zu etablieren. Ein so bezeichnetes einheitliches Dokument sollte nicht nur die grundlegende Struktur und das Rechtssystem der EU, sondern auch die Werte der Gesellschaften, die sie repräsentiert, zum Ausdruck bringen und nicht nur die bisherigen Errungenschaften der EU systematisieren, sondern eine solide und dauerhafte Grundlage für ihre künftige Entwicklung bieten. Für das Scheitern in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gibt es mehrere Gründe. Ein wichtiger Grund war sicher, dass der Begriff „Verfassung“ nicht, wie erwartet, Befürwortung durch die Unionsbürger, sondern die Besorgnis auslöste, in einem damit verbundenen europäischen Staat die nationalen Identitäten zu verlieren. Daher wurde im Vertrag von Lissabon, der den Inhalt des Verfassungsvertrags weitgehend übernahm, bewusst nicht nur auf den Verfassungsbegriff, sondern auch auf das Verfassungskonzept verzichtet. Deutlich wird dies in der Aufteilung auf die Verträge EUV, der durch den Verweis in Art. 6 Abs. 1 die EuGRC einbezieht, und AEUV, sowie durch die unterbliebene Übernahme der ausdrücklichen Bestimmung über den Vorrang des Unionsrechts (Art. I-6 VVE), der Bestimmungen über die Symbole der Union (Art. I-8 VVE) und der in Art. I-33 VVE vorgesehenen Bezeichnungen „Europäisches Gesetz“ für Verordnung und „Europäisches Rahmengesetz“ für RL (jetzt Art. 288 Abs 2 bzw. 3 AEUV).

4. Das EU-Primärrecht als Verfassung der EU

Gleichwohl gibt es eine e. V., nämlich die Gründungsverträge und ihre Fortentwicklung, jetzt der Vertrag von Lissabon. Sie enthalten mit ihren Garantien, insb. den Grundfreiheiten und der EuGRC, der Festlegung der auf die EU übertragenen Kompetenzen und der Verteilung auf ihre Organe in einem der Gewaltenteilung in einem Staat entspr.en institutionellen Gleichgewicht wesentliche Elemente von Verfassungen. Damit erfüllen sie für die Ausübung europäischer Herrschaftsgewalt deren zentrale Funktion der Legitimation, Zuweisung und Begrenzung von Herrschaft.

Der EuGH bezeichnete bereits den EWG-Vertrag als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“ (EuGH Rs. 294/83 – Les Verts/EP, Rdnr. 23). Im Gutachten zum von ihm blockierten Beitritt der EU zur EMRK betont der EuGH die Elemente der „Verfassungsstruktur“ der EU (Gutachten 2/13 Rdnr. 165). Auch wenn die textliche Aufnahme des Begriffs „Verfassung“ zurückgewiesen wurde, was – wie zuletzt die Motive für die Befürworter des Brexit – die Grenzen für eine von den Bürgern aller Mitgliedstaaten akzeptierten Integration und damit für die in der Präambel des EUV angestrebte „immer engere Union der Völker Europas“ aufzeigen und Mahnung für die Wahrung der Balance zwischen Union und Mitgliedstaaten sein sollte: Die Verträge (EUV, AEUV, EuGRC) leisten einen Beitrag zur Integration der Unionsbürger in einem zusammenwachsenden politischen Gemeinwesen „EU“ und einer dieser und ihrer speziellen Struktur adäquaten europäischen Identität neben der gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV zu achtenden jeweiligen nationalen Identität. Zur e.n V. gehört, dass die EU auf ihren Mitgliedstaaten basiert und ihre Fortentwicklung durch Verfassungs-, d. h. Primärrechtsänderung vom einstimmigen Willen aller Mitgliedstaaten und je nach deren verfassungsrechtlicher Regelung (so in Irland) auch vom zustimmenden Votum der Bürger getragen sein muss. Wie bereits der Verfassungsvertrag hat der Vertrag von Lissabon keine verfassungsändernde Gewalt der EU konstituiert, sondern diese bei den Mitgliedstaaten belassen. Dies dürfte auf unabsehbare Zeit das politisch Realistische widerspiegeln und muss daher bei den angesichts der gegenwärtigen Krisen der EU diskutierten Reformen berücksichtigt werden.