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Aktuelle Version vom 25. August 2023, 13:51 Uhr
1. Begriff und Geschichte
R. stammt laut Duden vom französischen réformer und meint „planmäßige Neuordnung, Umgestaltung, Verbesserung des Bestehenden (ohne Bruch mit den wesentlichen geistigen und kulturellen Grundlagen)“.
Der Begriff R. taucht bereits in der Antike auf. Ab dem 1. Jh. findet er Anwendung auf die moralisch-politische Sphäre. „Ausgangspunkt ist der Gedanke des Verfalls und der abwärts führenden Progression; daraus ergibt sich die Notwendigkeit und Wünschbarkeit einer Veränderung des gegenwärtigen Zustands durch Rückkehr und Rückführung zu den vergangenen besseren Zeiten als Wertnorm“ (Wohlgast 1984: 313). R. bedeutet also – anders als aktuell oft suggeriert – zunächst keine fortschrittliche, sondern eine rückschrittliche Veränderung, wobei ein Zurück zum Alten die Wiederherstellung eines positiven Zustandes meint.
Im Laufe des 14. Jh. kommt die Forderung nach einer umfassenden Reformation der Institution Kirche auf. Zugleich beginnt eine Abgrenzung von Reformation und R.; letztere findet im Bereich der Politik Verwendung. Im 17. Jh. entsteht R. als Gegenbegriff zur Revolution und wird als konservative Antwort auf revolutionäre Bestrebungen gefasst; d. h. als rechtsstaatlich korrekter und demokratisch legitimierter Weg politischer Gestaltung und Veränderung. Darauf basiert der Reformismus sozialdemokratischer Parteien.
In der jüngeren Vergangenheit der BRD ist das Ende des Dritten Reiches und der Wiederaufbau von Wirtschaft und Politik nicht als R. bezeichnet worden. V. a. seit der Renten-R. unter Kanzler Konrad Adenauer (1957), bei dem das Umlageverfahren und die Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolöhne eingeführt wurden, ist der Begriff in der politischen Sprache existent. Mit der sozialliberalen Koalition (1969) erlangt er einen Höhepunkt: „Mehr Demokratie wagen“, „Politik der inneren Reformen“ usw. kennzeichnen eine politische Aufbruchstimmung und eine optimistische Konnotation des Begriffs. R. ist nun ein „politisches Prinzip“ (Krockow 1976). Die Euphorie hält angesichts politischer und ökonomischer Krisen nicht lange an und weicht zunehmender Skepsis: „die Poesie der Reformen und die Realität der Evolution“ (Luhmann 2000: 330) treten auseinander. V. a. politisch-institutionelle Hindernisse stehen nach der Analyse vieler (Politik-)Wissenschaftler R.en entgegen.
Anfang der 90er Jahre bis zum Ende der Ära Helmut Kohl dominiert das Gefühl der R.-Blockaden. Mit den sogenannten Hartz-R.en und der „Rente mit 67“ finden jedoch grundlegende politische Änderungen statt. Obwohl im Ausland geschätzt und von Wirtschaftswissenschaftlern eher positiv bewertet, finden die R.en jedoch keinen Anklang in der Wählerschaft. Im Gegenteil, die SPD verliert erheblich an Stimmen und kann sich nicht davon erholen. Doch auch in der Ära von Angela Merkel ist es mit dem Ausstieg aus der Kernenergie bzw. der Energiewende, dem Ende der Wehrpflicht oder der Öffnung der Grenzen für Asylsuchende und Flüchtlinge zu weitreichenden Verschiebungen und politischen R.en gekommen. Ebenfalls negativ fällt dabei die Reaktion vieler Wähler aus. Damit stoßen R.en nicht alleine auf institutionelle Hindernisse, sondern sie bedrohen die politische Mehrheitsfähigkeit. Denn: „Während der Status quo gewissermaßen als Pazifikationsformel der unterschiedlichen Interessen gelten kann – er ist als Ergebnis der Geschichte das, was er ist –, lösen Reformprojekte diesen interessenpluralen Frieden wieder auf und revitalisieren die Differenzen“ (Luhmann 2000: 335).
2. Merkmale und Verlaufsmuster
Auslöser von R.en liegen zum einen in der Umsetzung von selbstgesetzten Normen und politischen Programmatiken bzw. der Anpassung an Ideen und zum anderen in krisenhaften Entwicklungen bzw. der besseren Anpassung an Realitäten. Ihr Verlauf folgt einer typischen Konjunktur mit Latenzphase, Initialstadium, Aufschwung, Umschwung, Abschwung und Terminalstadium, bei denen die Rolle und der Einfluss von Akteuren aus Politik, Verwaltung, Medien und Verbänden variieren. Zudem können R.en nach dem Ausmaß an Wandel (neue Instrumente oder neue Ziele) und nach der Policy-Wirkung (re-/distributiv oder regulativ) unterschieden werden. Eine wichtige Rolle kommt ferner der R.-Kommunikation zu, d. h. der Definition und Einbettung des Problems und der Vermittlung in der Öffentlichkeit. Widerstände werden oft mit einer defizitären R.-Kommunikation in Verbindung gebracht.
3. Institutionelle Blockaden von Reformen
Dass politische Änderungen auf erhebliche institutionelle Restriktionen stoßen, ist stark verbreitet. Dazu liegen eine Reihe theoretischer Ansätze vor: Die 1976 vorgelegte Strukturbruchthese Gerhard Lehmbruchs besagt, dass der verstärkte Parteienwettbewerb während der sozialliberalen Koalition in Widerspruch zur bundesstaatlichen Ordnung geriet, die historisch-institutionell auf Konsens, Kooperation und Verhandlung ausgerichtet ist. Auf diese Weise stehen sich gegenläufige Handlungslogiken gegenüber, was zur Politikblockade und starken Konflikten tendiert.
Ähnlich argumentiert Fritz Wilhelm Scharpf in seinem Theorem der „Politikverflechtungs-Falle“ (1985). Angesichts der hohen Verflechtung finden wichtige Entscheidungen keine Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, darüber hinaus ist eine Entflechtung des Mehrebenensystems nicht möglich. Damit herrschen suboptimale Politiken und Performanzdefizite vor (Politikverflechtung).
Zudem existiert das Vetospielertheorem von George Tsebelis, demzufolge eine Abkehr vom Status quo umso wahrscheinlicher ist, je mehr Vetospieler am Werk sind und je größer die politisch-ideologische Kongruenz zwischen diesen ist. Das gilt bes. für die Bundesrepublik mit Bundesrat, starkem BVerfG und unabhängiger Notenbank sowie autonomen Tarifparteien.
Daneben gilt die Kritik den großen Interessengruppen, v. a. den Gewerkschaften, aber auch Agrar- und Pharmalobby sind zu nennen. Sie gelten als Bewahrer der Besitzstände und als Blockierer des Strukturwandels.
Die politische Ökonomie verweist schließlich auf eine eigentümliche Asymmetrie zeitlicher und sozialer Art. R.en erzeugen kurzfristig Kosten, aber erst langfristig Nutzen; und der Nutzen sind häufig kollektive Güter, fallen also bei allen an, während die Belastungen meist auf kleine Gruppen konzentriert sind, was deren heftigen Widerstand hervorruft.
4. Bedingungen gelingender Reformen
Trotz des vorherrschenden „Negativparadigmas“ (Wiesenthal 2003: 32) der Unmöglichkeit großer R.en wird dessen universale Gültigkeit durch diverse historische Beispiele widerlegt. Basale R.en hängen mit einem Wandel des Orientierungsrahmens (i. S. v. policy believe systems) ab, die zur Neuinterpretation des Problems führen und es auf die politische Agenda setzen. Zugleich spielen Vordenker und risikobereite politische Unternehmer eine wichtige Rolle. Sie verfügen über Expertise bzw. greifen auf diese zurück (u. a. durch die Einrichtung von Kommissionen), ebenso besitzen sie hohe Kommunikationsfähigkeit. Dabei nehmen Seilschaften, persönliche Beziehungen über Systemgrenzen hinweg oder Taktiken des blame avoidance eine unterstützende Funktion ein. Dadurch kann eine blockademinimierende Transformation des Entscheidungsstils von der Konfrontation zum Aushandeln, ja zum Problemlösen unterstützt werden. Daneben gelten pragmatische „Maximen“, wonach R.en den Beteiligten und Betroffenen verständlich gemacht, Prioritäten gesetzt und durchgehalten werden müssen, Fairness an den Tag zu legen sowie der „dialektische Zusammenhang von Verändern und Bewahren“ (Krockow 1976: 60) zu beachten ist.
Damit sind politische R.en kontingent, d. h. einerseits von problematischen institutionellen Faktoren, und andererseits von Strategien und Entscheidungen der Akteure abhängig: Sie sind unwahrscheinlich – freilich nicht unmöglich.
Literatur
J. Siri: Demokratie und Reform, in: T. Mörschel/C. Krell (Hg.): Demokratie in Deutschland, 2012, 413–129 • T. Fischer u. a. (Hg.): Politische Reformprozesse in der Analyse, 2010 • K. D. Wolf (Hg.): Staat und Gesellschaft – fähig zur Reform?, 2007 • H. Wiesenthal: Beyond Incrementalism, in: R. Mayntz/W. Streeck (Hg.): Die Reformierbarkeit der Demokratie, 2003, 31–70 • G. Tsebelis: Veto Players, 2002 • G. Lehmbruch: Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 32000 • N. Luhmann: Organisation und Entscheidung, 2000 • F. W. Scharpf: Die Politikverflechtungs-Falle, in: PVS 26/4 (1985), 323–356 • E. Wolgast: Reform, Reformation, in: GGB, Bd. 5, 1984, 313–360 • S. Ruß-Mohl: Dramaturgie politischer Reformen, in: APUZ 32/26 (1982), 3–25 • C. von Krockow: Reform als politisches Prinzip, 1976.
Empfohlene Zitierweise
J. Schmid: Reform, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Reform (abgerufen: 24.11.2024)