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− | Die §§ 232 ff. StGB haben keine direkten Vorläufervorschriften im StGB von 1871. Vorschriften über den M. wurden in das StGB erstmals durch das 4. StrRG vom 23.11.1973 (BGBl I: 1725) in Form der §§ 180a Abs. 3, 4 und 181 StGB a.F. eingeführt. Durch das 26. StrÄndG vom 14.7.1992 (BGBl I: 1255) wurden die Vorschriften grundlegend umgestaltet und in ihrem Anwendungsbereich erweitert. Mit dem 37. StRÄndG vom 19.2.2005 (BGBl I: 239) wurde der M. schließlich aus dem 13. Abschnitt (betreffend die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung) entfernt und als § 232 ff. StGB in den 18. Abschnitt inkorporiert. Anlass zur Reform gaben völker- und europarechtliche Vorgaben, nämlich zum einen das „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“ samt einem Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des M.s, insb. des Frauen- und Kinderhandels (UN Doc. A/55/383; deutsche Fassung in BT-Drs. 15/5150: 46 ff. – Palermo-Protokoll), und zum anderen der Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des M.s des [[Rat der Europäischen Union|Rates der Europäischen Union]] vom 19.7.2002 (ABl.EG L 203: 1 ff., auf Vorschlag der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]], KOM(2000) 854 end). | + | Die §§ 232 ff. StGB haben keine direkten Vorläufervorschriften im StGB von 1871. Vorschriften über den M. wurden in das StGB erstmals durch das 4. StrRG vom 23.11.1973 (BGBl I: 1725) in Form der §§ 180a Abs. 3, 4 und 181 StGB a.F. eingeführt. Durch das 26. StrÄndG vom 14.7.1992 (BGBl I: 1255) wurden die Vorschriften grundlegend umgestaltet und in ihrem Anwendungsbereich erweitert. Mit dem 37. StRÄndG vom 19.2.2005 (BGBl I: 239) wurde der M. schließlich aus dem 13. Abschnitt (betreffend die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung) entfernt und als § 232 ff. StGB in den 18. Abschnitt inkorporiert. Anlass zur Reform gaben völker- und europarechtliche Vorgaben, nämlich zum einen das [[Organisierte Kriminalität|„Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“]] samt einem Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des M.s, insb. des Frauen- und Kinderhandels (UN Doc. A/55/383; deutsche Fassung in BT-Drs. 15/5150: 46 ff. – Palermo-Protokoll), und zum anderen der Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des M.s des [[Rat der Europäischen Union|Rates der Europäischen Union]] vom 19.7.2002 (ABl.EG L 203: 1 ff., auf Vorschlag der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]], KOM(2000) 854 end). |
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Aktuelle Version vom 30. Mai 2023, 12:38 Uhr
1. Begriff und gesetzliche Regelung
Die Strafvorschriften gegen den M., die heute den Anfang des 18. Abschnitt des Besonderen Teils des StGB (Straftaten gegen die persönliche Freiheit) bilden, haben an keiner Stelle den „Handel mit Menschen“ zum Gegenstand. Vielmehr regeln sie in einem abgestuften System mit unterschiedlichen Strafdrohungen verschiedene Formen der Einflussnahme (oder ihrer Unterstützung) auf als bes. schutzwürdig erachtete Personen, die insb. dazu gebracht werden (sollen), unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen zu arbeiten oder der Prostiution nachzugehen; als bes. praxisrelevante Verhaltensformen, zu denen der geschütze Personenkreis gebracht werden kann, sind seit 2016 explizit auch die Ausübung der Bettelei und das Gewähren einer rechtswidrigen Organentnahme im Gesetz aufgenommen.
2. Praktische Bedeutung
M. ist weltweit betrachtet ein ernstes Problem, das spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhanges auch in Europa akut geworden ist. Die Bedeutung der Strafvorschriften des StGB in der Verfolgungspraxis wird dennoch als (bislang) eher gering eingeschätzt. Ursache ist v. a. die Konfliktsituation, in der sich Tatopfer aus Nicht-EU-Staaten befinden, denn ihnen droht häufig die Abschiebung, da sie sich i. d. R. widerrechtlich im Bundesgebiet aufhalten; sie ziehen es daher vor, sich den Strafverfolgungsbehörden nicht als Zeugen zur Verfügung zu stellen. Oftmals werden das Opfer bzw. seine Angehörigen im Herkunftsstaat auch bedroht, um es an einer Aussage zu hindern. Die Aufklärungsquote der bekannt gewordenen Fälle ist verhältnismäßig hoch; ob die Dunkelziffer (auch im Vergleich zu anderen Kriminalitätsbereichen) tatsächlich wesentlich höher liegt, wie immer wieder kolportiert wird, ist schwer einzuschätzen.
3. Normgeschichte und internationale Vorgaben
Die §§ 232 ff. StGB haben keine direkten Vorläufervorschriften im StGB von 1871. Vorschriften über den M. wurden in das StGB erstmals durch das 4. StrRG vom 23.11.1973 (BGBl I: 1725) in Form der §§ 180a Abs. 3, 4 und 181 StGB a.F. eingeführt. Durch das 26. StrÄndG vom 14.7.1992 (BGBl I: 1255) wurden die Vorschriften grundlegend umgestaltet und in ihrem Anwendungsbereich erweitert. Mit dem 37. StRÄndG vom 19.2.2005 (BGBl I: 239) wurde der M. schließlich aus dem 13. Abschnitt (betreffend die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung) entfernt und als § 232 ff. StGB in den 18. Abschnitt inkorporiert. Anlass zur Reform gaben völker- und europarechtliche Vorgaben, nämlich zum einen das „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“ samt einem Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des M.s, insb. des Frauen- und Kinderhandels (UN Doc. A/55/383; deutsche Fassung in BT-Drs. 15/5150: 46 ff. – Palermo-Protokoll), und zum anderen der Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des M.s des Rates der Europäischen Union vom 19.7.2002 (ABl.EG L 203: 1 ff., auf Vorschlag der Europäischen Kommission, KOM(2000) 854 end).
Die letzten – umfangreichen – Änderungen erfolgten im Jahr 2016 insb. zur Umsetzung der RL 2011/36/EU (RL des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2011 zur Verhütung und Bekämpfung des M.s und zum Schutz seiner Opfer – ABl L 101 vom 15.4.2011: 1 ff.) durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des M.s vom 11.10.2016 (BGBl I: 226 ff.). In ihm sind etwa die Varianten der Verleitung zur Bettelei, zur Duldung einer Organentnahme oder der Ausnutzung zur Begehung von Straftaten ins Gesetz gekommen.
Die europäische Ebene als Motor des Schutzes gegen M. wird auch in der Rechtsprechung des EGMR deutlich, der schon im Jahre 2010 (im Fall Rantsev gegen Zypern und Russland) betont hat, dass Art. 4 EMRK, der Sklaverei, Knechtschaft sowie Zwangs- und Pflichtarbeit verbietet, bei einer zeitgemäßen Auslegung auch Fälle des M.s erfasse(n könne) und dass die Garantie des Art. 4 EMRK von den Konventionsstaaten die Schaffung effektiver Normen sowie deren Umsetzung bei der Verfolgung und Bestrafung von M. verlangt.
4. Die geltende Ausgestaltung des strafrechtlichen Schutzes
4.1 Geschützter Personenkreis
Die §§ 233 ff. StGB schützen zum einen Personen, deren persönliche oder wirtschaftliche Zwangslage oder deren Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, ausgenutzt wird bzw. Personen unter 21 Jahren. Alle drei Personenkreise sind strukturell durch eine bes. Hilfs- und Schutzlosigkeit gekennzeichnet, die es dem Täter erleichtern, Einfluss auf ihr Verhalten zu nehmen. Dem gleichgestellt wird in den Vorschriften regelmäßig die Einflussnahme durch Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List bzw. ihre Entführung oder das Sich-Bemächtigen der geschützten Personen, worunter die Erlangungen physischer Herrschaftsmacht zu verstehen ist.
4.2 Tatbestandliches Verhalten
Unter Strafe gestellt ist die Veranlassung, dass die geschützten Personen (bzw. andere Personen durch die oben genannten Einflussnahmen) bestimmten Tätigkeiten nachgehen bzw. sich bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen unterwerfen. Im Detail sind dies die Veranlassung zur Aufnahme bzw. Fortsetzung der Prostitution oder Vornahme ausbeuterischer sexueller Handlungen an den oder durch die geschützten Personen (§ 232a Abs. 1 bzw. 3 StGB) oder aber zur Aufnahme oder Fortsetzung ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse (einschließlich angeleiteter Bettelei) oder Unterwerfung unter Sklaverei, Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft (§ 232b Abs. 1 bzw. 3 StGB).
Eine ausbeuterische Beschäftigung liegt dabei vor, wenn diese aus rücksichtslosem Gewinnstreben zu Arbeitsbedingungen erfolgt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen solcher Arbeitnehmer stehen, welche der gleichen oder einer vergleichbaren Beschäftigung nachgehen (§ 232 Abs. 1 S. 2 StGB).
Ebenfalls eine Strafe wird demjenigen angedroht, der die Person (unabhängig von der Veranlassung zu diesen Verhaltensweisen) selbst durch eine Beschäftigung in Sklaverei etc., bei Ausübung der Bettelei oder auch bei der Begehung von mit Strafe bedrohten Handlungen durch diese Person ausbeutet (§ 233 Abs. 1 StGB). Das Gleiche gilt für denjenigen, der an einem Opfer, das der Prostitution nachgeht, gegen Entgelt sexuelle Handlungen vornimmt und dabei die Zwangslage des Opfers ausnutzt; dies führt zu Strafbarkeitsrisiken auch für den Freier, die mit anderen Regelungen zur Enttabuisierung und Entkriminalisierung der Prostitution in einem schwierigen Verhältnis stehen.
Auch wer solche ausbeuterischen Aktivitäten – sei es durch sich selbst oder durch Dritte – durch Anwerben, Befördern, Weitergeben, Beherbergen oder Aufnehmen des Opfers fördert, wird bestraft (§ 232 Abs. 1 bzw. 2 StGB).
4.3 Strafschärfungen
Verschärfte Strafen werden dem Täter angedroht, wenn das Opfer zur Zeit der Tat unter 18 Jahren alt ist, wenn der Täter das Opfer bei der Tat schwer misshandelt oder in ernste Gefahren für Leib und Leben bringt oder wenn er gewerbsmäßig bzw. als Mitglied einer Bande handelt (vgl. §§ 232 Abs. 3, 232a Abs. 4, 232b Abs. 4, 233 Abs. 2 StGB). Ebenfalls strafschärfend wirkt die Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung (§ 233a StGB).
4.4 Anwendbarkeit deutschen Strafrechts
Für Unterstützungshandlungen nach § 232 StGB ist in § 6 Nr. 4 das Weltrechtsprinzip angeordnet, d. h. deutsches Strafrecht ist unabhängig vom Begehungsort anwendbar. Jedenfalls für Taten, die im Ausland von Ausländern an Ausländern begangen werden, wird man hier einen zusätzlichen legitimierenden Anknüpfungspunkt im Einzelfall verlangen müssen, da sich die deutsche Strafverfolgungspraxis sonst schlicht „überheben“ würde.
Literatur
J. Renzikowski/H. Kudlich: Reform der Menschenhandelsdelikte im zweiten Anlauf – und immer noch nichts gelernt, in: ZRP 48/2 (2015), 45–48 • D. Reintzsch: Strafbarkeit des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, 2013 • L. Hempel: Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, 2011 • A. L. Herz/E. Minthe: Straftatbestand Menschenhandel, 2006 • M. Dreixler: Der Mensch als Ware, 1998.
Empfohlene Zitierweise
H. Kudlich: Menschenhandel, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Menschenhandel (abgerufen: 22.11.2024)