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− | Aufgegriffen beim kulturellen Fremdkontakt während der englischen Südsee-Erkundungen des 18. Jh., wurde T. in Europa zunächst nur bekannt als Fremdwort für eine Reihe von als kurios empfundenen Meidungssitten in Polynesien. Hierbei verschob sich die Bedeutung vom polynesischen <I>ta pu</I> als „bes. hervorgehoben“ zum europäischen tabu als „verboten“. Die wissenschaftliche Karriere von T. dämmerte erst Ende des 19. Jh. unter evolutionistischen Vorzeichen, als die [[Religionswissenschaft]] den T.-Begriff mit dem Ursprung von [[Religion]] überhaupt verknüpfte und die [[Ethnologie]] an ihm den Typus vom „Denken der Wilden“ entwarf. Die Doppelgleisigkeit der Thematisierung von T. anhand seiner | + | Aufgegriffen beim kulturellen Fremdkontakt während der englischen Südsee-Erkundungen des 18. Jh., wurde T. in Europa zunächst nur bekannt als Fremdwort für eine Reihe von als kurios empfundenen Meidungssitten in Polynesien. Hierbei verschob sich die Bedeutung vom polynesischen <I>ta pu</I> als „bes. hervorgehoben“ zum europäischen tabu als „verboten“. Die wissenschaftliche Karriere von T. dämmerte erst Ende des 19. Jh. unter evolutionistischen Vorzeichen, als die [[Religionswissenschaft]] den T.-Begriff mit dem Ursprung von [[Religion]] überhaupt verknüpfte und die [[Ethnologie]] an ihm den Typus vom „Denken der Wilden“ entwarf. Die Doppelgleisigkeit der Thematisierung von T. anhand seiner besonderen Ausprägungen bei einer Volksgruppe mit gleichzeitig allgemeinen Schlussfolgerungen bzgl. des T.-Begriffes ist seither kennzeichnend für den wissenschaftlichen Diskurs. Dessen Schwerpunkt lag bisher in der Ethnologie, während die Religionswissenschaft von T. als Gattungsbegriff wegen seiner eurozentristischen Verstrickungen inzwischen abgerückt ist. In soziologischer Sicht stellt T. eine weitere Variante zur Herstellung von sozialer [[Ordnung]] dar. Hierbei fungieren T.s als Interpretationsrelevanzen, die festgelegte Sinnzusammenhänge so typisieren, dass sie zumeist für die eigene Person große Gefahren bergen. Gestützt wird diese Assoziation stets von starken Emotionen, i. d. R. Angst. Bekannte Sinnzusammenhänge umfassen Dinge, Orte, Personen und Handlungen, aber auch Worte, Namen und Themen. Weil die Gefahr als unvermittelt eintretendes Resultat des Kontakts gedacht wird, erfordern T.s für ihre Wirksamkeit das hinzutretende Sanktionieren durch Andere nicht, auch wenn diese sie verstärkend flankieren können und zur Sozialisierung von T.s allemal unabdingbar sind. Dass die Übertretung von T.s zudem als rituelle Verschmutzung verstanden wird, die selbst weiter verschmutzen kann, aber in vielen Fällen durch Teilnahme an reinigenden [[Ritual|Ritualen]] auch wieder aufhebbar ist, weist auf eine weitere Eigenart der [[Soziale Kontrolle|sozialen Kontrolle]] durch T.s gegenüber jener durch moralische Normierung. |
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− | Gerade die Gründung des Zusammenlebens auf Angst vor beschädigenden Gefahren hat über die Barriere kultureller Differenz hinweg eine rationalistische Skepsis provoziert. Sie sucht die Unbegründetheit von T.s dadurch zu erweisen, dass sie den Glauben an die befürchteten Konsequenzen der Übertretung als Kausalitätsbehauptung nimmt und diese mit naturwissenschaftlichem Blick prüft. Die am Einzel-T. ansetzende Betrachtung lässt indes die Gemeinsamkeit und Grundlage aller derartiger Vorstellungen außer Acht. Sie liegt im Stellenwert des Heiligen als Prinzip menschlicher Welterfassung. Dieses trennt nicht nur scharf zwischen Heiligem und Profanem mitsamt | + | Gerade die Gründung des Zusammenlebens auf Angst vor beschädigenden Gefahren hat über die Barriere kultureller Differenz hinweg eine rationalistische Skepsis provoziert. Sie sucht die Unbegründetheit von T.s dadurch zu erweisen, dass sie den Glauben an die befürchteten Konsequenzen der Übertretung als Kausalitätsbehauptung nimmt und diese mit naturwissenschaftlichem Blick prüft. Die am Einzel-T. ansetzende Betrachtung lässt indes die Gemeinsamkeit und Grundlage aller derartiger Vorstellungen außer Acht. Sie liegt im Stellenwert des Heiligen als Prinzip menschlicher Welterfassung. Dieses trennt nicht nur scharf zwischen Heiligem und Profanem mitsamt entsprechenden Verschmutzungsfolgen bei vorkehrungslosem Kontakt. Das Heilige verfügt – nach den theologischen Umbauten des Christentums schwer nachvollziehbar – neben einer reinen, mit Ehrfurcht begegneten Seite auch über eine unreine, Abscheu hervorrufende Seite. An diese schließen T.s an, die so das Göttliche mit der physischen und sozialen Welt kurzschließen. |
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:12 Uhr
1. Das Wissensfeld vom Tabu
Der T.-Begriff führt auf einen nur multidisziplinär entwirrbaren Problemzusammenhang mit global-historischer Verwicklung. Entstanden ist er in vielfachen Rezeptions- und Popularisierungsschleifen, die sich über Fächergrenzen, Kontinente und Zeiten hinwegbewegen und dabei eine Eigenkomplexität des T.-Problems aufgebaut haben, die nicht mehr durch einfachen Realitätsabgleich aufgelöst werden kann. Heute stellt sich T. als ein Wissensfeld mit zwei Polen dar, die beide stark von den Entstehungsumständen dieses Wissensfeldes geprägt sind: einerseits eine Vielzahl wissenschaftlicher Konzipierungsversuche von T. und andererseits T. als Element des gesellschaftlichen Wissensvorrats, das individuell im Alltag als Rezeptwissen und als politische Semantik verfügbar ist.
2. Tabu-Theorie
Aufgegriffen beim kulturellen Fremdkontakt während der englischen Südsee-Erkundungen des 18. Jh., wurde T. in Europa zunächst nur bekannt als Fremdwort für eine Reihe von als kurios empfundenen Meidungssitten in Polynesien. Hierbei verschob sich die Bedeutung vom polynesischen ta pu als „bes. hervorgehoben“ zum europäischen tabu als „verboten“. Die wissenschaftliche Karriere von T. dämmerte erst Ende des 19. Jh. unter evolutionistischen Vorzeichen, als die Religionswissenschaft den T.-Begriff mit dem Ursprung von Religion überhaupt verknüpfte und die Ethnologie an ihm den Typus vom „Denken der Wilden“ entwarf. Die Doppelgleisigkeit der Thematisierung von T. anhand seiner besonderen Ausprägungen bei einer Volksgruppe mit gleichzeitig allgemeinen Schlussfolgerungen bzgl. des T.-Begriffes ist seither kennzeichnend für den wissenschaftlichen Diskurs. Dessen Schwerpunkt lag bisher in der Ethnologie, während die Religionswissenschaft von T. als Gattungsbegriff wegen seiner eurozentristischen Verstrickungen inzwischen abgerückt ist. In soziologischer Sicht stellt T. eine weitere Variante zur Herstellung von sozialer Ordnung dar. Hierbei fungieren T.s als Interpretationsrelevanzen, die festgelegte Sinnzusammenhänge so typisieren, dass sie zumeist für die eigene Person große Gefahren bergen. Gestützt wird diese Assoziation stets von starken Emotionen, i. d. R. Angst. Bekannte Sinnzusammenhänge umfassen Dinge, Orte, Personen und Handlungen, aber auch Worte, Namen und Themen. Weil die Gefahr als unvermittelt eintretendes Resultat des Kontakts gedacht wird, erfordern T.s für ihre Wirksamkeit das hinzutretende Sanktionieren durch Andere nicht, auch wenn diese sie verstärkend flankieren können und zur Sozialisierung von T.s allemal unabdingbar sind. Dass die Übertretung von T.s zudem als rituelle Verschmutzung verstanden wird, die selbst weiter verschmutzen kann, aber in vielen Fällen durch Teilnahme an reinigenden Ritualen auch wieder aufhebbar ist, weist auf eine weitere Eigenart der sozialen Kontrolle durch T.s gegenüber jener durch moralische Normierung.
Gerade die Gründung des Zusammenlebens auf Angst vor beschädigenden Gefahren hat über die Barriere kultureller Differenz hinweg eine rationalistische Skepsis provoziert. Sie sucht die Unbegründetheit von T.s dadurch zu erweisen, dass sie den Glauben an die befürchteten Konsequenzen der Übertretung als Kausalitätsbehauptung nimmt und diese mit naturwissenschaftlichem Blick prüft. Die am Einzel-T. ansetzende Betrachtung lässt indes die Gemeinsamkeit und Grundlage aller derartiger Vorstellungen außer Acht. Sie liegt im Stellenwert des Heiligen als Prinzip menschlicher Welterfassung. Dieses trennt nicht nur scharf zwischen Heiligem und Profanem mitsamt entsprechenden Verschmutzungsfolgen bei vorkehrungslosem Kontakt. Das Heilige verfügt – nach den theologischen Umbauten des Christentums schwer nachvollziehbar – neben einer reinen, mit Ehrfurcht begegneten Seite auch über eine unreine, Abscheu hervorrufende Seite. An diese schließen T.s an, die so das Göttliche mit der physischen und sozialen Welt kurzschließen.
Die Unverständlichkeit des Rätsels um das Bestehen von T. hat auch seine wissenschaftliche Behandlung lange mitgeprägt. Immer wieder hat sich die Sichtweise aufgedrängt, dass sich T.s in ihrer Existenz erhalten, weil sie einen Beitrag zu etwas anderem, einer Angelegenheit von größerer Bedeutung leisten, bes. zur Stabilität der Gesellschaft. Da die von ihren Anhängern erhältlichen praktischen Erklärungen zu T.s kaum Erhellung brachten, stand wenig dagegen, den Anknüpfungspunkt für T. oft gleich in das dem Denken unverfügbare Klassifikationssystem zu verlegen. Die produktive Seite von T., bes. bei der Ausgestaltung von Subjektivität und Herausbildung von Identität, verschafft sich gegenüber seiner zensierenden Wirkung erst in jüngerer Zeit Aufmerksamkeit. Eine vermittelnde Stellung nimmt das Interesse an der lange unterschätzen Figur der Überschreitung ein.
Obwohl die ambitionierteren Abhandlungen zu T. immer auch eine Verbindung von den T.s der Anderen zum Leben in der eigenen Gesellschaft geschlagen haben, sind genealogische Entwürfe nach dem Niedergang des Evolutionismus stark zurückgegangen. Die gegenwärtigen Fachmeinungen stimmen zumindest darin überein, dass die mit dem Heiligen in Verbindung stehenden T.s auch funktional differenzierten Gesellschaften nicht abhandengekommen sind, wenngleich sie nicht unverändert in Erscheinung und Reichweite weiterbestehen. Sie äußerten sich nun in tiefer Selbstverständlichkeit eines Nicht-Tuns sowie im Erschrecken und Ekel bei seinem Gegenteil. Als bes. betroffen werden Sexualität, Nahrung und der Körper angeführt. Hinzugekommen sei zudem über komplizierte Abspaltungs- und Transformationsprozesse auch ein neuer Typus von T., genannt profanes T. Dieses bestimme sich erstmalig in einem instrumentellen Verhältnis gegenüber den von ihm erfassten Gegenständen und diene vorrangig der Vermeidung des Aufbrechens von sozialen Konflikten. Erfasst werden sollen mit diesem Typus bes. solche Fälle, in denen bestimmte Begriffe und Themen in der Öffentlichkeit, aber auch im Familien- und Freundeskreis als Gefahrenobjekte – hier jedoch mit rein moralischen Folgen – etabliert worden sind, wie z. B. bis in die 1990er Jahre hinein die Thematisierung der Verstrickung der deutschen Wehrmacht in Kriegsverbrechen.
3. Tabu als politische Semantik
Hatte bereits das erweiterte Begriffsfeld von T., bes. Verschmutzung und Grenzziehung, verschiedene europäische Reformbewegungen im 19. Jh. inspiriert, entwickelte sich der T.-Begriff selbst ab den 1960er Jahren zu einer Vokabel des politischen Kampfs. Er erschien zunächst auf links-liberaler Seite als Anklage gegenüber Zuständen, die damit zugleich als irrational und außerhalb der Debatte stehend vorgeführt wurden. Die dabei für die eigene Person erlangbare symbolische Dividende als Aufklärer wurde schnell auch im Gegenlager angestrebt. Eine darauf aufbauende, aber erweiterte Form der T.-Verwendung im politischen Diskurs zeichnete sich erstmals Anfang der 2000er Jahre ab, heute bes. von rechtskonservativer Seite genutzt. Hierbei wird für einen Begriff oder ein Thema zunächst eine T.-Behauptung aufgestellt, die dann öffentlichkeitswirksam übertreten wird, womit nicht nur die sich äußernde Partei hofft, symbolisch aufgewertet zu werden, sondern auch die Grenzen des Sagbaren zu verschieben.
Literatur
A. Przyrembel: Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne, 2011 • J. Habermas: Tabuschranken, in: SZ, 7.6.2002: 13 • V. Valeri: The Forest of Taboos. Morality, Hunting, and Identity Among the Huaulu of the Moluccas, 2000 • K. Seibel: Zum Begriff des Tabu. Eine soziologische Perspektive, 1990 • K. Sontheimer: Tabus in der deutschen Nachkriegspolitik, in: H. Steffen (Hg.): Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1970, 201–212 • M. Douglas: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, 1966 • G. Bataille: L’Érotisme, 1957 • F. Steiner: Taboo, 1956 • A. R. Radcliffe-Brown: Taboo, 1939 • S. Freud: Totem und Tabu, 1913 • É. Durkheim: Les formes élémentaires de la vie religieuse, 1912 • J. Frazer: The Golden Bough, 2 Bde., 1890 • W. Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites, 1889.
Empfohlene Zitierweise
A. Dreßler: Tabu, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Tabu (abgerufen: 24.11.2024)