Europäisches Strafrecht: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 4. Januar 2021, 11:07 Uhr
1. Begriff und Entwicklung
Unter dem Begriff e. S. ist keine dem nationalen S. vergleichbare eigenständige S.s-Ordnung zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um einen Sammelbegriff, der materiell-rechtlich in erster Linie das erst im Entstehen begriffene supranationale S. der EU sowie die vom Einfluss des Europarechts beeinflussten (europäisierten) S.s-Vorschriften der Mitgliedstaaten und im prozessrechtlichen Bereich die EU-Instrumente auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erfasst.
Vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1.12.2009 bestanden im Rahmen der im Wesentlichen intergouvernemental ausgestalteten „Dritten Säule der EU“ bereits Rechtsgrundlagen zum Erlass strafrechtlicher Rechtsakte. Es handelte sich v. a. um Rahmenbeschlüsse (z. B. Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl), die jedoch nur einstimmig und ohne Mitentscheidungsrecht des &pfv;Europäischen Parlaments erlassen werden konnten. Die supranational geprägte „Erste Säule“ (EGV) enthielt keine expliziten Rechtsgrundlagen zum Erlass strafrechtlich relevanter Rechtsakte. Auf Grundlage des Vertrags von Lissabon wurde die „Dritte Säule“ vergemeinschaftet, so dass der AEUV nunmehr weitergehende Rechtsgrundlagen für strafrechtliche Rechtsakte (VO, RL) enthält, die grundsätzlich im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (v. a. Mehrheitsbeschluss im Rat der Europäischen Union, notwendige Zustimmung des Europäischen Parlaments) zu erlassen sind. Im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit wurde das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung primärrechtlich anerkannt.
2. Supranationales (europäisches) Strafrecht
Die Rechtsordnung der EU enthält bislang nur Sanktionsvorschriften ohne kriminalstrafrechtlichen Charakter. Die vorhandenen Sanktionsnormen (Geldbußen, sonstige finanziellen Sanktionen sowie andere Rechtsverluste, wie z. B. Entzug von Lizenzen) müssen aber – zumindest teilweise – einem S. „im weiteren Sinn“ zugeordnet werden. In Anlehnung an die sog.e „Engel“-Rspr. des EGMR (Urteil vom 8.6.1976 – 5100/71) gehören hierher alle Sanktionen repressiver Natur bzw. solche, die mit einer bes. schweren Rechtsgutseinbuße für den Täter einhergehen, was v. a. auf die – praktisch sehr bedeutsamen – Geldbußen (z. B. im EU-Kartellrecht) zutrifft. Kriminal-S. zeichnet sich demgegenüber durch ein sozialethisches Unwerturteil aus, welches mit der Verurteilung ausgesprochen wird; dies trifft regelmäßig auf die Verhängung von Freiheits- und Geldstrafen zu, die allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt sind. Unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbare Kriminalstraftatbestände enthält das EU-Recht bislang nicht. Ob die EU eine Kompetenz besitzt, solche Straftatbestände zu erlassen, ist umstritten. Der neu geschaffene Art. 83 AEUV jedenfalls lässt nur den Erlass von RL zum Zweck einer Mindestangleichung von Straftatbeständen und Strafen zu, weshalb supranationale Straftatbestände auf dieser Rechtsgrundlage nicht erlassen werden können (s. u.). Demgegenüber ist insb. der Wortlaut des Art. 325 Abs. 4 AEUV weit gefasst, er lässt zur „Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten“ u. a. auch den Erlass von VO zu; denkbar wäre somit der Erlass eines europäischen Betrugstatbestands (und begleitender, die finanziellen Interessen der EU schützender Tatbestände), stets vorausgesetzt, die allg.en Kompetenzausübungsschranken der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV) stehen nicht entgegen. Anhaltspunkte für ein solches EU-S. bietet insoweit das im Jahr 2000 von einer Sachverständigengruppe im Auftrag der Europäischen Kommission veröffentlichte „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU“, welches u. a. eine Reihe von Tatbeständen (mit Normen des Allg.en Teils) enthält.
3. Europäisierung und Harmonisierung des nationalen Strafrechts
Wie jeder andere Teil der nationalen Rechtsordnungen unterliegt auch das Straf– und Strafprozessrecht den Vorgaben des EU-Rechts. Der bes.n Sensibilität dieses Rechtsgebiets, welches auch in den Augen des BVerfG in den sozialethischen und kulturellen Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft wurzelt, kann und muss jedoch durch bes. Rücksichtnahme („strafrechtsspezifisches Schonungsgebot“) Rechnung getragen werden, da auch der EUV zur Wahrung der nationalen Identität und zum Schutz der kulturellen Vielfalt verpflichtet (Art. 3 Abs. 3 UA 4; Art. 4 Abs. 2 EUV).
3.1 Primärrechtliche Ober- und Untergrenzen für nationales Strafrecht
Der nationale Strafgesetzgeber darf dabei zunächst keine Strafgesetze erlassen, die im Widerspruch zu europäischem Recht stehen. Im Anwendungsbereich des EU-Rechts stellen daher v. a. auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot Obergrenzen für das inkriminierte Verhalten und die angedrohten Strafen dar. Rein nationale Sachverhalte und solche potentiellen Beeinträchtigungen von Grundfreiheiten, die lediglich notwendige Reflexe eines nationalen S.s sind (z. B. die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten durch Freiheitsstrafen), werden hiervon nicht erfasst. Darüber hinaus bildet das EU-Recht eine Untergrenze, die dazu führen kann, dass ein Mitgliedstaat einen Verstoß gegen EU-Recht unter Strafe stellen muss. Der EuGH (Rs. 68/88, Griechischer Maisskandal) sieht die Mitgliedstaaten aus dem allg.en Loyalitätsgebot (Art. 4 Abs. 3 EUV) verpflichtet, Verstöße gegen das europäische Recht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden wie nach Art und Schwere gleichartiger Verstöße gegen nationales Recht (sog.e Assimilierungspflicht), wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss (sog.e Mindesttrias). Die Wahl der konkreten Sanktion bleibt aber dem jeweiligen Staat überlassen.
3.2 Sekundärrechtliche Rechtsangleichung (Harmonisierung)
Darüber hinaus erlaubt der AEUV eine Angleichung der nationalen S.s-Ordnungen durch Erlass von RL, die eine Mindestharmonisierung bzgl. des zu bestrafenden Verhaltens und der Strafen vorschreiben. Dadurch sind schärfere nationale Strafnormen und –rahmen von vornherein nicht ausgeschlossen, was einer vielfach kritisierten zunehmenden Punitivität Vorschub leistet. Art. 83 Abs. 1 AEUV erlaubt diese Mindestharmonisierung im Hinblick auf bestimmte Erscheinungsformen bes. schwerer grenzüberschreitender Kriminalität (wie z. B. Terrorismus, Menschenhandel, Computerkriminalität); Art. 83 Abs. 2 AEUV beinhaltet eine Annex-Kompetenz, die es erlaubt, strafrechtliche Angleichungs-RL in Bereichen zu erlassen, die bereits durch Unionsrecht harmonisiert wurden. Letzteres soll allerdings nur möglich sein, wenn strafrechtliche Regelungen insoweit „unerlässlich“ sind, ein Kriterium, welchem das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267 ff.) maßgebliches restriktives Potenzial beigemessen hat, um einer Ausuferung der EU-Kompetenzen entgegenzuwirken.
Für beide Kompetenznormen beinhaltet Art. 83 Abs. 3 AEUV eine „Notbremse“, die es jedem Mitgliedstaat erlaubt, sich unter Berufung auf „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ einer Mehrheitsentscheidung zu entziehen, so dass eine eventuell im Wege der verstärkten Zusammenarbeit zwischen den anderen Mitgliedstaaten vereinbarte RL nicht für den sich verweigernden Staat gilt. Der Abschied vom ehemaligen Einstimmigkeitserfordernis wird hierdurch teilweise wieder zurückgenommen.
4. Europäisierung der Strafrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten
Da das S. keine unionsrechtsresistente Materie ist, muss das EU-Recht auch bei der Rechtsanwendung durch die Strafgerichte Beachtung finden. Dies bedeutet zum einen, dass Straftatbestände, die unmittelbar anwendbarem EU-Recht (z. B. Grundfreiheiten, VO) entgegenstehen, nicht angewendet werden dürfen. Strafrechtsdogmatisch ist dann bereits der Tatbestand nicht erfüllt, dieser wird vielmehr „neutralisiert“. Bestehen – insb. bei Vorschriften, die EU-RL umsetzen – mehrere Auslegungsmöglichkeiten, so ist diejenige heranzuziehen, die mit dem EU-Recht im Einklang steht und den effet utile desselben am besten gewährleistet (richtlinien- bzw. unionsrechtskonforme Auslegung).
5. Strafverfolgung in der Europäischen Union
Die Strafverfolgung in der EU bleibt grundsätzlich eine Aufgabe der Mitgliedstaaten. Der Fokus des EU-Rechts liegt auf einer Vereinfachung der immer häufiger werdenden grenzüberschreitenden Verfahren durch Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit, insb. im Bereich der Rechtshilfe (Amts- und Rechtshilfe). Ausgangspunkt ist dabei das von der EU verfolgte Ziel, dass sämtliche Mitgliedstaaten einen einheitlichen Rechtsraum, einen „RFSR“ bilden sollen. Angesichts der verbleibenden Unterschiede in den S.s-Ordnungen soll eine effektive Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden gleichwohl dadurch erreicht werden, dass justizielle Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat erlassen werden, von jedem Gericht und jeder Behörde der anderen Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden. Dementsprechend ist etwa das früher langwierige Auslieferungsverfahren durch Einführung des Europäischen Haftbefehls (in weiten Teilen) durch ein zeitsparendes Übergabeverfahren ersetzt worden. Art. 82 Abs. 1 AEUV enthält hier Rechtsgrundlagen für Rechtsakte zur Ausgestaltung der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen; ergänzend enthält Art. 82 Abs. 2 AEUV eine Basis für Rechtsangleichungsmaßnahmen, auf Grundlage derer eine Mindestharmonisierung im Strafprozessrecht betrieben und so u. a. einem zu weitgehenden Abbau von Beschuldigtenrechten, welcher mit zunehmender Umsetzung der gegenseitigen Anerkennung vielfach droht, entgegengewirkt werden kann – zumindest dann, wenn hiervon stärker als bisher Gebrauch gemacht wird. Auch bzgl. Art. 82 Abs. 2 AEUV ist in Abs. 3 jedoch der bereits aus dem materiellen Recht bekannte Notbremsemechanismus vorgesehen. Daneben folgt aus Art. 50 EuGRC und Art. 54 SDÜ ein zwischenstaatliches Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem), welches ebenfalls einen Ausfluss der gegenseitigen Anerkennung (allerdings zugunsten des Beschuldigten) darstellt. Für die Verfolgung von Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EU und – ggf. später – bzgl. schwerer grenzüberschreitender Kriminalität wurde jüngst die in Art. 86 AEUV vorgesehene Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft realisiert.
Literatur
H. Satzger: Internationales und Europäisches Strafrecht, 82018 • P. Asp (Hg.): The European Public Prosecutor’s Office, Legal and Criminal Policy Perspectives, 2015 • B. Hecker: Europäisches<?thyn=4> Strafrecht, 52015 • K. Ambos: Internationales Strafrecht, 42014 • R. Esser: Europäisches und Internationales Strafrecht, 2014 • L. Neumann: Das US-amerikanische Strafrechtssystem als Modell für die vertikale Kompetenzverteilung im Strafrechtssystem der EU?, 2014 • U. Sieber/H. Satzger/B. von Heintschel-Heinegg (Hg.): Europäisches Strafrecht, 2014 • F. Zimmermann: Strafgewaltkonflikte in der Europäischen Union, 2014 • M. Böse (Hg.): Enzyklopädie Europarecht, Bd. 9: Europäisches Strafrecht, 2013 • ECPI: Manifest zum Europäischen Strafverfahrensrecht, in: ZIS 8/11 (2013), 412–429 • P. Asp: The Substantive Criminal Law Competence of the EU, 2012 • A. Klip: European Criminal Law, 2012 • S. Gless: Internationales Strafrecht, 2011 • C. Safferling: Internationales Strafrecht, 2011 • ECPI: Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, in: ZIS 4/12 (2009), 697–706 • V. Mitsilegas: EU Criminal Law, 2009 • C. Schröder: Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002 • K. Tiedemann (Hg.): Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, 2002 • H. Satzger: Die Europäisierung des Strafrechts, 2001 • M. Delmas-Marty/J. Vervaele. (Hg.): The Implementation of the Corpus Juris in the Member States, 2000.
Empfohlene Zitierweise
H. Satzger: Europäisches Strafrecht, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europ%C3%A4isches_Strafrecht (abgerufen: 27.11.2024)